Kapitel 17
Ein Männlein stand allein im Laden
Grayson
Überlebenstipp Nummer 8:
Wenn jemand sagt: »Lauf!«, dann mach es einfach, du Idiot!
I
mmer wenn Wayland »Oh nein, auf keinen Fall« sagte, entfachte im Anschluss eine hitzige Diskussion. Daraufhin machte ich es dann doch und in den meisten Fällen bereute ich es. Hielt es mich davon ab, dennoch vor Vorfreude zu beben? Natürlich nicht!
»Wer ist Andromedus Clarice?«, fragte ich so unschuldig, wie das mit dem breiten Grinsen in meinem Gesicht möglich war.
»Vergiss es! Auf keinen Fall!« Waylands Augen bohrten sich in meine und er schüttelte den Kopf. Selbst Ash schaute nur grimmig in meine Richtung. Wunderbar. Wayland hatte einen Verbündeten im Kampf gegen meinen Spaß gefunden.
»Ein Händler von Informationen und Wissen«, antwortete Benoît.
»Das ist eine nette Umschreibung für Schwerverbrechen.« Ash rollte mit den Augen, bevor er den Kopf schüttelte.
»Du kommst unter keinen Umständen mit!« Bestimmt legte Wayland seine Hand auf meine Schulter.
Es war erstaunlich, dass er nach nunmehr drei Wochen immer noch nicht begriffen hatte, was die Worte ›Unter keinen Umständen‹, ›Nein‹
und ›Vergiss es‹ bei mir auslösten. Glaubte er ernsthaft, es gab irgendetwas, das mich jetzt davon abhalten konnte, mitzugehen?
»Da bringen auch alle Diskussionen nichts. Im Hof der Wandernden Schatten funktionieren Tarnzauber nicht und du stehst immer noch auf der Liste«, sagte Wayland, der offensichtlich meine Gedanken erahnt hatte.
Ich musste zugeben, das hielt mich durchaus davon ab. Mist. Langsam, aber sicher ging mir dieses leider logische Argument mit der Fünf-Prozent-Liste gehörig auf die Nerven.
»Ich werde allein gehen«, sagte Benoît, während er Wayland lediglich einen kurzen Seitenblick zu warf.
»Auf keinen Fall. Ich komme mit dir!« Diese Aussage von Wayland entlockte Benoît ein tiefes Lachen. Seine Gesichtszüge spitzten sich zu und ein hämisches Grinsen umspielte seinen Mund.
»Dann erkläre mir einmal, oh großer Teamleiter, wie du das machen möchtest.« Als Benoît zusätzlich eine Hand an sein Ohr führte, um Wayland mit der verspottenden Geste zu verstehen zu geben, dass er es wirklich gern hören würde, hielt ich die Luft an. Lange würde es nicht mehr dauern, bis die beiden sich an die Gurgel gingen.
Bevor mein Partner reagierte, legte Ash ihm eine Hand auf die Schulter. »Er hat recht. Keiner von uns kann in den Hof der Wandernden Schatten. Auch wenn wir stets verhüllt im Einsatz sind, kennen zu viele zwielichtige Gestalten dennoch unser Aussehen. Es würde keine fünf Minuten dauern, da wüsste jeder im Hof, dass ein MIA Agent anwesend ist.«
»Er ist ebenso ein Agent!« Wayland wedelte abfällig mit der Hand zu dem Vampir. »Wie willst
du
im Hof unerkannt bleiben?« Sein Blick sprühte vor Herausforderung, als er das neue Teammitglied fixierte.
»Gar nicht.« Benoît lachte erneut. »Ich bin immer ein willkommener Gast im Hof der Wandernden Schatten.«
»Was soll das bedeuten?«
»Du solltest eindeutig mehr lesen, Cher. Dein Unwissen ist schon beinahe beleidigend.« Benoît richtete den Kragen seines Jacketts und fuhr mit seiner Zunge über das goldene Piercing an seiner Lippe. »Die Moreaus haben den Hof der Schatten erschaffen.«
In der Stille des Teamraums hörte man das leise Summen der Monitore. Alle starrten den Vampir an, aber niemand ergriff das Wort.
»Mon dieu, ihr solltet euch alle ein wenig mehr mit unserer Geschichte beschäftigen.« Sein Blick fiel auf mich. »Du vergisst es jedes Mal aufs Neue, mon ami. Dir mache ich keinen Vorwurf.«
Er wandte sich an die anderen.
»Aber ihr? Wie kann man nur so wenig über unsere Vergangenheit wissen?« Er schüttelte mit geschürzten Lippen den Kopf. »Da hätte Graysons altes Ich auf den Zauber verzichten können
–
hätte er gewusst, dass er bei so ungebildeten Teamkameraden landen würde.«
»Ach, und du weißt alles? Dann sag uns doch, wer Grayson ist!« Ich konnte Wayland ansehen, dass nicht mehr viel fehlte, bevor er die Kontrolle an den Tiger weiterreichen würde. Seine Nasenflügel weiteten und verengten sich im Sekundentakt, während die Schlagader an seinem Hals zu platzen drohte.
Benoît seufzte und bedachte Wayland mit einem mitleidigen Blick. »Selbst du solltest verstanden haben, dass ich das nicht kann. Der uralte Zauber verhindert das Aussprechen meines Wissens über Grayson. Aber ja, ich weiß, wer er ist. Mehr noch, ich war anwesend, als er den Zauber aussprach.« Benoît drehte sich zu mir. »Und ich möchte ein weiteres Mal betonen, mit allem gebührlichen Respekt, dass ich es damals schon für eine überaus einfältige Idee von dir hielt.«
Das ergab absolut keinen Sinn, und doch war ich kein bisschen überrascht, denn nichts, aber auch gar nichts, was ich in den letzten Wochen erfahren hatte, ergab einen Sinn.
»Du kennst mich?«
»Mon dieu, auf so viele Weisen, dass ich es hier besser nicht vor allen erzählen sollte.« Wayland knurrte laut auf, worauf Benoît lachend zu ihm herumfuhr. »Keine Sorge, Kitty, nicht so, wie du denkst. Ich war sein engster Freund und Berater. Durch ihn habe ich meine damalige Frau kennengelernt, bevor sie mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin.«
»Ein Arschloch?«, fragte Wayland.
»Durchaus«, antwortete Benoît mit einem Lachen. »Aber doch meinte ich damit viel mehr einen Vampir.«
Hinter ihrem Notebook zog Maple scharf die Luft ein. Mein Blick wanderte zu ihr. Rote Funken wirbelten in ihren Augen, was nur passierte, wenn sie aufgeregt war. »Das … Nein … Unmöglich … Das kann nicht sein.« Sie stand auf und schaute fassungslos zu Benoît, der ihr freundlich zulächelte. »Deine Mutter führt den Moreau-Clan, du kannst nicht der Erste sein!«
Er lachte herzlich. »Très bien. Wenigstens eine von euch hat einen gewissen Bildungsstand.« Er verbeugte sich vor Maple, was Adalain nur ein abfälliges Schnaufen entlockte. »Aber doch, ich bin, wie du es nennst, der Erste. Jedoch hatte ich nie Ambitionen eine ganze Rasse zu führen, also verwandelte ich meine treueste Anhängerin, die Voodoopriesterin Zola, zu einer Vampirin. Das erschien mir nur fair, immerhin lebe ich im Körper ihres Sohnes.«
»Was bist du?«, fragte Ash und verschränkte seine Arme.
»Du meinst außer gebildet, gutaussehend und der Einzige in diesem Team, der weiß, wer Grayson ist?«
»Spar dir den Scheiß, Moreau.« Wayland trat vor und stand unmittelbar
vor Benoît. »Die Legende sagt, dass der erste Vampir ein Loa war, der sich in eine Hexe verliebte.«
Notiz an mich: Loa googeln.
»Mein Lieber.« Benoît zupfte einen Fussel von Waylands Hoodie. »Legenden sind schön und gut. Ich kann dir, dank des Zaubers«
–
er warf mir einen vielsagenden Blick zu
–
»leider kaum etwas dazu sagen. Aber es stimmt. Ich war ein körperloses Wesen, ein Gott des Voodooglaubens, wenn du so willst, das sich in eine Hexe verliebte. Damit wir zusammen sein konnten, band sie meine unsterbliche Seele an den Körper von Zolas Sohn
–
Benoît.«
»Dann stimmt es?«, fragte Maple in einem Flüsterton. »Vampire sind unsterbliche Seelen in einem ständig verrottenden menschlichen Körper? Ich hielt es immer für ein Märchen.«
»Das klingt erstaunlich unpoetisch, aber im Grunde hast du recht.« Benoît nickte. »Deswegen brauchen wir auch Blut, damit die Hülle nicht vergeht, die unsere Seelen beherbergt.«
»Wie ihr alle wisst, interessiere ich mich sehr für Geschichte«, setzte ich an, was mir ein Schnaufen und einen grinsenden Seitenblick von Wayland einbrachte. »Aber können wir wieder über den Hof der Wandernden Schatten, den explodierten Staubhaufen und die verrückten Schattenwesen-Klone reden?«
»Ich verstehe nicht, wie du es immer schaffst, alles so einfach hinzunehmen?«, fragte Adalain und musterte mich mit einem fast anerkennenden Blick.
»Was bleibt mir denn anderes übrig? Würde ich Fragen stellen, käme jedes Mal dieselbe Antwort: ‚Kann ich dir nicht sagen. Weißt schon, der Zauber, den du Idiot selbst ausgesprochen hast, verhindert es.‘ Also frage ich lieber gar nicht. Wieso soll ich mir den Kopf über Sachen zerbrechen, auf die mir keiner Antworten geben kann, wenn ich stattdessen verhindern kann, dass der verrückte Mörder dunkle Schemen in diese Welt bringt, indem er mich tötet?«
»Das ist verstörend einleuchtend«, sagte Adalain beeindruckt.
Stolz über meine erwachsenen Gedanken klopfte ich mir mental auf die Schulter und grinste vor mich hin.
»Oh nein! Er grinst schon wieder so«, hörte ich Adalain sagen. »Entweder springt er gleich auf einen Stuhl und verschießt imaginäre Laser, heckt irgendwas Dummes aus oder ist besonders stolz auf etwas, das er gerade gedacht hat.«
»Letzteres«, schnaufte Wayland und rollte mit den Augen. »Er grinst so selbstgefällig. Das macht er nur, wenn er sich in Gedanken selbst lobt.«
Alle Selbstgefälligkeit ging damit flöten. Mir gefiel es gar nicht, dass mein Partner mich so gut einschätzen konnte, während er mir über weite
Strecken weiterhin ein Enigma von astronomischen Ausmaßen war.
»Können wir uns bitte konzentrieren? Immerhin sind wir bei der Arbeit«, presste ich hervor.
Tatsächlich lachten alle über diese Aussage. Ausnahmslos alle. Arschlöcher!
Die nächsten dreißig Minuten stritten wir lautstark, als hätten wir uns spontan zu Kleinkinder zurückentwickelt. Beschimpfungen, Vorwürfe und hysterisches Lachen hatten Director Bishop in unseren Teamraum poltern lassen. Ihre Nasenflügel bebten vor Wut. Sie beendete die Diskussionen damit, dass ich Benoît begleiten sollte, und zwar getarnt als sein Haustier. Wayland war außer sich, Benoît grinste dümmlich und ich war erleichtert, da eine vorgespielte Markierung als Eigentum zeitgleich bedeuten würde, dass ich damit offiziell von der Fünf-Prozent-Liste verschwand
–
denn Haustiere waren unantastbar. Also nickte ich den Befehl mit gutem Gewissen ab und wir brachen auf.
»Der Hof der Wandernden Schatten ist direkt auf der anderen Straßenseite? Wirklich jetzt?« Ich musterte Benoît mit zusammengekniffenen Augen. Das war ja wohl ein Scherz. Aber definitiv einer nach meinem Geschmack. Der illegale magische Untergrund lag tatsächlich direkt gegenüber von den Gesetzeshütern.
Das nenne ich mal Cojones!
»Du fandest es damals äußerst amüsant«, antwortete der Vampir und rollte mit den Augen.
»Bitte was?«
»Ich habe den Hof auf deinen Wunsch erschaffen.«
»Natürlich, was auch sonst.« Genervt warf ich die Arme in die Luft. Fand ich die Tatsache, dass der Hof der wanderenden Schatten direkt gegenüber war, durchaus lustig, nervte es ungemein, dass ich schon wieder der Grund für etwas war, an das ich mich nicht erinnerte. »Also war ich böse?«
Benoît lachte laut und kehlig auf. Danach tätschelte er meinen Kopf, als wäre ich ein dummes Kleinkind. Plötzlich verstand ich, wieso Wayland ihn nicht leiden konnte.
»Ach, alter Freund. Die Welt war nie lediglich Schwarz und Weiß. Es gibt so viel mehr Grau, als die meisten Wesen es eingestehen.« Er schaute mit Milde im Gesicht zu mir. »Nun hör auf zu schmollen. Du warst weder böse, noch warst du gut. So wie fast jedes Wesen in dieser Welt. Nur wenige sind
das Gute oder Böse in Person.«
Vermutlich hatte er damit recht, aber ich schwieg. Den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Wieso ich zuvor im Teamraum meinen Blick kaum von ihm abwenden konnte, wie ein liebestoller Dackel, war mir in diesem Moment schleierhaft. So gutaussehend er auch war, juckte mich auf einmal seine Arroganz an völlig falschen Stellen. Zum Beispiel meiner Faust, die eine enorme Anziehungskraft durch sein Gesicht verspürte.
»Das ist meine Aura.«
Erschrocken riss ich die Augen auf. »Raus aus meinem Kopf!«, rief ich, als mir dämmerte, dass er meine Gedanken gelesen hatte.
»Ihr seid auch alle empfindlich, wenn es um eure privaten Gedanken geht.« Wieder lachte der Vampir auf. »Wir Moreaus strahlen Faszination aus. Wesen verfallen uns, wie in der Antike der Circe
–
die übrigens eine von uns war.« Er zwinkerte mir zu.
Wie alt zur Hölle ist er?
»Und wieso hat meine Faszination so plötzlich aufgehört?«
»Weil ich dir sagte, dass wir enge Freunde waren. Dein Unterbewusstsein erinnert sich wieder an meine Magie und sie war schon immer wirkungslos auf dich.«
»Deswegen auch jetzt? Wegen Wayland?«
»Eifersucht ist stärker als meine Kräfte«, sagte er grinsend.
»Als ob er eifersüchtig wäre.« War er? Der Tiger vielleicht, doch Wayland selbst ebenso? Und spielte es überhaupt eine Rolle?
Die ersten drei Wochen der Partnerschaft bestanden aus gegenseitigem Augenrollen, Gebrummel und vereinzelten Waffenstillständen. Aber seit der liebevollen Geste zum Geburtstag und dem Fast-Kuss, samt Rülpsattacke aus dem Hinterhalt, hatte sich die Dynamik zwischen uns arg verschoben.
Sein sonst ständig genervter Blick war deutlich wärmer, er lächelte mich mehr an und manchmal lachte er sogar über meine Witze. Das allein war schon fast unheimlich. Und ich? Ich fand sein ernstes, professionelles Auftreten während der Arbeitszeit und den kommandierenden Ton neuerdings befremdlich anziehend. Weil ich ja normalerweise so gut auf Befehle ansprang. Genervt
–
oder vielleicht ein klitzekleines bisschen erregt
–
schnaufte ich bei dem Gedanken, wie er sich vor mir aufbaute, mir mal wieder etwas verbot und wie mich das langsam begann anzumachen. Schickte die Tatsache, dass er sich bei jeder Möglichkeit beschützend vor mich stellte und der Tiger laut knurrte zuvor Schockwellen der Wut in meinen Bauch, bereitete sie mir mittlerweile eine Gänsehaut in meinem Nacken.
Schnell verdrängte ich diese Gedanken. Es war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt über die Gefühle zu Wayland nachzudenken, nachdem
ich sie mehrere Tage so erfolgreich umschifft hatte. Wir hatten Wichtigeres zu tun, als liebestoll zu sein. Nämlich einen Mörder schnappen, dessen Endziel ich zu sein schien.
»Du warst bei der Wahl deiner Partner schon immer unüberlegt und einfältig. Der Dackelblick hingegen ist neu, wenn ich das anmerken darf?« Benoîts Stimme vibrierte vor Heiterkeit.
Möge er daran ersticken!
»Darfst du nicht.« Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und brachte etwas Abstand zwischen uns. »Gehen wir nun, oder willst du mir weitere Sachen aufzählen, in denen ich dem hohen Anspruch der ach so noblen Moreaus nicht entspreche?«
»Wenn du so fragst, Cher, dann sollten wir gehen, denn die Liste wäre zu lang.« Mit einem Lachen überquerte Benoît die Straße. Ich schaute ihm fassungslos hinterher. Immerhin hatte ich meine Frage rhetorisch gemeint und er hätte sich die Antwort sparen können.
So ein Arsch!
»Kommst du?«
Am liebsten wäre ich stehengeblieben und hätte noch ein paar Minuten gewartet, aber es war Zeit, sich wie ein reifer Erwachsener zu benehmen, also zeigte ich ihm den Mittelfinger und überquerte danach die Straße.
Das eigentliche Passieren des Zauberschutzes, der Chicago von dem Hof der Wandernden Schatten trennte, war äußerst ernüchternd. Ein kurzes Wabern der Luft umspielte meinen Körper, als ich die von der Morgensonne erleuchtete Hauptstraße in eine Gasse verließ. Keine große Magie, kein Feuerwerk, nichts. Einfach ein Schleier warmer Luft, der kurz aufwallte. Der Anblick, der sich mir hingegen im Hof der Wandernden Schatten bot, ließ sich nicht anders als mit dem Wort »Abgefahren!« beschreiben.
»Dein Vokabular hat gelitten, mon ami.« Benoît stand neben mir und seine Mundwinkel wanderten in die Höhe.
»Können wir uns darauf einigen, dass du aufhörst mir zu erzählen, dass diese Version von mir nicht deinen gehobenen, völlig bescheuerten Ansprüchen gerecht wird?«
»In über tausend Jahren haben wir uns nicht angelogen, wollen wir tatsächlich damit beginnen?«
»Weißt du was, Moreau, vergiss es.«
»Dein Hauskater färbt ab. Nun sprichst du also auch fließend
Testosteron?«
Mit einem Schnaufen und in die Höhe geworfenen Armen trat ich aus dem Schatten der Gasse. Hätte ich gewusst, wo dieser dämliche Laden von Andromedus zu finden war, wäre mir egal gewesen, ob Benoît an meiner Seite war oder nicht. So aber musste ich mir meinen dramatischen Abgang verkneifen und auf ihn warten. In meiner Vorstellung hatte ich mir den Hof der Wandernden Schatten wie einen Innenhof mit einer Handvoll Läden vorgestellt.
Die Realität hingegen offenbarte sich mir als etwas gänzlich anderes. Eine breite, in buntes Licht getauchte Straße mit einer Vielzahl an Läden, Kasinos, Bars und Bordellen erstreckte sich vor mir. An manchen flimmerten magische Beleuchtungen und bewarben die Güter, sowie Dienstleistungen. Andere hingegen hatten moderne Neonreklamen und wiederum andere waren verziert mit alten Holzschildern. Vor den Bars standen Werwölfe, Vampire und auch Hexen, die lachten, tranken und verführerisch an sich herumspielten. Eine weibliche Gestalt mit wallendem Haar, deren Körper aus Wasser zu bestehen schien, rieb sich gerade an einem Mann, der mehr Baum als Mensch war.
»Nymphen und Dryaden. Vermutlich aus Europa«, kommentierte Benoît direkt neben mir. Offenbar hatte er meinen erstaunten Blick gesehen.
»Ich weiß. Ist ja nicht so, als hätte ich kein Internet. Ich google Shit, weißt du?« Natürlich hatte ich, wie immer, keinen Plan, denn bis vor Kurzem hatten mich Schattenwesen im Allgemeinen
–
und schon gar nicht außerhalb Amerikas
–
kaum interessiert. Da ich aber weiterhin sauer auf den arroganten Kerl war, wollte ich das nicht zugeben. Dumm nur, dass genau jener Arsch Gedanken lesen konnte und in diesem Moment laut auflachte.
»Das heißt, du möchtest die Frage, wie sie hierher kommen, ebenso nicht beantwortet haben und lieber selbst recherchieren?«
»Ich kann dich immer weniger leiden«, schnaufte ich und stapfte die Straße entlang.
»Falsche Richtung.« Dieser fröhlich flötende Unterton in seiner Stimme brachte mein Blut in Wallung.
»Wieso war ich mit dir befreundet? War ich ein bisschen dumm oder was?«
»Mon dieu, warum nutzt du die Vergangenheitsform?« Sein Lachen wurde lauter.
Okay, das reicht! Entweder werde ich ihn nun einfach verprügeln oder ihm zufällig ein Bein stellen.
»In beiden Szenarien würdest du den Kürzeren ziehen.«
»Was?« Ich starrte ihn an. »Mist, raus aus meinem Kopf!«
»Ich bin ein Vampir, eine Schlägerei würdest du verlieren. Ganz
abgesehen davon, dass ein Moreau so etwas Triviales nicht macht.«
»… ein Moreau so etwas Triviales nicht macht«, äffte ich schnaufend mit einem schrecklichen französischen Akzent nach. Nicht mein stolzester Moment, aber mein ehemals bester Freund trieb mich in den Wahnsinn. Mehr noch als Wayland vor einigen Wochen.
»Du verhältst dich wie ein Kleinkind, Cher.«
»Ich werde 300 Jahre alt, richtig?«
»Und?«
»Menschen werden im Schnitt 80.«
»Mhm, und weiter?«
»29 ist etwa zehn Prozent von 300. Zehn Prozent von 80 sind 8. Das heißt, in Relation gesetzt bin ich ein Schattenwesen-Kleinkind und darf mich so verhalten.« Triumphierend grinste ich ihn an und war über mich selbst erstaunt.
»Ich habe meine Meinung geändert und bemitleide nun Wayland und nicht dich, dass er dich markiert hat.« Weiterhin dümmlich grinsend schritt Benoît an mir vorbei und bedeute mir mit einem Wink der Hand, ihm zu folgen, während ich ihn mit offenem Mund anstarrte.
Sobald ich wieder mein altes Ich bin, reiße ich ihm ein zweites Arschloch in den Hintern!
»Mon dieu, wie vulgär«, antwortete er auf meine Gedanken. »Hat dir das Internet verraten, dass Faune in der Tat zwei Darmausgänge haben?«
Dieser Kerl kann einfach nicht echt sein! Wer redet denn so?
»Wesen mit Niveau und einem langen Stammbaum?«
»Ist es noch weit zu Andromedus?« Ich beschloss jegliche Diskussion, die nichts mit unserer Aufgabe zu tun hatte, gekonnt zu ignorieren.
»Da in Europa gerade Mittagszeit ist, tummeln sich viele von ihnen hier und gehen ihren Geschäften nach. Ich denke, wir brauchen zehn Minuten.«
»Europa?«
»Der Hof der Wandernden Schatten liegt, wie sein Name vermuten lässt, in den Schatten. Es gibt vielerorts einen Zugang hierher. Er ist überall und nirgendwo«, antworte mir Benoît und zeigte mir wieder dieses überlegene Grinsen. Sein Piercing funkelte in den bunten Farben der Lichter, die uns umgaben. »Wir sollten uns beeilen.«
Ohne ein weiteres Wort folgte ich ihm die breite Straße entlang. Das Gemisch aus Baustilen und Materialien entlockte mir einen leisen Pfiff. Gerade waren wir noch an einem Laden für magische Waffen vorbei gegangen, der im etruskischen Stil erbaut wurde, schon erhob sich daneben ein pyramidenartiges Geschäft, das mit dem vorherigen offenbar in direkter Konkurrenz stand. Eine steinerne Sphinx stritt sich mit zwei Wasserspeiern, wessen Besitzer die hochwertigeren Waffen verkaufte.
Bevor ich mich ducken konnte, traf mich ein Speer aus heller Energie im Gesicht, den die Sphinx nach einem Wasserspeier geworfen hatte. Seine Reflexe waren offenbar deutlich besser als meine.
Es kostete mich nur wenige Sekunden, um zu realisieren, dass Benoît genervt aufstöhnte und meine Leiche betrachtete.
Wunderbar, dann kann Mister Sackgesicht ja nicht weit sein.
Hinter mir hörte ich Schritte und wirbelte herum. Und da war er schon: Der Tod von Chicago. »Ich muss zugeben, dass du lange durchgehalten hast. Ehrlich gesagt, hatte ich früher mit dir gerechnet.«
»Ja, die Freude ist ganz meinerseits.«
»Freude?«
»Vergiss es! Schick mich zurück, ich habe keine Zeit, mit dir zu streiten.«
»Du solltest nicht hier sein«, mischte sich eine weitere Stimme ein. Eine hochgewachsene Frau mit brauner Hautfarbe und raspelkurzen, schwarzen Haaren.
»Als ob er sich je an das gehalten hat, was wir ihm sagten, Nairobi.« Ich fuhr herum. Vor mir stand ein junger Typ und grinste breit. Er pustete eine schwarze Haarsträhne aus seinem blassen Gesicht.
„Und du bist der Tod von?“, fragte ich genervt.
„Seoul. Korea, falls du es nicht weißt.“
»Ich wette, er denkt ebenso, Europa ist ein gemeinsamer Staat«, sagte eine helle weibliche Stimme. Neben dem Tod von Seoul erschien eine hochgewachsene blonde Frau. Ihre Haut so weiß, wie Schnee. »Und nein, ich bin nicht der Tod von Stockholm. Paderborn.«
»Pada-was?«
Meint sie das ernst?
»Stadt in Deutschland. Kennt kaum jemand. Ich habe die Arschkarte gezogen. Immerhin haben wir einen recht aktiven Hexencoven bei uns.«
»Was zur Hölle geht hier vor? Gibt es in der Nähe ein Nest der Tode?«
»Der Hof der Wandernden Schatten hat keinen eigenen Tod, wir werden alle alarmiert«, sagte eine weitere Stimme neben Nairobi. Wirklich jetzt? Ein sonnengebräunter Typ in Shorts mit blonden, mittellangen Haaren, samt Surfbrett? Was für ein Klischee.
»Sydney?«, fragte ich genervt.
»Volltreffer, Kumpel.«
»So illuster diese Runde ist, ich muss zurück. Habe keine Zeit!«
»Ich schicke dich zurück, aber verlasse den Hof so schnell es geht«, sagte der Tod von Nairobi eindringlich.
»Misch dich nicht ein.« Seoul schnitt eine Grimasse. »Er hat uns damals deutlich gesagt, dass wir uns heraushalten sollen.«
»Er? Ich?« Meine Augenbraue wanderte in die Höhe. »Ich habe euch etwas befohlen?«
»Na, herzlichen Dank«, antworte der Tod von Chicago mit seiner dämlichen Swatch am Arm. »Damit wird er mich nun ewig nerven!«
Bevor ich meine gesamten Fragen stellen konnte, wachte ich in den Armen von Benoît auf. Mit einem wütenden Schrei sprang ich auf den Boden und wollte ihn gerade anschnauzen, dass wir schleunigst zu Andromedus gehen sollten, da bemerkte ich, dass wir in einem Laden standen.
»Schönheitsschlaf beendet, Prinzesschen?«, fragte ein äußerst hässliches, kleines Wesen.
»Was ist das?« Erschrocken zeigte ich mit meiner Hand auf den mit Furunkeln überwucherten Mann. Eine Knollennase nahm fast das gesamte Gesicht ein und ließ kaum Platz für die grellgelben Augen. Seine Zähne hatten erschreckenderweise dieselbe Farbe. Das einzige, das an ihm wahrlich groß erschien, waren die spitzen Ohren.
»Was ich bin? Ich bin ein Kobold, du Scheißgesicht!«
»Andromedus, vulgär wie immer«, zischte Benoît und drängte seinen Körper schützend vor mich.
»Das sagte deine Mutter auch stöhnend.«
»Achte auf deinen Ton, Andromedus!« Benoîts Augen funkelten gefährlich in dem Dämmerlicht des vollgestopften Ladens.
»Leck mir die Eier, Moreau! Ich habe keine Angst vor dir.«
»Solltest du aber!« Benoît machte ein paar Schritte auf Andromedus zu und ragte drohend über ihm.
»Erstens habe ich scheiße viele magische Fallen in dem Laden installiert, dass sie dir deine steinalten Eier wegpusten, sobald du nur einen deiner Wichsgriffel gegen mich erhebst, zweitens bist du hier, weil du etwas von mir willst.« Der Kobold schaute zu mir und lächelte bösartig. »Und drittens frage ich mich, was es dir wert ist, dass ich niemandem erzähle, wer der Wiedergänger ist. Die Unterwelt spekuliert schon lange.«
In diesem Augenblick dachte ich zwei Sachen. Zum einen sollte sich Gelbzahn definitiv das Maul mit Kernseife auswaschen
–
immerhin fluchte er noch mehr als ich
–
und zum anderen: Scheiße! Wie konnte ich nur im Hof der Wandernden Schatten sterben und mein Geheimnis somit zu allem Überfluss dem Hehler für Informationen offenbaren?
Denk nach! Improvisiere!
»Gegenfrage: Was ist es dir wert, dass ich nicht jedem im Viertel vorlüge, dass du im Dienst der MIA stehst, schon seit zehn Jahren weißt wer ich bin und nur jetzt erst damit rausrückst, weil du Angst hast, jemand könnte Benoît gesehen haben, wie er mich hier reingetragen hat?«
Die Augen des Kobolds verengten sich zu Schlitzen und er leckte mit seiner Zunge über die gelben Zähne, bevor ein Grinsen auf seinen Lippen erschien. »Ich mag das Arschloch«, sagte er dann und zwinkerte Benoît zu.
»Ist schon lange her, dass mich jemand ausspielen konnte. Außerdem respektiere ich Wesen, die vor Erpressung nicht zurückschrecken. Michael war sich dafür zu schade und ohnehin zu selbstgefällig. Der Neue ist anders als die vorherigen. Weswegen seid ihr hier?«
»Wir brauchen Informationen«, antwortete ich selbstbewusst.
»Ach nee, Prinzesschen. Informationen? Von einem Händler für Wissen? Das ist ja mal ungewöhnlich.« Andromedus lachte abfällig und spuckte auf den Boden. Er drehte sich zu Benoît. »Ganz helle ist der Neue aber nicht, was?«
Während Benoît und Andromedus anfingen zu verhandeln, was der Kobold für seine Informationen im Gegenzug bekommen würde, schaute ich mir den Laden genauer an. Ein Hauch von Magie umspielte mich unmittelbar. Alte Bücher umgaben mich, Fläschchen mit einer Vielzahl an Flüssigkeiten, Artefakte unterschiedlichster Natur und alles ohne jegliche Logik in schweren Holzregalen untergebracht. Aus einigen Gefäßen stieg bunter Dampf auf. Das erklärte auch den verstörenden Geruch im Laden. Es roch süß und sauer zugleich. Scharf und betörend. Ein Schmelztiegel der Reizüberflutung.
Käfige mit abnormen geflügelten Kreaturen, die nicht größer als meine Hand waren, standen neben einem bunt beleuchteten Aquarium. Darüber prangte in hässlicher Schrift ein Schild mit
Süd-Ost-Asien
. Ein genauerer Blick ließ mich innehalten. Die Fische erstrahlten in diesen Farben und gaben dem Wasser das Leuchten.
Eine Art Muschel öffnete sich, das schleimige Ding im Inneren erblickte mich und hielt meinem Starren stand. Unvermittelt
erhob es einen kleinen Arm, zeigte mir den Mittelfinger und schloss die Muschel wieder.
Offensichtlich handelte Andromedus nicht nur mit Informationen, sondern mit allen möglichen und vermutlich höchst illegalen Sachen.
»Du möchtest mich auf den Arm nehmen?« Benoîts Stimme riss mich zurück in die Wirklichkeit. »Sie nennen sich die Kinder Evas?«
Hat er gerade Eva gesagt? Religiöse Terroristen, na super!
»Spreche ich Suaheli?«, schnaufte der Kobold. »Ja, die Kinder Evas. Glaub mir, die sind richtig durchgeknallt. Und wenn ich das sage, heißt das einiges. Mit den Wichsern würde ich mich nicht anlegen.«
»Und was wollen sie?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Dich.« Er lachte gehässig. »Jedenfalls auch. Neben der Tatsache, dass sie alle Schattenwesen killen wollen.«
»Wie bitte?« Benoît musterte ihn fragend und Andromedus grinste erneut.
»Blöd, wenn dein Voodoo nicht funktioniert, ne?« Er tippte sich an den Kopf. »Magisch verstärktes Lithium. Kommt keine Magie durch.«
Das erklärte auch, wieso Benoît nicht einfach alle Information nahm und ging.
»Aber aus Selbstschutz helfe ich gerne. Sie entführen Schattenwesen und entziehen ihnen ihre magische Essenz. Eva, wie sie ihre Anführerin nennen, überträgt diese Kräfte mit dem magischen Mal auf die Menschen. So werden sie zu Halbwesen.«
»Menschen mit Schattenkräften?«, fragte ich und riss die Augen auf.
»Doch nicht so dumm, wie ich dachte.« Andromedus nickte. »Sie wappnen sich für den Krieg.«
»Und was wollen sie von mir?«
»Sehe ich aus wie Wikipedia?« Er schüttelte genervt den Kopf. »Ich weiß nur, dass einer von ihnen der Jäger genannt wird und nur er nach bestimmten Schattenwesen sucht. Erst nachdem er sie alle gefunden hat, darf er dich jagen.«
Ein schriller Ton durchschnitt die kurze Stille zwischen ihnen, als eine Art Paradiesvogel hereingeflogen kam und kreischte. Andromedus schien ihn zu verstehen, denn Panik machte sich in seinen Gesichtszügen breit. »Ihr müsst hier weg! Sofort!«
»Was? Wieso?«
»Jetzt! Wenn du leben willst, dann lauf!«
In diesem Moment erschien Lucille.
»Lauf! Sie kommen!« Tränen liefen ihre Wangen hinab und sie hatte die Augen in Panik aufgerissen.
»Die Kinder Evas?«
»Nein, schlimmer. Das Kollektiv!« Andromedus eilte durch den Laden, berührte mehrere Kristalle und ein Flimmern durchspülte den Raum. »Das wird sie kaum aufhalten. Ihr müsst weg!«
»Kollektiv?«
Sicher, wieso nicht noch eine weitere Unbekannte in die Rechnung aufnehmen? Der ganze Scherbenhaufen, namens mein verdammtes Leben, war ja so nicht schon verwirrend genug.
»Ich schicke euch später meinen Boten mit Informationen, aber jetzt lauft!«
»Grayson.« Lucilles Stimme war flehend. »Sie werden dich töten! Sie haben eine Waffe, die dich für immer tötet! Du musst hier weg!«
Und ich stand weiter wie angewurzelt da. Andromedus wirbelte durch den Raum, ein Golemwächter erschien, der offenbar zuvor mit einem Unsichtbarkeitszauber belegt war. Lucille weinte lauter. Benoît schaute sich im Laden um. Hatte ich vorher nur Selbstgefälligkeit in seinen Zügen gesehen, so war da nun Unruhe
–
fast schon Angst.
»Wechsle in die Zwischenebene und lauf auf direktem Weg zur MIA!« Sein Blick traf meinen und ich wusste, dass er in meinen Gedanken die
Information von Lucille über den endgültigen Tod fand. Panik und Wut pulsierten aus seinen Augen.
»Ich lasse dich nicht zurück!«
»Keine Zeit, den Helden zu spielen.« Benoîts Stimme war eiskalt. Seine Finger fuhren über einen Spiegel, während er mir unbekannte Worte murmelte. Einen Wimpernschlag später sah ich im Spiegel eine große Halle, die mit purpurfarbenen Bannern mit einem goldenen M behangen war. »Vampire können durch Spiegel reisen«, erklärte er, da er vermutlich meinen fragenden Blick sah. »Trefft mich in New Orleans.«
»Was? Ich?«
»Stammel nicht. Zwischenebene! Jetzt! Dann lauf, ohne dich umzuschauen! Ich halte sie solange auf, bis ich fliehen muss! Der Spiegel ist offen, mir passiert nichts.« Ich wollte erneut diskutieren, da schlug er mir kräftig ins Gesicht. »Du hast nicht mal den Schlag kommen sehen. Wenn ich gewollt hätte, wärst du jetzt tot. Merde, lauf endlich!«
Als würde jegliches Licht hinausgezogen werden, verdunkelte sich der Laden. Vor der Tür stand ein Wesen. Blut flog in kleinen Tropfen um dieses, pulsierte, vermischte sich, flog auseinander. Der Körper bestand aus sich immer wieder zusammensetzenden Rauch- und Blutpartikeln. Ein Werwolfkopf aus Schwärze brach aus dem Wesen hervor, fuhr wieder hinein, nur um durch den Schatten einer Hexe ersetzt zu werden. Hinter dem Wesen flatterte ein Gemisch aus Knochen und Düsternis. Wirbelte in verschiedene Richtungen, beinahe als würde es die Umgebung abtasten.
Mein Puls beschleunigte sich. Panik durchfuhr meinen Körper. Und eine Kälte, die der Geisterebene in nichts nachstand, legte ihre eisigen Finger um mein Herz.
»Jetzt ist der Zeitpunkt zum Laufen!« Andromedus betätigte ein paar weitere Kristalle. »Mein Schutz wird nicht lange halten.«
»Du!«, dröhnten drei Stimmen zugleich und das Wesen zeigte auf mich. Jedenfalls glaubte ich das. Sie klangen wie ein düsterer Chor der Apokalypse. Schwarze Schatten wirbelten umher. »Zeit zu sterben«, wisperten die drei Stimmen. Voller verzerrter Wut warf sich das Wesen gegen Andromedus‘ Schutz. Lediglich ein Flimmern der Luft zeigte, dass er vorerst hielt. Aber ich hatte keinen Zweifel mehr daran, dass ich flüchten musste.
Ich schloss die Augen, ließ meine Gedanken in alle Richtungen greifen, suchte die Kälte. Als ich sie fand, griff ich im Geiste nach ihr. Stück für Stück fuhr sie in mich. Mein Körper begann zu leuchten.
Etwas noch. Mach schon!
Als ich genug Kälte des Geisterreichs in mich aufgenommen hatte, ließ ich los. Zu viel würde mich unmittelbar in die Geisterebene bringen. In Anbetracht der Situation vermutlich dennoch besser als die irdische. Ein
kurzer Blick zu meiner Hand zeigte, dass es mir geglückt war, in die Zwischenebene zu wechseln. Immerhin.
Benoît streute ein Pulver auf den Boden, griff Andromedus‘ Arm und schnitt ihn.
»Scheiße, Moreau«, fluchte der Kobold.
Der Vampir hingegen ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Krabinay, hilf deinem Loa-Bruder. Ich weiß, ihr verachtet meine Entscheidung, aber hier geht es um mehr«, murmelte er, tauchte seinen Finger in Andromedus‘ Blut und malte eine Schlange in das Pulver am Boden. Tatsächlich wusste ich neuerdings, dass Krabinay zu den äußerst bösen Loas gehörte, dank meiner Suche im Internet. Ebenso wusste ich, dass man ihn in Situationen höchster Not anrief. Unmittelbar nach meinen Gedanken setzte sich das Pulver in Bewegung, zischte und dampfte. Nur eine Sekunde später erhob sich eine gut zwei Meter große Viper aus dem Staub. Ihren Blick auf Benoît gerichtet. Ohne zu zögern, zeigte er auf das Wesen aus purer Dunkelheit. »Halte sie auf!«
»Ich vergesse immer, dass ihr Moreau Voodoo praktiziert«, murmelte Andromedus. »Hoffen wir, es hilft.«
»Du hast nicht zufällig einen Hahn hier, Cher?«
»Was?«, fragten Andromedus und ich gleichzeitig.
Benoît beachtete uns nicht weiter. Die Viper, von deren Zähnen Gift tropfte, stürzte sich auf den Angreifer, während Benoît eines der geflügelten Wesen in den Käfigen ergriff. »Das muss reichen.«
Er brach dem Tier das Genick, legte es in den Staub und zeichnete etwas hinein. »Grande Ai-Zan, Schwester, hilf mir.«
In Gestalt einer Frau erschien ein Wesen. Macht und Weisheit erstrahlte von ihr. »Bruder, ich werde dir helfen, obwohl du dich von uns abgewandt hast. Doch meine Macht in dieser Straße ist schwach. Ich verstärke den Schutz, aber er wird dennoch brechen. Der, den ihr Grayson nennt, muss fliehen!«
Der, der Grayson genannt wurde, tat endlich genau das. Mit einem kurzen Blick zu Benoît und einem Nicken, rannte ich los. Der Vorteil ein Geist zu sein war, dass man durch Wände laufen konnte. Ohne mich umzublicken stürzte ich deswegen durch die Wand des Ladens und fand mich in einem Bordell wieder. Das Kreischen der Kunden vermischte sich mit einem wütenden Schrei des Wesens auf der Straße. Ich verzog mein Gesicht zu einer flüchtigen Entschuldigung, eilte den Gang entlang und hechtete in das nächste Gebäude.
Ein Krämerladen offenbarte sich mir. Mein Blick zur Fensterfront zeigte, dass mein Angreifer direkt verstanden hatte, was mein Plan war. Denn wie ein düsteres Omen, flog er die Straße entlang. Die drei Stimmen mischten sich zu wütenden Schreien. So laut, dass die Scheiben vibrierten. Schatten
und Blut wirbelten in den Laden, umspielten mich und eilten wieder hinaus. Ich hustete, da ich das Gemisch in den Mund bekommen hatte. Ein eiserner Geschmack lag auf meiner Zunge.
Wieso konnte ich es schmecken, obwohl wir in unterschiedlichen Ebenen waren? Das bedeutete nichts Gutes.
Ich beschleunigte meine Schritte, als die Fenster zu meiner rechten Seite zerbarsten. Scherben flogen wie Geschosse durch den Laden, trafen Kunden und hinterließen ein Chaos. Dachte ich sonst gerne als graziler Geist über mich, der fröhlich durch die Gegend schwebte, fühlte ich mich in diesem Moment eher wie ein zappelnder Fisch auf dem Trockenen.
Der nächste Laden hatte unterschiedliche Lebensmittel im Angebot. Zum Glück war niemand anwesend, denn wenige Augenblicke später zerbarsten auch hier die Fenster. Gefolgt von einem wütenden Aufschrei: »Du hast mir etwas genommen. Er ist mein! Dafür stirbst du!« Eine von drei Stimmen war präsenter. Sie kam mir merkwürdig bekannt vor. Dank der Panik konnte ich diesen Gedanken aber nicht greifen und sprintete weiter.
In den nächsten fünf Läden wiederholte sich das Spiel. Fenster zersplitterten, Kunden kreischten, ich rannte. Auf der verdunkelten Straße verfolgte mich das Kollektiv. Jegliches Licht schien von ihm aufgesogen zu werden. Die Schatten und das Blut pulsierten zunehmend stärker und die markerschütternden Schreie verebbten nicht. Es erinnerte an eine Szene, in der die Sonne hinter einem Bergkamm unterging und die Schatten gnadenlos das umliegende Land verschlangen. Nur war das Wesen nicht die Sonne, sondern die personifizierte Dunkelheit.
Schnaufend hechtete ich durch die nächste Wand und fand mich zu meinem Erstaunen in Chicago wieder. Genauer gesagt auf der Straße unweit der MIA. Freute ich mich kurz, dass die Sicherheit nah war, zerbarst die Hoffnung unmittelbar. Das Kollektiv tauchte ebenso auf. Wut pulsierte in Wellen aus ihm und die Augen starrten mich hasserfüllt an. Schatten und Blut wirbelten über die Straße. Mein Blick wanderte zu einem funkelnden Gegenstand in der Hand des Wesen. Ein kunstvoll verzierter Dolch erstrahlte im Licht der Sonne. Lucilles Worte über eine Waffe, die mich töten konnte, hallten wie Donnerschläge durch meinen Kopf.
Ohne weiter nachzudenken schloss ich die Augen, streckte meinen Geist aus, tastete nach der Kälte, ließ sie mich durchfluten. Als ich sie wieder öffnete, war das Kollektiv nur noch ein Umriss, wie in einem Schattenspiel. Die Hoffnung, endlich in Sicherheit zu sein, war leider ein Trugschluss. Das Gebäude der MIA war umzingelt von Hunderten, wenn nicht Tausenden von bösen Geistern. Im 30. Stockwerk sah ich die Wärme pulsieren. Wayland, mein Leuchtturm.
In diesem Moment wusste ich, dass ich sterben würde. Wenigstens nicht
endgültig, sondern immer wieder aufs Neue. Zu irgendeinem Zeitpunkt würde Wayland hoffentlich neben mir stehen und ich könnte zurück in die irdische Ebene wechseln. Das war zwar keine schöne Prognose, dennoch aber um Welten besser, als endgültig durch die Hand des Kollektivs zu vergehen.
Wie so oft, wenn es zu meinen Theorien kam, irrte ich mich gewaltig. Während ich in meinen Gedanken gefangen war, tauchte das Kollektiv plötzlich wieder auf. Wusste es, wo ich in der Geisterebene stand? Wie war das möglich? Sie konnten mich doch nicht einmal sehen aus der irdischen Ebene.
Meine Antwort bekam ich in Form einer klaffenden Wunde am Arm, als der Dolch die Ebenen durchschnitt. Ein nie gefühlter Schmerz pulsierte durch meinen Körper. Fassungslos schaute ich zu meinem Arm. Dunkle Schatten quollen aus mir hervor und ein schimmernder Riss prangte in der Luft, durch den ich das Kollektiv sah. Der Dolche hatte die Ebenen durchschnitten.
Ohne weiter zu überlegen, stürzte ich Richtung MIA. Zu meiner Überraschung beachteten mich die bösen Geister nicht. Ihre Blicke waren auf den Riss gerichtete, der sich in Zeitlupe erneut verschloss. Ich nutzte den Moment und holte die letzte Kraft aus meinem müden Körper. Mit einer dunklen Wolke aus Rauch, die wie ein Signalfeuer aus der Wunde emporstieg, durchquerte ich die Außenwand der MIA. Hier war ich vor dem Kollektiv sicher, denn sie würden hoffentlich nicht dumm genug sein, ein Gebäude mit hunderten von Agenten, zu betreten. Doch Freude machte sich keine breit. Die Wunde an meinem Arm verschloss sich nicht. Weiterhin fanden dunkle Schatten ihren Weg aus meinem Körper in die Geisterebene. Schmerz pulsierte in heißen Wellen durch mich und da verstand ich: Ich würde endgültig sterben. Grayson Huff würde in wenigen Sekunden nicht mehr sein.