Kapitel 8
Mensch oder nicht Mensch,
das ist eine blöde Frage
Grayson
Überlebenstipp Nummer 4:
Lies verdammt nochmal das Kleingedruckte!
D ie angeblich kurze Untersuchung des Fluchs stellte sich als Geduldsprobe für meine überaus strapazierten Nerven heraus. Davon abgesehen, dass mein neuer Partner beschloss, dass ich ein großer Junge sei – das waren seine exakten Worte und ich den Weg allein finden würde, fand ich diesen dämlichen Weg tatsächlich. Zumindest nach einer Stunde Umherirrens, drei neuen Bekannten und einem verstörenden Erlebnis mit einem Pärchen in einem der Schlafräume der MIA.
Die Untersuchung selbst war überaus ernüchternd, denn irgendetwas schützte den Fluch davor, analysiert zu werden. Aber aller Einschätzung der Heiler nach, würde er mit der Zeit abklingen. Bei allem, was ich über mich lernte, beschlich mich die böse Vorahnung, dass diese völlig bescheuerte Idee ebenso auf meinem Mist gewachsen war. Sollte es in der Welt der Schattenwesen einen Zauber geben, um in der Zeit zurückzureisen, würde ich meinem alten Ich kräftig in die Nüsse treten. Mal ehrlich, wer versteckte denn all sein Wissen über sich selbst, wenn er wusste, wie neugierig er doch war und wie sehr es sein zukünftiges Ich ärgern würde? Nachdem ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, musste ich schmunzelnd feststellen, dass das exakt nach mir klang, nur um mein zukünftiges Ich zu nerven.
Verdammt!
Ich hatte dem Heiler unzählige Fragen zu mir, dem Fluch und der Erkenntnis, kein Mensch mehr zu sein, gestellt, und nicht auf eine einzige hatte er eine Antwort. Ebenso niemand anderes in der MIA, wie er mir versicherte.
Großartig!
Vor einigen Jahren hätte ich mir vermutlich die Haare aus dem Haupt gerissen und das Gehirn zermartert, doch dieser Grayson war in seiner Jugend gestorben. Meine Vergangenheit hatte mich gelehrt, dass es keinerlei Sinn hatte, über etwas nachzudenken, das man nicht ändern konnte – oder in diesem Fall, keine Antwort bekäme. Zu viele Gedanken hielten einen davon ab, das Problem anzupacken und zu lösen. Ich würde also versuchen, geduldig zu sein und im Rahmen meiner Arbeit das Geheimnis um mich aufklären. Irgendjemand würde schon über die alten Ichs Bescheid wissen. Ich müsste ihn oder sie nur finden. Nüchtern betrachtet war dazu der neue Posten, Agent der MIA, sogar die beste Option.
Eine halbe Stunde später begab ich mich zu meinem Team. Beim Betreten der Kommandozentrale herrschte dort hektisches Treiben. Irie hatte mir beim Verlassen ihres Büros mitgeteilt, das Protokoll regulierte, dass der Wiedergänger und sein Partner die Leiter der Abteilung für rassenübergreifende Konflikte seien. Mehr nicht. Keine Information, was diese Abteilung war, was ich leiten sollte und überhaupt, was meine Aufgaben waren. Die Mentalität »Du kennst das ja schon«, ging mir langsam gehörig auf den Sack. Mochte ja sein, dass ich alle paar hundert Jahre wiedergeboren wurde, aber von Erinnerung war weit und breit nichts zu sehen.
Mein unfreiwilliger Partner hingegen schien kein Stück verwirrt. Im Gegenteil, Wayland kommandierte alle herum. Normalerweise würde ich mir den Dirigentenstab nicht aus der Hand nehmen lassen. Ehrlich gesagt übernahm ich selbst dann das Ruder, wenn der dumme Stab bei jemand anderem war, aber dieses Mal kam es mir ganz recht. Ich hatte absolut keinen Plan, was zu tun war, geschweige denn, wie die neue Welt funktionierte. Vor einer Stunde dachte ich schließlich noch, ich sei ein Mensch.
Ich hörte ein Brummen, das mich zurück in die Realität brachte. Wayland schaute wütend zu mir herüber und holte tief Luft, was dazu führte, dass sich meine Hand verselbstständigte. Anstatt den Center Shock in den Mund zu führen und genervt darauf herumzukauen, warf ich ihn mit den Worten »Fang!« in sein Gesicht. Man musste mir zu Gute halten, dass ich genau in seinen Mund getroffen hätte, wenn der Spielverderber ihn geöffnet hätte. So jedenfalls prallte er mit einem dumpfen Geräusch von dem deutlich zu ernsten Gesicht ab und landete mit einem Plopp auf dem Boden. Die hektische Stimmung im Raum verebbte schlagartig. Maple starrte mich an wie Bambi kurz vor der Umarmung mit einem Kühlergrill, während Adalain schlicht eine Augenbraue in die Höhe zog.
»Hast du gerade ernsthaft einen Center Shock wie ein bescheuertes Leckerli in mein Gesicht geworfen?«
Was war das denn für eine dumme Frage? Ganz offensichtlich hatte ich das getan. Lag ja schließlich noch vor seinen Füßen.
War es die klügste Entscheidung des Tages? Eher nicht.
Also antwortete ich mit der einzig logischen Antwort: »Nein.« Im Anschluss setzte ich ein unschuldiges Gesicht auf. Ich musste mir ein breites Grinsen verkneifen, als Wayland den Mund öffnete, wieder schloss und erneut öffnete, ohne dass er zu wissen schien, was er sagen wollte. In Gedanken zog ich fein säuberlich eine Tabelle auf. Links mit dem Wort Erznemesis, rechts mit meinem Namen. Zur Einweihung dieser machte ich einen Strich bei mir. Grayson 1 Erznemesis 0. Vielleicht würde es ja doch ein guter Tag werden.
Zu früh gefreut, gut wurde der Tag nicht. Denn gerade, als ich meinen Triumph mit einem kurzen Tänzchen feiern wollte, erklang ein Piepen von den riesigen Monitoren an der anthrazitfarbenen Wand. Mitten auf den flimmernden Bildschirmen prangte ein roter Kreis, unter dem Vertraulich stand. Ein leeres Feld wartete auf ein Passwort und ich merkte, wie alle Blicke im Raum zu mir wanderten. Ohne meinen Kopf zu bewegen versuchte ich unauffällig die Anwesenden zu mustern. Im besten Fall stellte sich heraus, dass eine meiner Kräfte war, dass ich unsichtbar wurde, wenn ich mich nicht bewegte.
»Hast du ihn kaputt gemacht?«, fragte Adalain an Wayland gewandt und zeigte mit ihrem Arm auf mich. Ein genervtes Schnaufen folgte, von dem ich nicht auszumachen vermochte, ob es von ihr oder ihm kam. War aber auch egal. Mittlerweile offenbarte sich deutlich, dass beide mich nicht sonderlich leiden konnten. Wenigstens beruhte das auf Gegenseitigkeit.
»Nein, er hat einfach keine Ahnung. War zu sehr damit beschäftigt, dumme Fragen zu stellen, anstatt elementare Sachen zu seinem Job«, antwortete Wayland, während er auf der Tastatur herumtippte.
»Entschuldige mal!« Mit einem Räuspern löste ich mich aus meiner nicht allzu dezenten Beobachterpose. Für jemanden, der bei seinem zweiten Tod ein Buch über unauffällige Beschattung im Gesicht hatte, war ich nicht auffallend gut darin. In diesem Moment war selbst mir schleierhaft, wie ich als Detektiv zuvor meinen Lebensunterhalt verdient hatte. »Ich bin heute zwei Mal gestorben, bin eine Art Zombie-Ghul-Seelenfresser-Ding, soll mit einem arroganten Arschloch ein MIA Team leiten« wild fuchtelte ich zu Wayland »was ich übrigens vor Hunderten von Jahren selbst gegründet habe, und muss zu allem Überfluss weiterhin so tun, als ob ich ein Mensch wäre. Ach ja, nebenbei bemerkt, ein Mensch, der von dem Los gezogen wurde und auf der Fünf-Prozent-Liste steht, für weitere vier Monate. Habe ich etwas vergessen? Es gibt zig Sachen, die ich in Frage stellen sollte, aber mein Kopf kommt mit dem Verarbeiten kaum hinterher.«
»Du hast was gegründet?« Maple starrte zu mir. Ihr Blick wanderte langsam zu Wayland. »Bist du sicher, dass er nicht vorsichtshalber auf die Krankenstation sollte?«
»Mir geht es gut.« Ich steckte meine Hände resignierend in die Hosentaschen, denn körperlich stimmte es. Mental hingegen war ich vollständig überfordert. Eine Neuigkeit verdrängte die nächste und von Ruhe vermochte ich bloß zu träumen.
»Was weißt du über den Wiedergänger?«, fragte Wayland mit milder Stimme und lächelte Maple zu. Der Typ konnte lächeln? Ohne Schmerzen? Ohne in Flammen aufzugehen? Das war das eigentliche Wunder dieses Tages!
»Nicht viel. In den Handbüchern wird er gar nicht erwähnt. Sprich, ich kenne nur die knappen Informationen, die du uns in der Wartezeit gegeben hast. Ansonsten ist alles versiegelt und überschreitet mein Freigabe-Level.« Maple schaute verlegen zu Boden.
»Und du hast dein Können als Hackerin nicht benutzt, um einen genaueren Blick in die Akte zu werfen?«, fragte Wayland, ohne von dem Eingabefeld am Computer aufzuschauen.
Eine Mischung aus Lächeln und Schuld legte sich auf Maples Lippen. »Vielleicht ein wenig, aber viele der versiegelten Stellen liegen handschriftlich im Tresor von Director Bishop.« Wayland sah auf, zwinkerte Maple zu und schaute zu Adalain. Ihre Blicke trafen sich für einen langen Moment, in dem keiner nachgab.
»Glaubst du ernsthaft, ich breche in das Büro deiner Mutter ein und knacke den Tresor? Ich bin nicht lebensmüde!« Adalain kniff ihre Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Bist du schon«, fügte Maple grinsend hinzu.
»Ja, im Einsatz vielleicht, aber ich bin nicht bescheuert genug, bei Director Bishop einzubrechen, um Informationen über diesen Wurm zu bekommen.«
»Der Wurm ist übrigens anwesend«, murmelte ich vor mich hin und für den guten Willen winkte ich einmal freundlich. Ein finsterer Blick von ihr traf mich und ich beschloss, dass Schweigen definitiv die beste Option war.
»Dieses ganze Chaos ist unglaublich.« Wayland holte tief Luft.
Auf dem Monitor flimmerten sechs Fotos. Vier davon kannte ich, zwei waren mir unbekannt. In der oberen Reihe lächelte ich mir entgegen, während Wayland mürrisch, wie ich es ohne Kaffee immer tat, schaute. Das Wort Teamleitung prangte in roten Buchstaben unter uns, und da hatte ich es schwarz auf weiß. Ich würde dieses Team mit der grimmigsten Person Chicagos leiten. Wunderbar. War mit Sicherheit eine wohl überlegte Entscheidung mir jenen Posten anzuvertrauen, wo ich doch so viel Ahnung von allen Vorgängen in der MIA hatte. Mal ehrlich, ich wusste seit kurzem ja nicht einmal mehr, wer ich selbst war.
In der Reihe unter uns erblickte ich ein ähnliches Spiel. Maple lächelte, während Adalain irgendetwas Schlechtes gerochen hatte – vermutlich Hundekacke, wenn man nach ihrem Gesichtsausdruck ging. Unterhalb des Bildes der sympathischen Hexe stand Datenbeschaffung und Kommunikation. Aus den paar Wortfetzen, die ich aufgeschnappt hatte, war das die nette Umschreibung für Hackerin.
Offenbar war der Sonnenschein von Spinnenwandlerin für Spionage und Infiltration zuständig. Kam nicht allzu überraschend. Mit dieser ständigen Finsternis in den Augen und Mundwinkeln, die offensichtlich nicht der Schwerkraft trotzten, war sie auch schlecht in der Lage, Presse und Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Am besten noch mit Wayland zusammen.
Ein Grinsen kroch auf mein Gesicht. Ich stellte mir vor, wie die beiden eine Pressekonferenz leiteten.
Reporter: »Agent Bishop, gibt es Neuigkeiten zu der Leiche?«
Wayland: »Nein, immer noch tot.«
Der gesamte Raum: Schweigen. Ein Heuballen hüpft durch die Szene.
Anderer Reporter: »Gibt es schon Spuren zum Täter?«
Adalain: »Wieso sollten wir dir Wurm davon erzählen? Bist du etwa der Täter?« Höllisches Lachen.
Wilde Kampfszene. Adalain wirft Ninjasterne und Wayland verschießt Blitze mit seinen Augen.
Ein lautes Knurren holte mich aus dem gedanklichen Blockbuster zurück in die triste Wirklichkeit. Mein rechter Arm war ausgestreckt und ich stand mitten in dem Raum. Offensichtlich hatte ich mir diesen Film nicht nur ausgedacht, sondern gleich selbst alle Rollen gespielt, Multitalent wie ich es war.
Wayland schien das anders zu sehen, denn seine Augen brodelten vor Wut.
»Pew Pew? Ist das dein Ernst?« Er starrte mich an, als würde ich von einem anderen Planeten kommen.
»Das waren die Blitze aus deinen Augen. Soundeffekte«, verteidigte ich mich und laut ausgesprochen klang es, rückblickend betrachtet, nicht allzu professionell.
»Ich musste ja fragen.« Ein Seufzen folgte und er wandte sich an Maple. »Kannst du ihm die kleine Tour geben? Wenn ich es mache, stirbt er ein drittes Mal.«
»Wiedergänger. Ich komme zurück, keine Sorge.«
»Wie Herpes«, sagte Adalain.
»Oder Fußpilz«, fügte Wayland hinzu.
Mein Blick wanderte zu Maple, die nichts einwarf und freundlich lächelte. Wenigstens eine Person in dem Team schien nicht von mir genervt zu sein.
Fünf Minuten später hatten wir die Schlechte-Laune-Wolke der beiden Wandler hinter uns gelassen und schlenderten einen hell beleuchteten Gang entlang. Einige Büros anderer Abteilungen zweigten davon ab und vereinzelt sah ich Teams in Besprechungen. Menschen, die als Putzpersonal und Bürokräfte eingestellt waren, arbeiteten oder verweilten auf dem Gang. Die vorbeilaufenden Schattenwesen grüßten sie freundlich und manche unterhielten sich sogar über ihr Wochenende, so als gäbe es den Konflikt zwischen den Spezies gar nicht. Diese Tatsache zeigte, dass die Einstellung zum gemeinsamen Leben der MIA durchaus freundlich war. Ich konnte beinahe vergessen, dass es eine klare Hierarchie der Arten gab. Jedenfalls bis ich einen Getränkeautomaten entdeckte. Dort gab es neben den gewöhnlichen Erfrischungsgetränken eben auch Blut. In sechs Geschmacksrichtungen.
Maple musste meinem Blick gefolgt sein. »Du weißt, dass viele Schattenwesen für Gleichheit der Spezies und Frieden einstehen, oder?«
Ich nickte schweigend. Aber die Wahrheit war, ich hatte mich nie sonderlich mit dem neuen Gesellschaftssystem beschäftigt. Weder Menschen, noch Schattenwesen zählten zu meinen Freunden. Ganz einfach, weil ich keine Freunde besaß.
»Hier in Stockwerk 15 haben die meisten inländischen Teams und primär die Chicago Einheiten ihre Teamräume«, führte Maple fort und schlenderte neben mir her.
Als wir den Aufzug erreichten, drückte sie die Taste für die 50. Etage und mit einem Ping fuhren die Türen zu. Ein merkwürdiges Schweigen umgab uns und ihr Blick wanderte, mehr oder weniger unauffällig, von Zeit zu Zeit zu mir. Leider war dies keiner jener stillen Momente, die man genoss, sondern einer, der sich unglaublich unangenehm anfühlte. Ein weiteres Ping kündigte an, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Maple warf mir wieder einen dieser Blicke zu und verließ den Aufzug. Ich schüttelte den Kopf, atmete tief ein und folgte ihr auf den Gang. Bevor sie weiterging, hielt ich sie am Arm fest.
»Nun sprich es schon aus«, sagte ich zu ihr, als sie sich herumdrehte. Ihre Augen wurden groß und ein Rotton legte sich über ihre Wangen.
»Ich … Du … Tut mir leid.« Sie schaute zu Boden. »Ich wollte nicht starren, aber deine Anwesenheit fasziniert mich.«
»Wieso das?«
»Du riechst anders.«
»Ich … Was?«
»Dein Blut riecht anders. Schattenwesen und Menschen haben einen süßlicheren Geruch.« Ihre Stimme klang wie ein Windhauch.
»Du kannst mein Blut riechen?« Unbewusst trat ich zwei Schritte von ihr weg nach hinten. Die Scham und Traurigkeit in ihren Augen war unmittelbar. In diesem Moment wollte ich mich selbst verprügeln. Maple war von Anfang an nett zu mir gewesen und ich schreckte vor ihr zurück, als sei sie ein Monster. Na gut, gestern hätte ich das noch über sie gedacht. Kopfschmerzen machten sich in mir breit. Zwanzig Jahre waren Schattenwesen in meiner Welt, durch Vorurteile geprägt, die Bösen gewesen und jetzt war ich einer von ihnen. Zu allem Überfluss behandelte mich niemand aus der MIA wie einen Ausgestoßenen. Sicher, Wayland und Adalain wirkten hochgradig genervt von meinem fröhlichen Gemüt, was daran lag, dass sie Spaßbremsen waren, aber keiner von ihnen behandelte mich so schlecht wie meine eigene Familie. Und die waren immerhin Menschen. Und ich war, in Anbetracht der Tatsache, wie ich auf Maple reagiert hatte, ein riesiger Arsch!
»Tut mir leid«, presste ich hervor und fühlte mich elend.
»Schon gut.« Sie lächelte mir zu. »Das ist alles neu für dich. Aber wenn es dich beruhigt, ich will dein Blut nicht trinken.«
»Ich dachte, ihr Hexen trinkt kein Blut, stattdessen nutzt ihr es für Magie?«
»Wir trinken kein Menschenblut.«
»Sondern?«
»Das von Schattenwesen. Deswegen sind wir Hexen unterm Strich im Ranking der Beliebtheit ziemlich weit unten.« Ein weiteres Lächeln legte sich auf ihre Lippen, dieses war deutlich ehrlicher.
»Dann freu dich, ich bin offenbar das neue unbeliebteste Schattenwesen, wenn du dir Adalain und Waylands Reaktionen auf mich anschaust.«
Sie musterte mich, atmete tief ein und sagte daraufhin mit einem Lachen: »Stimmt!«
Mein Mund stand offen, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Wer bitte wollte Stimmt als Antwort hören, wenn er nach Komplimenten fischte? Ich schnappte zwei weitere Male nach Luft und fing dann ebenso an zu lachen.
»Ich mag dich, falls das ein Trost ist.« Maple stupste mich mit der Schulter an. »Und die anderen Beiden auf ihre Art sicher auch.«
»Du hast eh keine Wahl, wir Neunziger-Freaks müssen immerhin zusammenhalten.«
Sie nickte freudig und mir fiel ein Stein vom Herzen. Es würde eine ganze Weile dauern, bis ich gänzlich realisiert hatte, dass dieser eine Tag in meinem Leben alles verändert hatte.
Mir stellten sich so viele Fragen und ich war nicht in der Lage, sie auszuformulieren. Außerdem sagte mir meine Erfahrung, dass es nichts brachte, zu grübeln. Fasziniert fragte ich mich zumindest, ob ich das ernsthaft alle 300 Jahre durchmachte und was für ein beschissenes Los das bitte war?
»Wollen wir weiter?«
»Wo sind wir hier eigentlich?«
»Ab dem 50. Stock beginnen die Wohnungen für Agenten von Teams mit hoher Geheimhaltungsstufe.« Maple stockte und musterte mich. »So wie wir.«
So wie wir?
Ich kniff die Augen zusammen und starrte sie an. Was genau meinte sie damit? Die Tatsache, dass sie auf ihrer Unterlippe
herumkaute und meinem Blick auswich, bedeutete nur, dass eine erneute Überraschung auf mich zukam. Mein Pensum an diesen war gedeckt. »Spuck es aus!«
»Komm mit«, sagte sie und eilte zu einer Tür.
»Hey, sag mir erst, was es damit auf sich hat.«
»Nun komm schon her und ich erkläre es dir.«
Während ich mit den Augen rollte, schritt ich zu Maple, die mittlerweile inmitten einer großen Wohnung stand. Es gab eine offene Küche mit einem angrenzenden Wohnzimmer, aus dessen Fenstern man einen atemberaubenden Blick auf Chicago hatte. Das einzige, was fehlte, waren Möbel.
»Wow«, entfuhr es mir, denn obwohl ich ahnte, was als Nächstes kam und ich damit gar nicht einverstanden war, raubte mir der Ausblick auf die Stadt den Atem. Wolkenkratzer durchstießen die verhangene Wolkendecke und am Horizont war die schier endlose Weite des Michigan Sees zu sehen.
»Das ist deine Wohnung.« Maple lächelte freudig und hatte mein »Wow« offenbar wie zustimmende Bewunderung verstanden.
»Ich habe schon eine.«
»Die ist nicht sicher. Dein Vertrag sagt, dass du «
»Ich habe nichts unterschrieben.«
»Doch.« Sie deutete auf die Kette um meinen Hals, dessen Anhänger sich, zu meiner großen Freude, in einen typischen Neunzigerjahre-Plastikschnuller gewandelt hatte. Mein Blick folgte ihrem Finger und glitt dann wieder hoch. »Ein Teil deiner Seele ist in der Kette und gilt als Unterschrift.«
»Na wunderbar! Ich hasse die neue Weltordnung!« Was bitte war aus Verträgen, unterschrieben mit Blut, geworden? Ich schüttelte den Kopf, denn ich klang schon wie der Tod von Chicago, fehlte nur ein Vertrag aus altem Pergament.
»Außerdem kannst du so nicht draußen herumlaufen. Du bist zur Jagd freigegeben.«
Mist, da war ja was.
Ohne Frage wusste ich, dass sie recht hatte. Als Grayson in Chicago herumzulaufen wäre Selbstmord. Auf der anderen Seite konnte ich ohnehin nicht sterben. Aber solange ich nicht wusste, was ich war, konnte ich da riskieren, dass jeder erfuhr, dass ich kein Mensch mehr war? Irgendeinen Grund musste ich ja gehabt haben, um so einen riesigen Aufwand zu betreiben unerkannt zu bleiben. Nicht einmal ich wusste, wer ich war. Leider hatte mein früheres Ich nicht berücksichtigt, dass es die Fünf-Prozent-Jagd geben würde. Glückwunsch, früheres Ich, du warst tatsächlich noch dümmer als ich!
»Ich denke drüber nach«, antwortete ich zähneknirschend und schaute mich weiter in der Wohnung um. Die Wände waren sauber verputzt und der Boden bestand aus Holz. Neben dem beeindruckenden Wohnzimmer gab es ein Schlafzimmer, welches auf einer Empore eingebaut war. Das großzügige Badezimmer, mit einer Regenwalddusche und anthrazitfarbenen Kacheln, verführte beinahe dazu, dass ich laut »Okay, ich ziehe ein!« rief. Zum Glück erstickte ich es in einem Husten. So leicht würde ich mich nicht ködern lassen und sei es nur, um zu zeigen, dass ich Prinzipien besaß.
»Wir sollten langsam zurück.«
»Ich dachte, ich bekomme die kleine Tour? Bisher habe ich nur Büros und die « Und da fiel der Groschen. Zwar in Zeitlupe, aber immerhin. »Du solltest mir nur die Wohnung zeigen, oder?«
Ein schuldbewusstes Grinsen erschien auf Maples Gesicht. »Entschuldigung.« Sie seufzte leicht, wobei sie den Körper straffte. »Der Vorteil wäre, wir könnten nach Feierabend einen Mario-Kart-Abend machen. Ich bin Profi darin!«
Oha, die Frau spielte mit fiesen Karten. Zum einen war Mario Kart mein Lieblingsspiel und zum anderen hatte sie den bisherigen Profi soeben herausgefordert. Diesen Kampf um die Wohnung hatte ich definitiv verloren.
»Geh vor, ich folge dir.« Nur würde ich nicht zugeben, dass sie mich mit dem Argument vollends überzeugt hatte. Musste schließlich nicht jeder wissen, dass meine Prinzipien in diesem Moment fröhlich pfeifend den Raum verlassen hatten.
»Ich wollte euch gerade anpiepsen«, begrüßte uns Wayland und ob man es glaubte oder nicht, er sah grimmiger aus als sonst. Dieses Mal konnte es immerhin nicht meine Schuld sein. Wobei er es sicher schaffte, mir wieder die Arsch-Karte zuzuschieben. »Es gibt ein neues Opfer.«
Bevor ich reagierte, saß Maple schon hinter ihrem Rechner und tippte wild auf der Tastatur herum. Wenige Sekunden später erschienen eine Reihe von Bildern, Dokumenten und eine GPS-Koordinate auf dem großen Monitor, der die gesamte Rückwand des Raums einnahm.
Vielleicht sollten wir hier Mario Kart spielen. Das wäre mal ein Bild.
Als Maple auf ein Icon klickte und es sich auf der Wand öffnete, verging mir jede Lust am Spielen. Ein toter Werwolf erschien auf dem Bildschirm und auf einem zweiten Foto eine Hexe an einem anderen Tatort, ebenso tot. Beide hatten ein großes Loch in der Brust. Während der Werwolf versteinert war und grotesk anmutende Ornamente sich durch die steinerne Haut zogen, hielt die Hexe ihr eigenes Herz in der Hand. Ihr Körper bestand weiterhin aus Fleisch und Blut. Einer Menge Blut. Überall. Ein drittes Bild öffnete sich und mir wurde schwarz vor Augen. Mein Atem kam stoßweise und mein Puls überschlug sich. Während ich begierig nach Luft schnappte, kamen die Wände des Raumes immer näher. So sehr ich den Blick abzuwenden versuchte, er blieb wie hypnotisiert auf dem Muster hängen, das in das Herz eingeritzt war. Ich hatte es schon mal gesehen. Vor wenigen Stunden, als der Geist meiner Mutter die Menschenfrau mit Hexenkräften übernommen hatte, um mich zu töten, hatte es auf der Stirn der Hexe geprangt. Eine Erinnerung, die ich bis zu diesem Augenblick verdrängt hatte.
»Grayson, verdammt, atme!« Kräftig wurde ich herumgerissen und Waylands Gesicht war unmittelbar vor meinem. Sein Atem roch erneut nach Karamell und der Blick in seinen Augen war voller Sorge. Welches von beiden mich beruhigte, konnte ich nicht sagen, aber es funktionierte. Ich nahm einen tiefen Zug des frischen Sauerstoffs und hustete. Zwischen den Hustenattacken presste ich hervor: »Das Muster« erneutes Einatmen »kenne ich« und ein weiteres Husten. Meine Atmung beruhigte sich langsam. Weiterhin schwach auf den Beinen, ließ ich mich von Wayland zu einem Stuhl führen. »Das ist unmöglich«, flüsterte ich und setzte mich.
»Woher kennst du es? Bisher hatte nur ein Opfer diese Markierung. In dem anderen Fall fehlte das Herz, auch wenn sonst alles gleich ist.« Wayland schaute mich mit einem Gemisch aus Sorge und Skepsis an.
»Die Menschenhexe, die von meiner Mutter übernommen wurde.« Geistesabwesend strich ich mir durch das Haar. Offenbar hatte ich geschwitzt, denn es fühlte sich klamm an.
»Hey, alles gut.« Maple kam zu mir herüber und gab mir ein Glas Wasser. »Die ersten Leichen sind immer ein Schock.«
»Das ist es nicht. Als meine Mutter die Menschenfrau übernommen hatte, habe ich das Muster gesehen.«
»War dort eine Leiche mit dir im Raum? Bisher haben wir es nur auf dem Herz des Opfers gefunden.« Wayland hockte dicht vor mir.
»Nein, keine Leiche. Die Frau hatte es in die Stirn eingeritzt.«
Stille legte sich über den Raum und sechs Augen musterten mich eindringlich.
»Bist du dir sicher?«, fragte dieses Mal Maple vorsichtig. Ich nickte, da mich die Erkenntnis selbst verwirrte. Was hatte es mit dem Zeichen auf sich? Und war die Hexe wirklich ein Mensch gewesen? Oder war die Menschenfrau gar keine Hexe? All das ergab absolut keinen Sinn.
»Sobald wir zurück sind«, sagte Wayland und drehte sich zu Maple, »suchst du überall nach diesem Muster. Mir egal, ob du legal oder illegal an die Informationen kommst.«
»Director Bishop hat mir verboten «
»Mir egal. Das ist mein Fall.« Er schaute zu mir und sein Blick verriet nichts von den Emotionen, die hinter den stechend blauen Augen vorgingen. »Unser Fall! Und es könnte uns helfen, mehr über Grayson zu erfahren. Also ganz einfach: Scheiß dieses Mal auf die Regeln!«
Vielleicht war Maple ja doch nicht die Einzige, die mich ertragen konnte. Nicht, dass Wayland das zugeben würde. Mit einem schwachen Lächeln drehte ich mich zur Wand und starrte auf das Muster. Ein Apfel, durch den sich eine Schlange wand. An irgendetwas erinnerte mich das Motiv. Etwas Altes. Es war nur ein seichtes Zupfen in meinem Verstand. Ein Gedanke. Eine Erinnerung, die so schnell wieder verschwand, dass ich sie nicht greifen konnte, und dennoch wusste ich, dass dies unmittelbar mit mir in Verbindung stand und Teil der Erinnerungen war, die ich weggesperrt hatte.