Kapitel 9
In den Schatten 2
F orest Glen, Chicagos teuerster Stadtteil.
Lediglich ein Prozent der Bevölkerung konnte davon träumen, hier zu leben. Der Unbekannte hasste es, sich in dieser Gegend aufzuhalten. Zeigte es ihm doch allzu deutlich, dass er jemand war, der niemals zu der Elite gehören würde.
Er stand vor der Tür und musterte abschätzig das Haus. Die aus weißem Marmor erbaute Villa strahlte sogar für Forest Glen außergewöhnliche Macht und Geld aus. Zwei kleine Türme säumten die Seiten und eine Vielzahl von Statuen der asiatischen Antike standen neben dem Eingang.
»Sir, Lady Kureiko empfängt keine ungeladenen Besucher«, sagte die nackte Menschenfrau in der Tür.
»Sie wird mich empfangen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drängte sich der Unbekannte an ihr vorbei. Mit eiligem Schritt lief er in Richtung des Büros. Den Prunk, der ihn sonst mit Faszination und Abscheu gleichermaßen verweilen lassen würde, ignorierte er. Ebenso die nackten Menschen, die als Regale, Sitze oder Tische dienten. Er war zwar kein Freund der menschlichen Spezies, aber wieso Lady Kureiko und ihre elitären Freunde sie erniedrigten und demütigten, würde er nie verstehen. Dies war kein freundschaftlicher Besuch. Ohne zu klopfen, stieß er die doppelflüglige Tür aus Gold auf.
»Wie kannst du es wagen? Dreckige Köter sind in meinem Heim nicht willkommen!« Lady Kureiko sprang hinter ihrem Schreibtisch auf und ein Hauch von Pfefferminze wehte zu ihm herüber. Ihre Augen funkelten den Unbekannten an. Mit einem Wink der Hand bedeutete sie den beiden nackten Menschenmännern, auf deren Rücken das schwere Brett des Schreibtisches lag, zur Seite zu krabbeln und den Weg für sie freizumachen. Ihre Augen erstrahlten in einem hellen Blau, während sie auf ihn zu schwebte.
Das war das Problem mit Chicagos Elite. Sie wollten um jeden Preis beeindrucken und einschüchtern, merkten dabei aber nicht, wie lächerlich, gar pathetisch es beizeiten wirkte. Jeder Einwohner wusste, dass Lady Kureiko eine der zwei Vertreterinnen der Hexen in der amerikanischen Regierung, dem Schwarzen Haus, war. Auch ihre klägliche politische Richtung war deutlich an der Behandlung der Menschen zu erkennen. Diese Drohgebärden waren somit unnötig.
Alle zwei Jahre erlangten die beiden mächtigsten Hexen, neben den zwei Vertretern der Werwölfe, Wandler und Vampire, ihren Platz in der Regierung. Der Unbekannte vermutete, dass Lady Kureiko unbewusst weiterhin versuchte zu kompensieren, dass sie lediglich die drittstärkste Hexe war. Ihre Halbschwester, Ekatarina, lebte im Exil, weswegen sie keinen Anspruch auf einen Platz im Schwarzen Haus hatte. Da spielte es auch keinerlei Rolle, dass sie im Verfahren der Kraftermittlung auf Platz zwei lag. Er schmunzelte bei dem Gedanken, dass die mit Abstand mächtigste Hexe den Platz im schwarzen Haus seit Jahren ablehnte und lieber einen Zauberladen mit dem Namen Nimbin betrieb. Ganz zu schweigen davon, dass Gertrude sich, dank ihrer Rauschkekse, in einer eigenen Welt bewegte. Diese Demütigung für Lady Kureiko, dass eine ständig berauschte Hexe wie Gertrude die mächtigste unter ihnen war, fühlte sich großartig an.
»Avaritia, ich bin nicht gern hier!«, sagte der Unbekannte.
Lady Kureiko hielt inne. »Schweig! Diese Namen nutzen wir nicht, solange uns jemand hören kann.«
»Ich sehe hier nur deine Haustiere. Hast du sie etwa nicht unter Kontrolle?« Ein abfälliges Schmunzeln erstrahlte auf seinen Lippen.
»Du kommst in mein Haus und wagst es, mich zu beleidigen?« Ihre Stimme schallte schrill von den Wänden, doch auch sie verstand, dass es ein geschäftlicher Besuch war. »Weswegen bist du hier? Sprich!«
»Er ist erwacht.« Dieser schlichte Satz brachte ihm ein lautes Lachen seitens der Lady ein.
»Und du glaubst, das weiß ich nicht? Du bist dümmer, als ich bisher dachte.«
Er bemerkte, wie sich heiße Wut durch seine Adern fraß. Von seinen Geschäftspartnern verabscheute er diese Hexe am meisten. Keiner von ihnen erbrachte ihm den nötigen Respekt. Alle hielten sich für etwas Besseres und dennoch brauchten sie ihn.
»Deine Nichte arbeitet bei der MIA, sie könnte wertvolle Informationen für uns haben.«
Ein Schatten huschte über Lady Kureikos Gesicht, bevor sie zu einem Stapel aus Kissen schwebte und sich darauf niederließ. Sie klatschte in die Hände und Sekunden später erschien die nackte Menschenfrau, die ihn zuvor hereingelassen hatte. Für einen Menschen war sie erstaunlich hübsch, doch für ihn waren sie Nahrung, nicht mehr. Er hielt nichts davon, sie als Haustiere zu halten. Gegen seinen genetischen Jagdinstinkt und die Notwendigkeit von Menschenblut konnte er nichts unternehmen, jedoch berechtigte es ihn nicht dazu mit ihnen zu spielen oder sie zu quälen.
Bevor die Frau etwas sagte, verpasste Lady Kureiko ihr eine schallende Ohrfeige mit der flachen Hand.
»Danke, Mylady!«, antworte das weibliche Haustier. Eine vereinzelte Träne kullerte ihre Wange hinab.
»Wieso bedankt sie sich bei dir?« Der Unbekannte schaute mit hochgezogenen Augenbrauen zu seiner Gastgeberin.
»Dafür, dass ich sie nicht töte, obwohl sie dich hereingelassen hat.« Sie deutete zu der Frau. »Sitz!« Ohne zu zögern setzte sich die Menschenfrau zu den Füßen von Lady Kureiko und ließ sich den Kopf kraulen. »Schnurr lauter«, zischte sie ihr sogenanntes Haustier mit einem gefährlichen Lächeln auf den Lippen an, während sie rabiat an ihren Haaren zog.
Widerlich, aber was erwarte ich von diesem elitären Pack?
»Entschuldigt, Mylady!«, wimmerte sie und begann zu schnurren.
»Ich bin aus anderen Gründen hier.« Der Geduldsfaden des Unbekannten drohte langsam zu reißen. Diese lächerlichen Machtgebärden waren an Unnötigkeit kaum zu überbieten.
»Meine Nichte …« Lady Kureikos Worte erklangen weich wie ein Wispern des Windes. »Wie kommst du darauf, dass sie uns helfen könnte? Sie verachtet mich. Was auf gegenseitiger Abscheu beruht. Unsere Ansichten offenbaren sich als äußert unterschiedlich.«
Fast hätte der Unbekannte aufgelacht. Die Tatsache, dass die Hexe Maple die geheime Tochter von Lady Kureikos Halbschwester Ekatarina und die Enkelin Gertrudes war, der beiden mächtigsten Hexen, erfüllte ihn mit Schadenfreude. Die stärksten Konkurrentinnen von Lady Kureiko waren zeitgleich ihre Familie. Welch süße Ironie!