Kapitel 20
Die Stimme aus dem Off
Grayson
Überlebenstipp Nummer 9:
Finde Freunde, wenn du überleben willst.
D
as Schlimmste daran, eine Statue zu sein, war ohne Frage die Langeweile. Aufgrund der Tatsache, dass mein Körper versteinert war, empfand ich keine Schmerzen. Leider bekam ich alles mit und es dauerte eine Ewigkeit, bis ich gesund aus dem Stein befreit wurde.
Da war ich das erste Mal in New Orleans und verpasste tatsächlich den Bummel durch das Französische Viertel. Bei dem Gedanken daran, verdrehte sich mir vor Wut der Magen. Das Gespräch von Wayland und Ash kam zurück in mein Gedächtnis. Jedes einzelne Wort.
»Wieso markiert mein Tiger jemanden, der so unreif ist?«, murmelte ich vor mich hin und boxte mit der Faust in mein Kopfkissen. Und auf die Frage, ob er sich in mich verlieben würde, reagierte er schon fast beleidigt. Aber warum sollte er auch Gefühle für mich haben? Immerhin hatte mich lediglich sein Tiger markiert. Das betonte er oft genug. Ich war in seinen Augen nur ein Kind im Körper eines Erwachsenen.
Mit Ashs Worten »sozial inkompetent« warf ich das Glas Wasser gegen die Wand. Mein Körper zitterte, so sehr hatte mich die Wut in ihren Fängen. Das erste Mal gespürt hatte ich sie während des Rituals zu meiner Rettung.
Drei Tage hatte es gedauert, in denen niemand sprach.
Lediglich ein leises Gemurmel von Mademoiselle Moreau und Jude war zu vernehmen. Abgesehen davon, war ich allein mit meinen Gedanken. Begrüßte ich es zuerst, änderte sich das doch schnell. Fest hatte ich mir vorgenommen, daran zu arbeiten mich zu öffnen, nicht immer alles mit einem Witz abzutun oder über alles zu lachen. Ich wollte Wayland beweisen, dass ich mehr als ein kaputtes Kind war. Doch je länger ich darüber nachdachte, umso unsicherer wurde ich. Zusätzlich fühlte ich mich nach dem Angriff hilflos und nackt.
In meinem Inneren flüsterte leise eine Stimme zu mir. Ich verstand ihre Sprache zuerst nicht, aber fühlte die Bedeutung. Zweifel schlichen sich ein, wie ein Panther auf der Pirsch. Ich spürte, dass etwas Bedrohliches lauerte, doch konnte es nicht sehen. Nicht bevor es zu spät war. Wie der Panther auf seine Beute stürzte sich die Wut auf mich. Verschlang mein Innerstes und brach mein Denken entzwei.
Seit diesem Moment war die flammende Wut da und ich hörte ihre Stimme jede Nacht. Sie ersetzte die Angst, die in mir saß. Während alle schliefen und ich rastlos im Bett lag, flüsterte sie zu mir.
»Lass mich frei.«
»Halt mich nicht zurück.«
»Alles wird in Flammen aufgehen.«
»Übergib mir einfach die Kontrolle und sie werden Respekt vor uns haben.«
Ich wollte Respekt. Und ich sehnte mich danach, die Kontrolle abzugeben, nicht mehr schwach zu sein und nicht mehr alles allein ertragen zu müssen. Also hörte ich auf die Stimme, ließ mich von ihr leiten.
Ich schaute auf die Scherbe am Boden, die mich an mein Leben erinnerten, und sah dem Wasser zu, wie es sich ausbreitete. Vier Tage hatte ich mich nun im Zimmer verkrochen. Nachdem mir Director Bishop mitgeteilt hatte, dass Jude mich im Kampf ausbilden sollte, schob ich vor, weiterhin zu kraftlos zu sein.
Die Wahrheit aber war, ich wollte niemanden sehen. Und mit niemanden meinte ich speziell Wayland. Das hielt Jude jedoch nicht davon ab, jeden Tag für mehrere Stunden bei mir vorbeizuschauen und sich mit mir zu unterhalten. Wobei eigentlich meistens nur er redete und ich weitestgehend zuhörte. Dennoch beruhigte mich seine Stimme.
So erfuhr ich, dass seine Mutter eine Hexe aus Buenos Aires war, die vor seiner Geburt nach Chicago gezogen war und sein Beschwörer-Vater aus Madrid stammte. Er war kein Wunschkind gewesen und als er als Junge zur Welt kam, besiegelte sich sein Schicksal. Männliche Hexen wurden nur alle paar Jahrzehnte geboren und ausnahmslos getötet. Eines der vielen unsinnigen Gesetze, die es in den Coven gab.
Jeder Hexer wurde als Nekromant geboren und galt deswegen offiziell als
zu gefährlich. Inoffiziell stammte dieses Hexengesetz aus einer Zeit, in der das Matriarchat die Coven übernommen hatte und keinerlei Männer in ihren Reihen haben wollte. Dies begründete sich wohl auf einer Prophezeiung, in der eine männliche Hexe an dem Untergang der Coven mitwirken würde.
Jedenfalls sagte das Jude. Woher die Regel auch stammte, seine Mutter wollte ihn gerade in einem Blutopfer töten, da kam Zola zu seiner Rettung. Seitdem lebte er im Haus der Moreaus und durfte es, zu seinem eigenen Schutz, nicht verlassen.
Nachdem ich am ersten Tag meines selbst auferlegten Stubenarrests davon erfahren hatte, stellten wir fest, dass wir uns äußerst ähnlich waren und ich hörte ihm gern zu. Das Zimmer verließ ich dennoch nicht. Aber wenigstens freundete ich mich mit Jude an, und in dieser Zeit war die Stimme in meinem Kopf ein bisschen leiser.
Es war zwar merkwürdig, dass ich ihm so schnell vertraute – bedachte man, dass ich Zeit meines Lebens kaum Freunde gehabt hatte. Dennoch stärkte sich das Band zwischen uns ungewöhnlich schnell, und ich war es leid, alles zu zerdenken – also ließ ich es geschehen.
Das Wasser aus dem zerbrochenen Glas breitete sich weiter am Boden aus, bis die Bewegung zum Erliegen kam. Plötzlich flog die Tür auf und Wayland polterte herein. Sein Blick eilte durch den Raum. Als er das Glas am Boden entdeckte, musterte er mich. »Was ist passiert?«
»Mir ist das Glas runtergefallen.« Was eine unglaublich dumme Lüge war. Fast hätte ich mit den Augen gerollt, konnte mich aber beherrschen.
»Einmal quer durch den Raum gegen die Wand?«, fragte er und glaubte mir natürlich kein Wort.
»Neue Kraft entdeckt«, antworte ich knapp. Unmittelbar
ärgerte ich mich über mich selbst. Aus einem Reflex heraus machte ich direkt wieder dicht und war auf Ironie gewechselt. Genau deswegen ging ich ihm aus dem Weg. Ich wollte erst einen Weg finden, mit ihm über meine Gefühle reden zu können, anstatt mich immer zu verschließen und irgendetwas Lustiges oder Patziges zu antworten
–
wie das Kind, als welches er mich sah. Dieser Plan war somit glorios gescheitert.
»Benimm dich nicht wie ein …« Wayland atmete tief ein und aus. Sein breiter Brustkorb hob und senkte sich im Takt des leichten Regens, der gegen das Fenster fiel. Die wenigen Tropfen waren nichts im Vergleich zu dem Unwetter, das sich hier gerade anbahnte.
»
Kein Respekt! Er hält dich für schwach. Befrei mich!«
»Ein was?« Ich erkannte meine Stimme kaum wieder. Hohn tropfte wie Honig von einer Wabe und meine aufbrausende Wut glich einem Bienenschwarm.
»Schon gut. Komm essen, es wird Zeit, dass du dein Training beginnst.«
»Schon gut?« Ich trat unmittelbar vor ihn und schaute zu ihm hinauf. »Hab wenigstens die Eier es auszusprechen.«
»Grayson, es reicht!«
»Ja, mir auch!«
»Schwach, er hält dich für schwach.«
»Komm essen oder geh trainieren!«
»Wozu?«
»Sieh es ein, du bist im Kampf …« Seine Nasenflügel weiteten sich.
»Was? Sag es mir!«
»Nutzlos, verdammt! Du bist ein Opfer, kein Jäger!« Seine Augen flogen auf und er starrte mich fassungslos an, als hätte er nicht brüllen wollen. Und schon gar nicht diese Worte. Aber das hatte er und sie schürten die Stimme in mir an. Bestätigten alles, was sie mir tagelang eingeflüstert hatte.
»Grayson, lass mich erklären«, sagte Wayland hastig. Doch es war zu spät für Erklärungen. Das Einzige, das ich hörte, war das Wort
nutzlos
und die Stimme in meinem Kopf.
»Seine Seele! Zeig ihm, dass du nicht schwach bist!«
Meine Gedanken waren in einem nebeligen Schleier gefangen und ich verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Als ich wieder zu Sinnen kam, leuchtete mein Arm und ich trank Waylands Seele. Sein Blick war trüb und sein Arm ausgestreckt. Am Boden lag die Taschenuhr, die offensichtlich gegen mich gerollt war, nachdem er sie fallengelassen hatte. Schockiert unterbrach ich die Verbindung.
Seine Augen wurden wieder klarer und sie schauten mich traurig an. Als er sich räusperte und leicht den Kopf schüttelte, presste ich ein leises »Geh« hervor. Dachte ich zuvor, er wollte etwas zu der abscheulichen Tat, die ich gerade begangen hatte, sagen, erkannte ich, was in seinem Blick mitschwang: Mitleid.
»Er hält dich immer noch für schwach!«
Meine Synapsen feuerten erneut. Bevor ich etwas Schlimmeres tun konnte, schrie ich ihn an: »Verschwinde aus meinem Zimmer!«
Sollte er mich doch wieder für ein Kind halten, aber es war in diesem Fall kein Trotz, sondern purer Horror. Bilder tanzten vor meinem Auge, was ich ihm antun könnte, wenn er blieb. Sein Blick fiel auf die Uhr, dann schüttelte er den Kopf, drehte sich herum und ging. Erleichterung und Enttäuschung rangen um meine Aufmerksamkeit. Er war sicher, hatte mich aber ohne mit der Wimper zu zucken zurückgelassen.
Nachdem ich zwei Stunden gebraucht hatte, meine Wut unter Kontrolle zu bringen und mich selbst zu beschimpfen, wie ich so die Beherrschung verlieren konnte, beschloss ich, dass ich mich die letzten Tage genug bemitleidet hatte. Vielleicht hatte Wayland recht und ich war nutzlos, aber das konnte ich ändern. Deswegen nahm ich endlich das Training mit Jude auf, um Wayland, wie auch mir, zu beweisen, dass ich nicht nutzlos war.
Jude war schon in dem großen Trainingsraum, der wie das Innenschiff einer Kirche aussah. Minus die Bänke. Und den Altar. Eigentlich erinnerte mich lediglich das ausladende, runde Buntglasfenster und die längliche Form daran. Was kein Wunder war, da ich nur einmal in einer Kirche gewesen war und mich bei dem Besuch das Fenster am meisten interessiert hatte. Wer glaubte in Zeiten von Vampiren, Hexen und Werwölfen, die einem nach dem Leben trachtete, denn auch an eine gerechte Macht? Ich jedenfalls nicht.
Grüne Flammen tanzten über Judes Haut und er schwebte im Schneidersitz mit einem Buch auf dem Schoß mitten im Raum. Das bunte Licht aus dem Fenster schien in dicken Sonnenstrahlen an ihm vorbei, so als würde es mich verarschen wollen. Denn wie er da schwebte, mit dem Licht, wirkte er in der Tat fast göttlich. Jedenfalls bis er den Mund aufmachte.
»Heilige Scheiße! Grayson, bist du das oder sehe ich einen Geist?«, fragte er lachend. »Verstanden? Geist? Du? Flachwitzalarm.« Er tippte sich mit einem Finger an den Kopf und zeigte mir äußerst eindrucksvoll, wie nervig ich die letzten Wochen gewesen sein musste.
»Können wir mit dem Training beginnen?«, fragte ich kleinlaut.
»Klar, gern.« Er streckte die Beine aus und landete auf dem purpurfarbenen Teppich. »Die erste Theorie ist etwas komplizierter, aber dann wird es einfacher«, sagte er munter. Dieser Tatendrang würde schon noch vergehen, wenn er feststellte, wie sehr ich es hasste zu lernen. Meine Gedanken huschten flüchtig zu Gertrude und Jude tat mir unmittelbar leid. Er hatte ja keine Ahnung, worauf er sich gerade eingelassen hatte.
Genervt ließ ich die Pistole sinken und stöhnte theatralisch auf. Es war Abend und nachdem Jude mir bis zum Mittag alles Nötige erklärt hatte, hatten wir angefangen zu trainieren. Wie erwartet, stellte ich mich mal wieder äußerst ungeschickt an. Die Theorie hatte ich erstaunlich schnell
verstanden. Im Endeffekt besaß er zwei Magieströmungen. Seine Hexenmagie ließ ihn Untote heraufbeschwören, Lebendes vergehen oder Wunden schließen. Eigentlich so, wie man sich einen Nekromanten nun einmal vorstellte. Blut- und Todesmagie. Davon konnte er mir, in Ermanglung von Hexenmagie in meinem Blut, nichts beibringen. Seine Beschwörermagie hingegen faszinierte mich ohnehin mehr. Damit war er in der Lage, Abraxas zu errichten –
magische Talismane –
nur in Form von Worten, die er in etwas einwob. Der Schutzzauber, der das Haus der Moreaus von innen tarnte, war ein solcher Abraxas, den Jude in die Wand eingelassen hatte. Die Möglichkeiten waren zahlreich und so erklärte er mir, dass er meine Pistole mit seiner Magie zu einem Teil von mir machen würde. Der Abraxas würde daraufhin meine genetische Signatur und Seele erkennen und dann zu einer Verlängerung meines Körpers werden. In der Theorie würde es dazu führen, dass jede Kugel, die ich verschoss, von meinen Gedanken gelenkt werden konnte. Ich sagte bewusst Theorie, denn der Abraxas in der schwarzen Pistole und mein Körper hatten beschlossen, sich anzuschweigen. Für nun mehr als fünf Stunden.
»Nicht mal der Abraxas glaubt, ich sei seiner wert«, grummelte ich und donnerte die Pistole auf einen Tisch an der Wand.
»Das wird schon. Sonst finden wir etwas anderes für dich. Vielleicht hast du ja ein paar Kräfte, die du noch nicht entdeckt hast und wir erforschen sie gemeinsam.« Dieser fröhliche Optimismus ließ mich in den Autopiloten wechseln. Meine Haut kribbelte, Wärme breitete sich aus und die Stimme flüsterte erneut.
»Lass mich frei! Ich bringe dir Kraft!«
»Ich bin praktisch nutzlos. Das Einzige, was ich kann, ist mich feige in die Zwischenebene zu verpissen, damit der wertvolle Wiedergänger nicht stirbt.«
»Deine Hülle ist schwach ohne mich, aber mit mir wärst du stark!«
Mit aller Kraft ballte ich die Faust und schlug gegen die Wand. Ein leises Knurren entfuhr mir, als der Schmerz durch meinen Körper jagte. Hatte ich vor der Attacke des Kollektivs alles mit einem Grinsen oder wahlweise mit einem dummen Spruch nehmen können, machten mich die Situation mit Wayland und meine Hilflosigkeit im Kampf nur noch wütender. Sie stachelte die Stimme an. Oder war es die Stimme, die mich anstachelte? Wie lange würde es dauern, bis ein Mitglied aus meinem Team starb, weil es mich beschützte?
»Lass mich frei und wir beschützen sie. Das ist unsere Bestimmung.«
»Dann hör auf zu jammern und trainier.« Jude lehnte lässig an einer Säule und schüttelte den Kopf. Ich schaute ihn fassungslos an, Fäuste weiterhin geballt. »Ich konnte kaum erwarten, dich kennenzulernen. Benoît hält große Stücke auf dich.«
»Auf mein altes Ich vielleicht.«
»Auf mich!«
»Nein, auf dich, Grayson. Er sagte, du seist die beste Version deiner selbst. Aber ehrlich gesagt, verstehe ich nicht warum. Du bist ein Jammerlappen. Was waren dann bitte deine alten Ichs?« Jude drückte sich von der Säule ab. Seine Augen erstrahlten in grünem Feuer und er warf einen winzigen Feuerball nach mir, der mir leicht die Wange verbrannte.
»Was soll der Scheiß?«, presste ich die Worte zwischen meinen Lippen hervor.
»Bekämpfe Feuer mit Feuer.«
»Awww, willst du nun den großen Tiger rufen? Oder doch lieber schnell in die Zwischenebene und dort jammern?«
Ein weiterer Feuerball traf mich im Gesicht, dieser größer als der vorherige. Meine Wange schmerzte und ich vernahm einen leicht verbrannten Geruch.
»Er soll brennen. Ich lasse ihn brennen. Befrei mich!«
»Wehr dich!«, rief Jude. Der heranfliegende Feuerball würde mir definitiv schwere Verbrennungen verpassen. Bevor ich wusste, was ich tat, war ich in der Zwischenebene.
»Süß, und nun renn zu deinem Kater. Husch husch.«
»Keiner darf so zu uns sprechen! Niemand! Wehre dich!«
In wenigen Schritten war ich bei Jude, wechselte in die irdische Ebenen und schlug ihm die Faust in das grinsende Gesicht. Immer weiter prügelte ich auf ihn ein und schrie: »Ich habe keinen beschissenen Plan, wie ich mich wehre!«
Als meine Fäuste langsamer wurden, bemerkte ich, dass sich Jude nicht mehr bewegte. Sein Körper flimmerte auf und bevor ich in Panik verfallen konnte, stand ich wieder an der Wand. Grüne Rauchschwaden verflüchtigten sich im Raum. Meine Hand fuhr zu meiner Wange. Sie fand dort keinerlei Verbrennungen.
Mein Atem kam stoßweise und mir war übel. Jude lehnte neben mir, zog mich in eine feste Umarmung, während ich zu zittern begann.
»Das war schon ganz gut. Aber wir müssen da mehr Kontrolle hineinbringen. Der erste Schritt ist, du hörst auf, blind um dich zu schlagen. Sprichwörtlich und wörtlich. Wut lässt dich Fehler begehen.«
»Wut lässt dich überleben!«
»Das war nur eine Illusion?«, fragte ich und versuchte meine Gedanken zu sortieren, indem ich die Stimme in meinem Kopf verdrängte.
»Ja. Und dank deiner blinden Wut hast du nicht gemerkt, dass ich eine Illusion erschaffen habe und mein Spiegelbild nicht geblutet hat. Ein echter Beschwörer hätte dich von hinten ermordet.«
Ich schluckte schwer und bemerkte, wie Jude mich ein weiteres Mal fest
drückte. Dann schob er mich ein Stück von sich fort und schaute mich an.
»Was ist es wirklich, das dich so wütend macht?«
»Meine Hilflosigkeit«, antworte ich leise.
»Unsinn! Verhalt dich nicht wie ein Baby und antworte ehrlich.«
Und das waren die schlimmsten Worte, die er hätte sagen können. Jude hielt mich ebenso für ein wehrloses Kind. Wie so oft, seitdem ich von dem Dolch verletzt wurde, bemerkte ich die Hitze, die in meinen Adern aufflammte. Ein beängstigendes Lied trällerte in den Tiefen meines Unterbewusstseins, fast als würde eine Lerche den Morgen eines Krieges verkünden. Dunkle Krallen bohrten sich in mein Denken, durchspülten es mit Zorn. Wie ein Tier warf sich dieses Gefühl gegen die eisernen Ketten, tobte und schrie.
»Baby?«, zischte ich, während es in meinen Ohren rauschte.
»Genau diese Wut meine ich«, sagte Jude mit einem Lächeln. »Was kümmert es dich, wenn die Leute dich für ein Kind halten? Scheiß doch einfach drauf. Dann verhältst du dich halt manchmal kindisch. Arbeite an dir, anstatt um dich zu schlagen.«
»Du hast mich mit Absicht gereizt?«
»Vielleicht ein bisschen? Aber hey, ich hatte noch nie einen echten Freund und ich mag nicht mit ansehen, wie du dich fertig machst.« Ein liebevolles Lächeln saß auf seinen Lippen und zu meiner Überraschung verpuffte alle Wut.
Ich verstand so gut, wie es ihm erging. Mein Leben lang war ich allein gewesen. Freunde zu haben, war neu für mich. Und das war Jude, richtig? Ein Freund. Wie erwartete ich, dass ich mich von jetzt auf gleich änderte? Wie erwartete Wayland das?
»Übrigens, Wayland fühlt sich schrecklich, dass er einfach gegangen ist«, sagte Jude, der offenbar schon längst den wahren Grund meiner schlechten Laune kannte.
»Ich wollte es doch so«, antwortete ich leise.
»Und genau deswegen macht er sich Vorwürfe.«
»Weswegen?«
»Weil er einfach aufgegeben hat, anstatt für dich da zu sein.«
»Er ist mir nichts schuldig«, presste ich heiser hervor.
»Ihr drei seid der Wahnsinn. Ich fasse es nicht!« Jude schüttelte laut lachend den Kopf.
»Wer?«
»Der Weihnachtsmann und seine Wichtel.« Nach einer kurzen Pause setzte er fort: »Wayland, Benoît und du.« Während er mit der Hand durch sein Haar fuhr, verdrehte er die Augen. »Keiner von euch checkt, wenn jemand auf euch steht.«
»Keiner von uns beiden steht auf Benoît.«
Jude schnaufte, zog eine Augenbraue in die Höhe und schaute mich fragend an.
»Ist das dein Ernst?«
»Oh! Du?«
»Wie hast du das so schnell erraten? Deine Spürnase ist einmalig, mal über eine Karriere bei der MIA nachgedacht? Natürlich ich, du Trottel!«, brach es aus ihm hervor.
»Wieso sagst du es ihm nicht einfach?«
»Gegenfrage: Wieso reden Wayland und du nicht einfach darüber?«
»Das ist kompliziert.«
»Komplizierter als sich mit vierundzwanzig Jahren in einen fast viertausend Jahre alten Vampir zu verknallen? Als Jungfrau. Weil du in einem Haus zu deinem eigenen Schutz eingesperrt aufgewachsen bist und du eines Tages realisiert hast, dass eine der wenigen Personen, die du kennst, jede Nacht nackt in deinen Träumen herumtanzt? Obwohl er eigentlich wie dein Bruder sein sollte? In etwa so kompliziert? Falls nicht, dann rede mit ihm!« Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich sachte. »Entschuldige dich und klärt das. So leidet ihr beide. Und ich? Ich gehe nun duschen. An Benoît zu denken hat mich geil gemacht.«
»Was zur Hölle? Du brauchst echt einen Filter, Jude.«
Lachend verließ er den Raum und zeigte mir über die Schulter den Mittelfinger. »Nicht zu fassen. Alle in diesem Haus sind älter als ich und ich bin die einzig reife Person hier«, murmelte er auf dem Flur und lachte erneut. Obwohl wir uns erst kurz kannten, hatte ich ihn schnell in mein Herz geschlossen. Und das war ein gutes Zeichen, dass ich mich anfing zu öffnen, anstatt immer allein zu kämpfen. Ich hatte Freunde, mehr noch: Sie waren zu meiner Familie geworden.
Ich saß in meinem Zimmer und spielte mit der Taschenuhr. Sie fühlte sich kalt in meinen Fingern an. Es umspielte mich keinerlei Wärme, wie sie es tat, wenn Wayland die Uhr besaß. Vorsichtig ließ ich sie ein weiteres Mal durch die Finger gleiten, stand auf und steckte sie in meine Tasche.
Komm schon. So schwer ist das nicht. Du gehst zu Wayland, sagst, du bist ein Idiot und dann
…
Ja, keine Ahnung. Entschuldigungen sind doch kacke.
Mit einem lauten Seufzen legte ich meine Stirn an die Scheibe des Fensters hinaus zum Mississippi. Gleichmäßig floss das Wasser den Fluss hinab und ich hoffte, dadurch meine Nerven zu beruhigen. In diesem
Moment beschloss ich, dass ich einfach nichts Dummes mehr tun würde. Denn wer nichts Dummes tat, der musste sich schließlich nicht entschuldigen und darin war ich, mehr als offensichtlich, die totale Niete.
Ein Geräusch an der Tür ließ mich in die Luft springen und ich knallte meinen Kopf gegen die Scheibe. Immerhin hatte ich es ein paar Sekunden geschafft, nichts Dummes mehr zu machen. Yay, Grayson! Mit einem Kopfschütteln drehte ich mich zur Tür. »Herein!«
Ein Kratzen an dem Holz, gefolgt von einem kehligen Schnaufen, ließ mich die Luft anhalten. Ich streckte meine Gedanken nach der Kälte des Geisterreichs aus, als die Tür aufpolterte und Wayland in Form des Tigers der Schnauze nach in den Raum fiel. Mit einem dumpfen Geräusch krachte er auf den Boden. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass die Tür nach Innen aufging und ein gut dreihundert Kilo schwerer Tiger plus Schwerkraft diese unsanft öffnen würde. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, selbst wenn ich mir sicher war, dass meine zuckenden Mundwinkel mich verrieten.
Wayland rappelte sich auf, schüttelte den Kopf und leckte sich über eine Pfote. Kurz danach legte er sie über seine Augen, während er vorsichtig unter ihr hervor schielte. Bei diesem Anblick stockte mir der Atem. War eine Katze nach einer Bruchlandung schon süß anzuschauen, hatte sie keine Chance gegen einen ausgewachsen fast drei Meter großen Tiger, der beschämt maunzte und schüchtern versuchte, sich hinter seiner Pfote zu verstecken.
»Hey Dumbo«, sagte ich leise.
Er maunzte und nahm zögerlich die Pfote vom Gesicht. Sein weiß-oranges Fell glänzte im Licht der Leuchtkristalle. Stechend grüne Augen starrten mich an. Ich setzte mich auf mein Bett und schaute auf die Stelle neben mir. Geschmeidig kam der Tiger zu mir hinüber, sprang aufs Bett und legte seine Stirn an meine Schulter.
»Ich … Also … Es tut mir leid«, presste ich hervor. Mein Atem ließ ein paar der weißen Ohrhaare wackeln. Wie eine Katze zuckte Wayland daraufhin mit dem Ohr und ich lächelte. Ein warmes Schaudern durchfuhr meinen Körper. »Ich hätte dich nicht anschreien sollen. Das war einfach nur dumm und kindisch. Dabei wollte ich dir doch beweisen, dass ich nicht das Kind bin, wie du und Ash denken.«
Wayland löste seinen Kopf von meiner Schulter und schaute mir in die Augen. Sein Fell an der Stirn kräuselte sich.
»Ich habe euch gehört. Eigentlich habe ich alles gehört, als ich versteinert war«, gab ich leise zu.
Die Augen des Tigers weiteten sich und er maunzte. Ruckartig sprang er vom Bett und lief im Kreis. Das Maunzen wurde lauter und sein Fell schien zu vibrieren. Kurz darauf setzte er mit eingezogenem Schwanz zur Tür zum
Gehen an.
So viel zu: Ehrlichkeit und offen sprechen macht sich bezahlt. Danke, Jude.
»Bitte geh nicht, es tut mir leid«, sagte ich und meine Stimme hatte einen flehenden Unterton.
Er erstarrte auf der Stelle. Sein Körper zitterte. Langsam drehte er sich zu mir und ich sah, dass sein Fell um die Augen feucht war. Eine gefühlte Ewigkeit schauten wir uns an.
Oh Mist, er ist sauer auf sich selbst – nicht mich.
»Du bist gar nicht sauer, dass ich euch gehört habe, oder?«
Er schüttelte bedächtig den Kopf und kam zu mir herüber. Schnurrend legte er die Stirn an meine. Eine Träne formte sich am Rand seines Auges, lief über seine Nase und er kräuselte sie. Ich lachte leise auf, denn es war schwer vorstellbar, dass dieses Tier Wayland war. Er löste seine Stirn von mir und rieb den Kopf an meine Wange.
»Ja, mir tut es auch leid«, sagte ich, während ich ihn hinter den Ohren kraulte. »Jedenfalls glaube ich, dass es das ist, was du mir sagen willst.« Ich spürte das Nicken an meiner Wange. »Es wäre leichter gewesen, dieses Gespräch in Menschenform zu führen, weißt du?« Abrupt stoppten seine Bewegungen, gefolgt von einem leisen Maunzen. Ich nahm seinen Kopf in meine Hand und schaute ihn an. »Du bist hergekommen, um dich zu entschuldigen?« Er nickte zaghaft. »Und hast dich nicht getraut, als Mensch zu kommen?« Ein erneutes Nicken, in dem Nachdruck steckte. »Der große Tiger hatte Angst?«, fragte ich mit einem verspielten Grinsen. Er schaute mich an und flüchtig, wie Fußspuren am Strand, bevor das Wasser sie davon spülte, funkelten seine Augen. Er sprang vom Bett, lief zur Mitte des Raums und stellte sich wackelig auf die Hinterbeine. Dann brüllte er.
»Wenn du dir jetzt noch wie ein richtiger Macho auf die Brust schlägst, ist das zu viel Testosteron für einen Abend«, sagte ich grinsend. Als er versuchte, genau das mit seinen Vorderpfoten zu tun, fiel er mit einem dröhnenden Krachen auf sein Gesicht. Gegen meinen Schreibtisch, der unter seinem Gewicht zerbrach.
Ein Lachen, so laut und ehrlich, dass ich mich kaum erinnern konnte, wann ich es das letzte Mal gehört hatte, brach aus mir hervor. Mein Bauch schmerzte und Tränen liefen mir die Wange hinab. Immer noch benommen torkelte er zu mir, um mich mit dem Kopf anzustupsen. Ich lachte nur lauter. Schnaufend stupste er ein weiteres Mal und ich verschluckte mich, konnte aber trotz des einsetzenden Schluckaufs nicht aufhören zu lachen. Beinah dachte ich, ich würde ersticken, da fuhr er mir mit der Zunge durchs Gesicht. Für einen kurzen Moment hielt ich inne, so überfahren wie ich war, johlte dann aber erneut los.
»Es … Tut … Mir … Leid«, presste ich nach Luft ringend hervor. Er sprang
zu mir aufs Bett, warf mich um und rieb sich an mir, während er mit seinen Pfoten in meine Seiten stupste. Wir balgten und rangen eine Ewigkeit, bis wir beide außer Atem waren.
Ich legte mich auf den Rücken, was Wayland dazu nutzte, seine Schnauze auf meiner Brust zu platzieren. Geistesabwesend kraulte ich seine Ohren.
»Vielleicht müssen wir einfach zusammen kindisch sein und auch zusammen erwachsen«, murmelte ich vor mir hin. Wayland maunzte und ich bemerkte, dass ich es laut ausgesprochen hatte. Bevor ich etwas zu dem peinlichen Geständnis sagen konnte, legte er eine Pfote auf meine Hand und nickte. Diese Geste trieb mir die Tränen in die Augen.
»Ich weiß, dass ich nur schwer Menschen ehrlich an mich heranlasse und sobald ich Emotionen zeige, die nicht Wut sind, sie direkt mit einem blöden Witz überspiele. Aber ich versuche, mich zu öffnen. Hab etwas Geduld mit mir, okay?«, fragte ich mit heiserer Stimme. Als Antwort stupste er mir gegen mein Kinn und legte den Kopf wieder auf meine Brust.
»Willst du dich nicht langsam zurück wandeln?«
Er schüttelte träge den Kopf, die Lider geschlossen.
»Wirklich?«
Er öffnete ein Auge, schaute aus dem Augenwinkel zu mir und nickte. Ich glaubte sogar, ein Grinsen zu sehen, wenn Tiger denn grinsen konnten.
»Wer ist nun kindisch?«
Er legte seine Pfote über sein Gesicht und seufzte theatralisch. Und mit dieser simplen Geste wurde mir spätestens bewusst, dass wir beide keine Chance hatten, langfristig gegen unsere Gefühle anzukämpfen.
Wir lagen bis spät in die Nacht schweigend auf meinem Bett. Keine Stille der bedrückenden Art, viel mehr eine der Geborgenheit. Ich kraulte seinen Kopf, während er schnurrte und irgendwann einschlief. Seitdem ich aus dem Stein befreit worden war, hatte ich diese unterschwellige Wut in mir gehabt. Doch hier, in diesem Augenblick, schwieg die Stimme und ich hatte fast das Gefühl, sie sogar zufrieden pfeifen zu hören.