Kapitel 6
Sterben für Anfänger
Episode 2
Grayson
Überlebenstipp Nummer 3:
Überprüfe die handwerkliche Kunst von Bücherregalen.
A uf dem Weg zum Zugangspunkt wich Wayland mir keinen Millimeter von der Seite. Entweder hatten wir Glück oder die anderen Schattengestalten spürten seine Präsenz und ließen uns deswegen in Ruhe. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen, in denen Wayland die Ohren aufstellte und ein leises Knurren von sich gab, kamen wir problemlos voran. Die Nacht wich nach einigen Stunden dem anbrechenden Tag, während wir in einen Schotterweg einbogen. Wayland führte mich auf einen verlassen Campingplatz, auf welchem mehr Schrott zu finden war, als auf einer Müllhalde. Ratten huschten in dem einsetzenden Tageslicht auseinander, Papier wehte im seichten Wind umher und die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich in dem Blech, das überall auf dem Boden verteilt lag. Im Hintergrund ragte die imposante Skyline Chicagos in die Höhe. Thronte wie ein wachender Adler über den Bewohnern der Stadt.
»Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte ich den Tiger an meiner Seite. Ein Geräusch, das ungemein an ein Miau erinnerte, entfuhr seiner Schnauze, während er mich mit dem Kopf anstupste. »Ich deute das als ein Ja.« Ein erneutes Stupsen folgte und die feuchte Nase des Tiers berührte meine Hand. In der Tigerform war mir der mürrische MIA Agent deutlich lieber. Mochte daran liegen, dass er in dieser Gestalt nicht sprechen konnte.
Nach nicht einmal fünf Minuten erreichten wir einen verrosteten Wohnwagen. Wenn das die MIA war, dann war ich enttäuscht. Es gab viele Gerüchte über den Geheimdienst der magischen Schattenwelt. Kein Zivilist wusste genau, wer zu den Agenten zählte und vor allem wurden die Persönlichkeiten jener Agenten, die im Ausland aktiv waren, streng geheim gehalten.
Wayland hockte sich an meine Seite und schaute zu mir hinauf. Bevor ich ihn etwas fragen konnte, hörte ich tapsende Geräusche auf dem Dach des Wohnwagens. Mein Blick glitt nach oben und ich erstarrte. Grüne Augen musterten mich eindringlich, während sich Schweiß an meinem Rücken bildete. Zwischen alten Antennen und einem herunterhängenden Ast hockte eine Hyäne. Leichtfüßig sprang sie auf den Boden und näherte sich mir mit Bedacht. Während Wayland anfing zu knurren, beachtete ihn die Hyäne mit keinem Blick. Ihre funkelnden Augen zogen mich in ihren Bann. Wie durch einen Schleier hörte ich, dass das Knurren meines Begleiters in ein Brüllen übergegangen war. Unmittelbar vor mir kam die Hyäne zum Stehen, und Wayland stellte sich beschützend zwischen uns. Beide Raubtiere legten die Ohren an. Sie fauchten sich gegenseitig an. Bevor ich mir einen Reim auf die Lage machen konnte, schlug Wayland mit seiner Tatze nach der Hyäne. Was dann geschah, ließ diesen abgefahrenen Tag weiter in ungeahnte Höhen schnellen.
Laut knackend brachen die Knochen der Hyäne, mehrfach schrie sie auf und wenige Augenblicke später stand eine nackte Frau vor mir, runzelig wie eine in der Sonne vergessene Rosine, und schaut wütend zu Wayland. Freundlich ausgedrückt, hatte ihr Körper den Kampf gegen die Schwerkraft aufgegeben.
Es gibt Sachen, die kann ein Mensch nicht ungesehen machen. Verdammt!
Mit wenigen Schritten polterte sie auf den Tiger zu, nahm eines seiner Ohren in ihre Hände und zog kräftig daran.
»Wayland Zachary Jonas, du verdammter Hundesohn, geht man so mit seiner Oma um?«
Wayland gab ein mitleidiges Heulen von sich und senkte den Kopf. Die Frau schaute ihn weiter finster an.
Ich räusperte mich und musste ein Lachen unterdrücken, denn so schräg das Ganze war, so sehr freute sich mein innerliches Kind darüber, dass dem arroganten Schnösel im wahrsten Sinne des Wortes die Ohren langgezogen wurden. Mein leises Kichern und das Husten, mit dem ich es zu verstecken versuchte, erhaschte die Aufmerksamkeit der Hyänenwandlerin. Ohne dass sie ihren Enkelsohn losließ, drehte sie mir ihren Kopf zu und funkelte mich an.
»Willst du nur dämlich kichern, oder hast du etwas zu sagen?«
Ich verstummte und blinzelte vor mich hin. Solange ihr Zorn auf Wayland gerichtet war, hatte ich die Situation durchaus lustig gefunden. Nun, wo sie aber mich im Visier hatte, sah die Lage deutlich anders aus. Bei allem, was ich an diesem Tag schon erlebt hatte, wollte ich eine nackte, runzelige Oma, die eventuell auch an irgendeinem meiner Körperteile zog, nicht der Liste hinzufügen. Deswegen schüttelte ich bloß den Kopf.
»Dachte ich mir«, sagte sie mit kratziger Stimme und wandt sich an ihren Enkel. »Wandel dich zurück, du kleines Sackgesicht, und trau dich dann noch einmal, mir eine zu verpassen!« Während Waylands Körper zuckte, Knochen brachen und Muskeln sich verschoben, streckte eine weitere ältere Dame ihren Kopf aus der Tür des Wohnwagens. Ihren Kopf zierte ein mit Blumen dekorierter Hut, als würde sie zum Pferderennen gehen. Freundliche Augen saßen in ihrem ebenso runzeligen Gesicht, aber wenigstens war ihr Körper in ein fliederfarbenes Kostüm gekleidet und nicht nackt.
»Milly, deine Sprache, Darling! So amerikanisch!«, ermahnte sie die Runzel-Rosine mit einem altenglischen Akzent.
»Entschuldige Schatz, aber das kleine Arschge «
Schatz zog nur ihre perfekt gezupfte Augenbraue in die Höhe und Milly brach mitten im Schimpfwort ab. »Das kleine, ach so liebe Kätzchen meinte, mir eine zu verpassen!«, setzte sie mit einem Grummeln fort. Die gut gekleidete Dame nickte wohlwollend. Damit war definitiv die Rangfolge der Drei geklärt und Schatz hatte beeindruckend deutlich gemacht, dass sie das Sagen hatte.
»Oh, mein Lieber, wie unhöflich von mir«, sagte Schatz und drehte sich zu mir. »Mein Name ist Martha Bishop und die reizende nackte Lady ist meine geliebte Ehefrau Milly Bishop. Ich denke, unseren Enkelsohn Wayland Zachary Jonas hast du schon kennengelernt?«
»Ich heiße Wayland«, kam es kleinlaut von dem nicht mehr allzu arroganten Typen zu meiner Rechten. Milly hielt ihn weiterhin am Ohr, was äußerst lustig aussah, bedachtete man, dass Wayland gut zwei Meter groß war und nach vorne gebeugt dastand, weil seine Oma nicht größer als einen Meter sechzig sein konnte.
»Grayson Huff«, antwortete ich und versuchte mit aller Kraft, nicht über die absurde Situation zu lachen. Wem sollte so etwas auch passieren, wenn nicht mir?
»Du? Da fick doch einer den Frosch!«, rief Milly und ihr Kopf schnellte zu mir herum.
»Milly! Wortwahl!«, kam es unmittelbar von Martha.
»Ich meine: Oh, das ist ja eine grandiose, extravagante Überraschung«, sagte Milly mit gestelztem altenglischen Akzent und rollte mit den Augen.
»Wayland, hat deine Großmutter gerade mit den Augen gerollt?« Marthas Stimme war gefährlich ruhig und sie fixierte ihren Enkel. Da Milly mit dem Rücken zu ihrer Gattin stand, war es an Wayland, seine Oma zu verraten oder zu ihr zu halten und zu lügen. Beide alte Damen schauten durchdringend zu ihm und so ungern ich es zugeben wollte, tat er mir tatsächlich leid.
»Bitte? Oh, tut mir leid, ich war gerade in Gedanken, weil mir der Kopf brummt von meiner Mission«, antwortete er und ein unschuldiges Lächeln legte sich auf seine Lippen.
Geschickt ist der Kerl ja. Als ob er es nicht gesehen hätte!
»Ach, mein Liebling!« Martha eilte zu ihm und schlug auf die Hand ihrer immer noch nackten und offenbar völlig schamlosen Frau. »Lass den armen Jungen schon los. Seine Tigerinstinkte wollten seinen Gefährten nur schützen und dich nicht verletzen. Immerhin hat er dich doch ohne Klauen getroffen. Was soll Grayson von uns denken? Wir sind schließlich keine Wilden, Darling.«
Über die Schulter von Martha zwinkerte Wayland Milly zu und sie lächelte mit einem Kopfschütteln. Meine Vermutung war, dass ihr Streit beigelegt war, immerhin hatte er für sie gelogen. Das Lächeln, welches Martha zwischen beiden hin und her warf, zeigte dennoch deutlich, dass sie wusste, wie die Wahrheit aussah.
Das nenne ich mal ungewöhnliche Familienverhältnisse.
Bei dem Gedanken an Familie machte sich ein beißender Geschmack in meiner Kehle breit und ich merkte, wie meine Augen feucht wurden. Mit einem Kopfschütteln, das nicht so unauffällig war, wie ich es erhoffte, verscheuchte ich den Gedanken an meinen Vater. Dieser Mann hatte mir bereits genug traurige Stunden bereitet.
Martha löste sich von ihren beiden Liebsten und kam zu mir hinüber. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, da sie ebenso kaum größer als einen Meter sechzig war, und musste somit gut 20 Zentimeter zu mir überbrücken. Ihre warme Hand an meiner Wange ließ mich in den Grundfesten erschüttern. Die über Jahre aufgebauten Wälle, Mauern mit Zinnen, gespickt mit Kanonen, samt Burggraben, gefüllt mit Haien, drohten einzustürzen. Nur eine einzige liebevolle Berührung. Was sagte das über mich aus? Kein Wunder, dass ich mich von persönlicher Nähe fernhielt, die über gewöhnliche Freundschaft und Scherze hinausging.
»Du trägst so viel Trauer in deinen Augen«, sagte sie sanft.
»Das ist nur Heuschnupfen«, antwortete ich heiser. Mit einem Grinsen, das meine Augen vermutlich nicht erreichte, fügte ich hinzu: »Oder eine Allergie gegen Katzenhaare. Euer Enkel hat sich an mir gerieben und geschnurrt, als gäbe es kein Morgen.«
Während Wayland es mit einer genuschelten Beleidigung kommentierte, ließ Martha ihre erstaunten Augen zu ihm wandern. »Du hast ihn markiert?«, fragte sie. »Hast du wirklich geschnurrt?«
»Können wir bitte nicht darüber reden?« Sein Gesicht sah aus, als hätte er bei einer Mutprobe einen Haufen Pavianhoden gegessen.
»Wayland, du weißt, was das bedeutet!« Martha fasste sich an das Dekolleté und ihr Blick wurde merkwürdig nachdenklich.
»Nein, es muss eine andere Erklärung geben. Der Typ ist eine Vollkatastrophe.«
»Ähm, danke. Ich bin anwesend, du Arsch!«
» Deine Großmutter hat recht«, sagte Milly, während sie mich musterte und meine Worte ignorierte. »Er ist nicht im Ansatz, wie ich mir die Person vorgestellt hätte, die du einmal markieren würdest.«
»Stimmt. Er ist so ein adretter, gut aussehender junger Mann.« Marthas Blick wanderte mahnend zu ihrer Frau und diese verstummte. Wayland, der Arsch, schnaufte bloß lautstark.
»Ein scharfes Schnittchen, meinst du«, warf Milly dann doch in die peinliche Diskussion ein. Als Wayland sie mit offenem Mund anstarrte, zuckte sie mit den Schultern. »Was? Er ist halt heiß!«
»Du bist fast 500 und mit Oma verheiratet!«
»Ich bin 295! Und deswegen dürfen wir zwei keinen Spaß mehr haben?«
Und nun reiht sich auch das in die Bilder ein, die ich nie wieder aus dem Kopf bekomme. Herzlichen Dank!
»Darling, verstör die Kinder nicht dermaßen. Du weißt doch, wie prüde unser kleiner Way-Way ist.«
Way-Way? O Mann, das ist zu gut!
Zu meiner persönlichen Genugtuung japste ihr Enkel mit hochrotem Kopf nach Luft. Das Grinsen in meinem Gesicht erreicht dieses Mal sicher die Augen und ging nach wenigen Augenblicken in ein schallendes Lachen über. So sehr ich versuchte, mich zu beruhigen, verfiel ich immer wieder in Gelächter. Für einen kurzen Moment befürchtete ich, ich würde ersticken. Was nur bedeutete, dass ich den Tod von Chicago schneller wiedersehen würde, als mir lieb war. Aber alles, was in den letzten zehn Stunden passiert war, war derart absurd, dass mein Lachen nicht stoppte. Vermutlich fühlte es sich so an, wenn man durchdrehte.
»Ich glaub, wir haben ihn kaputt gemacht«, sagte Milly und zog ihre Augenbrauen zusammen. »Oder er lacht darüber, dass unser kleiner Way-Way ein wenig prüde ist, obwohl er doch ein starkes Kätzchen markiert.« Dabei kniff sie ihm in die Wange und ich verlor alle Selbstbeherrschung. Tränen kullerten mir die Wangen hinab und mein Bauch schmerzte. Der finstere Blick von Wayland ließ mich nur lauter lachen, bis ich Schluckauf bekam.
»Wenn ihr glaubt, dass ich prüde bin, solltet ihr sehen, wie er seine Abende verbringt«, presste Wayland zwischen den Zähnen hervor.
Ich war schlagartig wieder ernst. Jedenfalls nachdem mein Schluckauf verebbt war.
»Was soll das heißen? Woher weißt du, wie ich meine Abende verbringe?«
»Beschattung.«
»Du beschattest mich?«
»Ja.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja.«
»Fein und jetzt noch einmal in ganzen Sätzen und mit einer Erklärung!« Wieso war ich kein magisches Wesen, das ihn mit meinem Blick durchlöchern konnte? Der Mangel hinderte mich aber nicht daran, es zu versuchen!
»Dein Sicherheitslevel ist zu gering.«
»Ich habe ein Sicherheitslevel?«, fragte ich. Bevor er antwortete, fügte ich hinzu: »Lass mich raten, die Antwort ist wieder schlicht und einfach: Ja.«
»Wieso fragst du dann so dumm?« Das Verlangen, ihm das arrogante Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln, war immens. So sehr ich nach Worten rang, fand kein einziges den Weg zu meiner Zunge. Ich war selten sprachlos, aber dieser Idiot raubte mir echt die Worte. Unfassbar!
»Du sollst ihn zu Irie bringen, damit ihr feststellt, ob er der Richtige ist?«, fragte Milly an ihren Enkel gewandt.
»Erst sollte ich ihn nur beschatten, doch die neusten Entwicklungen erfordern, dass er überprüft wird, ja. Aber wieso genau und was mit der Richtige gemeint ist? Keine Ahnung. Mich klärt ja niemand auf. Ein Mensch ist er jedenfalls nicht. Nicht mehr.«
»Wer verdammt nochmal soll ich sein? Überprüfung? Kein Mensch? Klärt MICH einmal jemand auf?« Meine Knöchel knackten laut, dermaßen stark ballte ich die Fäuste.
»Es tut mir leid, mein Lieber«, hörte ich Marthas Stimme neben mir, bevor mich etwas in den Hals stach und die Welt in Schwärze verging.
Ich lag an einem traumhaft weißen Strand, die Wellen schlugen an das Ufer und der Wind fuhr mir durchs Haar. Wie aus dem Nichts wehte ein stärkerer Wind und schüttelte meinen Körper. Eine ferne Stimme ermahnte mich aufzuwachen, aber ich beschloss, mich noch ein paar Minuten länger zu sonnen. Erneut rüttelte die Böe an mir und ich setzte mich genervt auf. Wer sprach da überhaupt? Ich war allein am Strand. Gerade, als ich mich mit einem Schulterzucken wieder hinlegen wollte, hörte ich eine Stimme »Lass mich mal« sagen und etwas knallte in mein Gesicht.
Erschrocken fuhr ich auf und öffnete die Augen. Helles Licht strahlte von der Decke hinab und zwei, mir unbekannte, weibliche Gesichter starrten mich an.
»Strand war schöner«, murmelte ich benommen.
»Strand? Was redet er da? Hat Martha ihm zu viel von dem Betäubungsmittel gegeben?«, fragte die Frau mit der hohen Stimme, deren Haare pink gefärbt waren. Die Tonlage kam mir merkwürdig bekannt vor.
»Er ist ein Mensch, die können nichts ab, vielleicht habe ich ihn zu kräftig geschlagen«, antwortete die andere Frau. Dunkelhaarig, in Orange gekleidet und ihre Stimme eiskalt. Passend zu den harten Gesichtszügen. Selbst die leichten Sommersprossen um ihre Nase, die sich von der blassen, weißen Haut absetzten, konnten ihr ernstes Gesicht nicht erweichen. Ich vermutete, dass es sich dabei um Adalain handelte, die in dem alten Haus zu mir gesprochen hatte. Dann war die pinkhaarige Frau, deren schwarzer Haaransatz einen Kontrast zu der grellen Farbe bildete, sicher Maple. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich erinnerte mich daran, dass sie durch die Gänge laufen und von Waylands peinlichem Geheimnis erzählen wollte.
»Geschnurrt. Kätzchen«, presste ich hervor, weil mein Hals staubtrocken war. »Durst.«
Maple reichte mir ein Glas Wasser, das ich begierig auf ex leerte. »Mehr. Bitte.« Auch das zweite Glas trank ich in einem Zug. Die Flüssigkeit schien die Nachwirkungen des Betäubungsmittels zu dämpfen und mein Kopf wurde klarer. »Wo bin ich?«
»Im Hauptquartier der MIA, wo sonst?«, fragte Adalain und verzog das Gesicht.
»Wie komme ich hierher?«
»Heute ist offenbar Tag der dummen Fragen. Auf einem Teppich geflogen.«
Ich schaute Adalain mit großen Augen an und bevor ich fragen konnte, schüttelte sie genervt den Kopf. Ihre rötlichen Locken tanzten durch die Luft.
»Natürlich nicht. Fliegende Teppiche gibt es hier nicht, verdammt nochmal. Wayland hat dich getragen.«
»Hätte seine angezogene Oma mich nicht betäubt, wäre ich gelaufen«, antwortete ich und schob schmollend meine Unterlippe vor, um deutlich zu machen, dass ich in diesem Moment zickig war.
»Dein Sicherheitslevel ist zu gering, als dass du wissen dürftest, welche Wege unterirdisch hierher führen«, sagte Adalain patzig und schaute mich an, als sei ich ein Kaugummi unter ihren Schuhen.
»Steht der Spruch mit dem Sicherheitslevel in eurem Handbuch? Einmaleins für arschige Agenten Kurs Nummer 1? Lass mich raten, du und Wayland habt die Schulung mit Auszeichnung bestanden?« Maple kicherte, während mich Adalain finster anstarrte. Nach wenigen Augenblicken schnaufte sie und schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe, wieso Wayland ihn nicht leiden kann!« Mit diesen Worten drehte sich Adalain um und ging. »Maple, kümmer du dich um ihn, mir geht er auf die Nerven«, fügte sie mit einem letzten Blick über die Schulter hinzu, bevor sie den Raum verließ.
»Reizende Person. Sind hier alle so freundlich?« Ich setzte mich an den Rand der Liege, auf der ich aufgewacht war.
»Du gewöhnst dich dran. Adalain ist ziemlich direkt.«
»Direkt? Ich würde das ja anders nennen, aber na gut.«
»Kannst du wieder stehen?« Mit einem freundlichen Lächeln gab Maple mir die Hand und half mir auf. Ihre blassgraue Haut war mit kleinen Narbenmustern in Form von Flammen übersäht. Die rötlich schimmernden Augen ohne Pupillen musterten mich. Ganz offensichtlich war sie eine Hexe.
»Ja, geht schon. Danke.« Tatsächlich war das nicht einmal eine Lüge. Die Benommenheit war gewichen und ich fühlte mich beinahe wieder normal.
»Und du bist also der Neue?«
»Der was?«
»Oh, Wayland hat dir auf dem Weg nichts erzählt?«
»Ne, war zu beschäftigt damit, sich an mir zu reiben, zu schnurren und manchmal sinnlos in die Luft zu knurren.«
»Verstehe.« Sie kicherte leicht. »War die sichere Entscheidung, dich als Tiger zu begleiten. In den Außengebieten wimmelt es nur so von Ausgestoßenen.«
»Aha. Magst du mir vielleicht endlich sagen, was hier vorgeht? Ich fühle mich langsam wie in einem James-Bond-Film. Allerdings weiß ich noch nicht so recht, ob ich James, ein Bond Girl, der Bösewicht oder der Statist bin, der als erstes stirbt.«
»Falscher Film. Du bist eher Macaulay Culkin«, sagte sie und lachte.
»Kevin allein zu Haus?«
»Genau. Wow, du stehst auch auf alte Filme?«
»Total, vor allem aus den Neunzigern.«
Ja, meine Aufmerksamkeitsschwelle für ernste Themen zum Beispiel, warum mich die MIA entführt hatte lag nicht deutlich über der eines Goldfisches, wenn man mich mit Nerdwissen der Neunziger ablenkte.
»Cool, meine Online-Mediathek ist voll mit alten Filmen.«
Ein Fluchen vom anderen Ende des Raums ließ mich herumfahren.
Der hat mir gerade noch gefehlt.
Mit zusammengekniffenen Augen stand Wayland in der Tür. Verdammt, war der Kerl riesig, er passte ja kaum in den Türrahmen. Das blonde kurze Haar hatte er zur Seite gekämmt. War es feucht? Hatte er geduscht? Der helle Dreitagebart, der sein markantes Kinn säumte, sah jedenfalls trocken aus.
»Seid ihr fertig, oder soll ich später wiederkommen?«, fragte er mit gefährlich tiefer Stimme, die mehr als deutlich zeigte, dass wir fertig zu sein hatten. Außerdem musste ich zugeben, dass diese Tonart in Kombination mit den stechend blauen Augen überaus sexy war.
»So in einer halben Stunde wäre gut, wir unterhalten uns gerade sehr nett«, antwortete ich lässig und drehte ihm den Rücken zu. Maples Augen weiteten sich und sie schaute nervös zwischen ihm und mir hin und her.
»Unfassbar!«, polterte Wayland und stürmte zu mir herüber. »Mitkommen, aber sofort!« Er baute seinen muskelbepackten Körper vor mir auf und vermutlich sollte mich das einschüchtern.
Ich zog eine Augenbraue in die Höhe und versuchte mein Bestes, halb schnurrend »Wie heißt das Zauberwort?« zu fragen. Jeder, der schon einmal einen alten Zeichentrickfilm gesehen hatte, in dem Rauchschwaden aus den Nüstern eines Stiers hervorquollen, hatte ein ziemlich akkurates Bild dessen vor Augen, was ich in diesem Moment vor mir sah. Als ich meine Hand an seine Nase führte zugegeben, ohne vorher darüber nachzudenken , sie anstupste und »Booop« sagte, verabschiedete ich mich innerlich von meinem Leben und bereitete mich darauf vor, erneut mit dem Tod von Chicago zu diskutieren.
Entgegen meiner Erwartung, Wayland würde mich anschreien oder direkt verprügeln, packte er mich, warf mich über die Schulter und schleppte mich mit sich zur Tür. Hilflos wie eine Fliege in einer Klebefalle, wedelte ich mit den Beinen. Nachdem ich ihn mit einer Vielzahl von äußerst kreativen Flüchen, die ich mir später im Handy notierte, belegt hatte, stellte ich schnell fest, dass alle Gegenwehr umsonst war.
Der verdammte Kerl war größer als ein beknackter Riese wenn es doch Werwölfe, Vampire und Hexen gab, so war die Vermutung, dass es tatsächlich auch Riesen geben könnte, nicht allzu abwegig. Ich hatte im Laufe der letzten Jahre schon einige Wandler gesehen, die zwar überdurchschnittlich groß waren, jedoch keiner von ihnen schien über die Zwei-Meter-Marke hinauszukommen. Ich musste aber zugeben, dass ich bis zu jenem Zeitpunkt keinen Tigerwandler zu Gesicht bekommen hatte. In Anbetracht meiner Lage war ich rückblickend nicht allzu traurig darüber. Sollten alle Tigerwandler so mürrisch und arrogant sein, wie dieser Wayland-Trottel, der mich weiterhin mit seinen vermutlich von Steroiden aufgepumpten Armen festhielt, dann hatte ich es nicht eilig, weitere von ihnen kennenzulernen. Dem rötlichen Ton seines Gesichts nach zu urteilen, konnte ich ohnehin froh sein, wenn ich überhaupt die Chance bekäme, irgendwen lebend zu treffen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, einer beachtlichen Portion an Demütigung für mein Ego und einer erheblichen Menge heißer Luft, die Wayland mir wütend ins Gesicht blies, betraten wir einen großen, ringförmigen Raum. Dieser erinnerte an eine moderne Bibliothek. Die Wände des runden Bereichs bestanden aus dunklem Glas, durch welches sich goldene Verzierungen zogen. Vereinzelte Irrlichter spiegelten sich in den abgedunkelten Scheiben, schwebten an wuselnden Gargoyles und Menschen vorbei, die ihrer Tätigkeit als Putzpersonal nachgingen, und verschwanden in dem Gewirr aus Bücherregalen. In der Mitte des Raumes standen einige antik wirkende Holzschreibtische, auf denen mehrere Computer und Bücher zu sehen waren. Ringförmig angeordnete Bücherregale zierten den runden Raum.
Geschäftiges Treiben herrschte an einem der Tische, auf welchem ein PC schrille Katzengeräusche von sich gab. Wayland folgte meinem Blick, schnaufte abfällig und setzte mich schmerzhaft auf dem Boden ab. Entweder hatte dieser Vollidiot seine Kraft nicht unter Kontrolle oder es war pure Absicht. Ich tippte stark auf Letzteres, denn irgendwie hatte ich es geschafft, ihm in die Suppe zu pissen, wenn ich mir seinen Gesichtsausdruck anschaute. Reinen Gewissens beschloss ich, dass er einfach eine Spaßbremse war und ich keinerlei Schuld an seiner Laune hatte. Natürlich mochte er das anders sehen, doch war mir das herzlich egal.
»Diese Idioten haben ungefähr genauso viel im Gehirn wie du«, sagte er und schaute böse zu den Kollegen, die laut über eines der Katzenvideos lachten.
Ich ignorierte seine Beleidigung und lächelte ihn freundlich an. Von einem weiteren Boop gegen seine Nasenspitze sah ich aber dennoch ab, nur zur Sicherheit.
»Ja, oder der Stock in ihrem Arsch hat noch nicht auf das Zentrum für gute Laune gedrückt, so wie bei dir.« Ich hatte früh gelernt, dass es einen richtigen Zeitpunkt zum Schweigen gab. Leider hatte ich nicht gelernt, diesen zu erkennen. Bevor mich Wayland jedoch erneut mit heißer Luft, die dummerweise nach meinen Lieblingsduft, nämlich Karamell, roch, vollblasen konnte, betrat eine ernst dreinblickende Frau in einem Kostüm aus einer weißen Bluse und einem dunklen Stiftrock den Raum. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, begab sich Wayland zu der Frau und unterhielt sich mit ihr, für mich leider nicht hörbar.
Ich, Grayson Huff, die Geduld in Person, hielt es natürlich nicht aus, wie bestellt und nicht abgeholt zu warten und erst später herauszufinden, was passieren würde. Somit fasste ich den schlauen Plan, mich zu Adalain und Maple zu gesellen, die an einem Bücherregal standen.
»Ist er immer dermaßen mürrisch?«, fragte ich mit dem Grinsen, das viele mein 1000-Watt-Lächeln nannten die Geheimwaffe, um Leute auf meine Seite zu bringen. Dummerweise hatte Adalain den gleichen Gesichtsdefekt mit eingebauter Fröhlichkeitsbremse, mit Namen »Ich schaue grimmig und brauche keine Freunde« wie dieser arrogante Tigertyp. Wenigstens Maple, die sympathische Hexe, hatte ein Lächeln für mich übrig.
»Der Auftrag, dich zu beschatten und zu bewachen, ist ein wenig außer Kontrolle geraten und seine schlechte Laune hat vermutlich etwas damit zu tun, dass er sich deswegen bei der Chefin des MIA rechtfertigen darf«, sagte Maple und verzog ihr Gesicht, als würde sie tatsächlich Mitleid für Wayland verspüren.
»Ach, so schlimm wird es schon nicht werden«, antwortete ich lässig und lehnte mich cool, wie ich war, an das Regal. Nicht ganz so cool war wiederum die Tatsache, dass dieses besagte Regal nicht am Boden festgeschraubt war. Nahezu in Zeitlupe kippte es mit einem dröhnenden Knarzen in Richtung des nächsten Regals und ich stellte mir drei Fragen:
Wieso, verdammt nochmal, passierte immer mir so was?
Wieso schraubte man das Regal nicht am Boden fest?
Und viel wichtiger: Welcher Idiot dachte, es sei eine schlaue Idee, eine Vielzahl von nicht festgeschraubten Regalen kreisförmig wie ein beschissenes Dominospiel aufzubauen, wenn ich in der Nähe war?
All diese Fragen stellte ich mir als Geist, während ich mit einem mürrischen Brummen auf meine Leiche vor mir sah. Denn ich hatte es allen Ernstes geschafft, an einem Tag zwei Mal zu sterben. Erschlagen durch ein Bücherregal. Als würde mich das Schicksal zusätzlich verhöhnen, lag über meinem Gesicht ein Buch mit der Aufschrift »Wie beschatte ich unauffällig«. Ich fluchte aus voller Kehle und hörte ein dämliches Lachen hinter mir. Mit Panik in den Augen sah ich Wayland zu meiner Leiche rennen. Demnach kam das gehässige Gackern, das ich wahrnahm, von der anderen nervigen Person, die ich heute kennengelernt hatte. Der Tod von Chicago.
Juhu!
Ich drehte mich zu ihm herum, seufzte und wollte einen Spruch zu seiner Rolex zum Besten geben, als ich sah, dass er dieses Mal eine Breitling trug. Was zur Hölle stimmte mit dem Kerl nicht? War er der Tod oder ein dämlicher Uhrenhändler in einem nächtlichen Park, der dich unauffällig fragt: »Interesse an einer Uhr«?
»Nein, will keine Uhr kaufen. Will auch nicht tot sein. Danke und tschüss.« Dummerweise bemerkte ich den Fehler, es laut ausgesprochen zu haben, erst, als der Tod von Chicago mich erneut abfällig musterte, sich seine Pergamentrolle schnappte und etwas notierte. »Ey, meine Intelligenz ist nicht defekt. Streich das sofort wieder weg«, sagte ich und zog die Augenbrauen zusammen. In diesem Moment wünschte ich mir, ich könnte derart angepisst schauen wie Wayland. Bei Zeiten sollte ich dazu mal ein paar Nachhilfestunden bei ihm oder Adalain nehmen oder wahlweise aufhören zu sterben.
»Du hast recht, ich glaube mittlerweile auch, dass deine Intelligenz nicht defekt ist.« Bevor ich überhaupt Zeit hatte, freudig erstaunt über den Sinneswandel meines jetzt neuen besten Freundes zu sein, fügte er hinzu: »Ich befürchte, du hast jegliche Intelligenz verloren.«
Sagte ich neuer bester Freund? Was ich eigentlich meinte: Erz-Nemesis, Staatsfeind Nummer 1, Brokkoli auf einer Pizza, der Typ, der dich mit einem roten Panzer bei Mario Kart direkt vor der Ziellinie abschießt und du Letzter wirst!
»Kreativ bist du ja, das muss ich dir lassen«, flötete mein Erz-Nemesis anerkennend vor sich hin.
»Kannst du aufhören, meine Gedanken zu lesen?«
»Nein.«
Du stinkst!
»Ich bin ein körperloses Wesen und habe somit keinen Eigengeruch. Möchtest du weiterhin behaupten, dass mit deiner Intelligenz alles in Ordnung ist?«, fragte der Tod von Chicago, ohne von seiner Pergamentrolle aufzuschauen, auf der er wieder einmal etwas notierte. Irgendwann würde ich das dämliche Ding anzünden, auf ihr herum springen und ein fröhliches Lied singen.
»Äußerst reif. Ist dir die Reife nun auch noch abhandengekommen?«
»Kann man den Tod töten?«, fragte ich mit zuckersüßer Stimme.
»Du nicht.«
»Aber so rein theoretisch, gäbe es da einen Weg?« Ich wackelte sicherheitshalber ganz beiläufig ein wenig mit dem Kopf, so dass es wirkte, als würde ich rein zufällig fragen. »Ich frage für einen Freund.«
»Du weißt, dass ich deine Gedanken lesen kann, oder hast du das schon vergessen?« Der Stift schnellte über das Pergament, als würde der Tod von Chicago beim Speeddating versuchen, seine ganzen Vorteile in nur zehn Sekunden zu nennen mal davon abgesehen, dass ich mir sicher war, dass er dafür nicht einmal zwei Sekunden brauchen würde, in Ermangelung von irgendwelchen positiven Eigenschaften.
»Ich werde es schmerzhaft für dich machen, wenn ich herausgefunden habe, wie man den Tod tötet und dann habe ich ein Tablet dabei, denn Realitätscheck: Wir haben 2025, niemand, aber auch wirklich niemand, schreibt mehr auf Pergament!« Mit einem Schnalzen der Zunge und verschränkten Armen versuchte ich, meinen Worten Nachdruck zu verleihen. In diesem Moment sah selbst ich ein, dass ich irgendwo zwischen ›Cool gegen das Bücherregal lehnen‹, sterben und ›Mit dem Tod von Chicago diskutieren‹, meine Reife verloren hatte.
»Na, immerhin bist du nicht ganz doof«, sagte er und lächelte mir gütig zu. Oh, wie ich dieses selbstgefällige Gesicht verprügeln wollte.
»Ich hasse dich!«, antwortete ich, in Ermangelung einer klügeren Erwiderung.
»Tust du nicht!«
Gerade, als ich protestieren wollte, dass ich es sehr wohl tat, und er es ja schließlich in meinen Gedanken lesen konnte, erwachte ich in meinem nicht mehr ganz so toten Körper. Über mir knieten Maple und Wayland. Beide starrten mich fassungslos an.
»Was bist du?«, fragte Letzterer. Seine Stimme kaum deutlicher als ein Flüstern.
»Angepisst! Der Tod von Chicago ist ein echtes Arschloch. Tatsächlich sogar mehr als du, Simba!« Neben mir fing Maple zu lachen an. Sie verstummte abrupt, denn der Tiger-Macho sah sie böse an.
»Simba ist ein Löwe«, sagte Adalain, ohne eine Regung in ihrem mürrischen Gesicht, während sie sich zu uns gesellte.
»Ich weiß, kam nur noch nicht dazu, nach bekannten Tigern zu googlen. War kurz mal tot. Hole ich nach.« Wieder lachte Maple und selbst die Mundwinkel von Adalain zuckten ein winziges Bisschen. Bedeutete bei ihr vermutlich, sie hatte einen innerlichen Lachkrampf. Wie konnte eine Wandlerin derart griesgrämig sein? Hätte Maple nicht weiterhin lauthals gelacht, hätte ich darauf getippt, dass ein Einstellungskriterium, um Agent bei MIA zu werden, ein böse schauendes Gesicht gewesen wäre.