Kapitel 21
Dating für Anfänger
Wayland
Mentale Notiz:
Wirf keine Gegenstände beim ersten Date. Und hör nie wieder auf Benoît!
G
enervt stand Wayland vor dem Fenster in seinem Zimmer im Heim der Familie Moreau. Während sein Blick über den Mississippi schweifte, wanderten seine Gedanken zu dem Abend in der Area 51. Die letzten drei Nächte sah er die Kammer in den Träumen. Der Moment, in dem er die Namen lesen konnte, schoss ihm wieder durch den Kopf, als wäre es gerade erst passiert. Selbst die gestrige Aussprache mit Grayson hatte ihn nur kurzzeitig davon ablenken können. Er spürte immer noch, wie sein Puls raste und ihm die Luft wegblieb, in dem Moment, als er die Namen auf den Tafeln gelesen hatte. So sehr er versuchte sich einzureden, dass es nicht wahr sein konnte, wusste er, dass es doch so war. Dort, tief unter der Area 51, schliefen seit tausenden Jahre die Sieben Todsünden. Und Waylands Familie bewachte seit Generationen den einzigen Schlüssel zu ihnen
–
den Dolch, der nun im Besitz von … Ja, wem war? Offensichtlich gab es zwei Dolche, obwohl es nur einen geben sollte. Sowohl der Jäger der Kinder Evas
besaß einen, als auch das Kollektiv.
Wunderbar, eine weitere Frage, deren Antwort wir nicht kennen!
Wenigstens wussten sie nun, wen oder was Grayson weggesperrt hatte, und wen sowohl das Kollektiv, als auch die Kinder Evas befreien wollten. Nachdem er von der Area 51 zurückgekehrt war, hatte er allen von seiner Entdeckung berichtet. Benoît und Zola waren nicht erstaunt, da sie es als Geheimnishüter ohnehin Jahrhunderte lang wussten. Grayson hatte an dem Treffen nicht teilgenommen, da er sich bis zum gestrigen Tag weggeschlossen hatte.
Waylands restliches Team hingegen war geschockt und stellte andauernd neue Theorien auf. Darüber, dass es vielleicht nur eine Metapher war, es vermutlich andere Wesen mit gleichen Namen waren oder Wayland sich schlicht irrte. Irgendwann ebbten die Theorien ab und jeder von ihnen akzeptierte die unvermeidliche Wahrheit. Sie befanden sich im Wettlauf um Wesen, von denen sie Zeit ihres Lebens geglaubt hatten, dass sie nur erfundene Geschichten waren. Was sie jedoch ausrichten sollten, wusste keiner von ihnen.
Die Kinder Evas hatten weiterhin nichts unternommen, dem man hätte nachgehen können. Wayland vermutetet, dass sie nach dem missglückten Hinterhalt und der Befragung des Werwolfs durch Benoît, erst einmal die Füße still hielten. In Anbetracht mangelnder Spuren war dies überaus frustrierend. Es schien fast so, als gäbe es sie gar nicht. Hatten Wayland und sein Team zuerst gedacht, es sei lediglich ein Serienmörder und danach ein unorganisierter Haufen Rebellen, wussten sie jetzt, dass es sich hierbei um eine strukturierte Gruppe mit einem Plan handelte. Als wäre das nicht genug, hatten sie mit dem Kollektiv einen weiteren Gegner. Wollten auch sie lediglich an die Sieben Todsünden gelangen oder waren ihre Motive anderer Natur?
Die ganze Situation wurde ständig undurchsichtiger und es raubte ihm den letzten Nerv zu wissen, dass sie viele der Zusammenhänge noch gar nicht erfasst hatten. Zu allem Überfluss stand Wayland vor einem Besuch, den er beinahe so sehr fürchtete, wie die Gefahr, in der Grayson schwebte. Um zu verstehen, was es mit dem Erbe des Wächters auf sich hatte, musste er nach New York reisen. Zu dem Teil seiner Familie, seiner Vergangenheit und all dem Schmerz, den er weit hinter sich gelassen hatte.
Und vielleicht fand er dort auch eine Antwort, wieso in der Kammer lediglich die Rede von einem Dolch und nicht von zweien war. Immerhin
besaß nicht nur das Kollektiv einen, sondern auch der Jäger der Kinder Evas. Jedenfalls berichtete das Grayson, nachdem er den Mord am Riesenrad als Echo erlebt hatte.
Mit einem schweren Seufzen erhob er sich von dem Bett, trat vor den Spiegel und versuchte zum dritten Mal seine Haare perfekt zu ordnen.
Ja, red dir nur ein, dass du wegen der Gefahr und deiner Familie gerade jetzt so aufgeregt bist. Und nicht weil du gleich dein erstes offizielles Date mit Grayson hast. Verdammt!
Am frühen Abend schaute Wayland verlegen aus den Augenwinkeln zu Grayson, als sie die Orlean Street in Richtung Bourbon Street schlenderten. Die Augen seines Partners huschten über die Fassaden der Gebäude und strahlten vor Freude. Es war der erste Tag, an dem er seit seiner Befreiung aus dem Stein und dem sich selbst auferlegten Hausarrest, New Orleans erkunden konnte. Darüber hinaus war es ihr erstes offizielles Date
–
was der Grund war, weswegen Wayland sich fühlte, als wäre er wieder fünfzehn Jahre alt. Der innere Tiger hockte mit eingezogenem Schwanz da, schaute sein menschliches Ich mit einem »Verkack es nicht«
–
Blick an und harrte gespannt der Dinge, die kommen würden.
Wunderbar, überhaupt kein Druck.
»Haben wir einen Plan oder bummeln wir einfach ein bisschen durch die Stadt?«, fragte Grayson. Seine Augen verweilten auf einem der bunten Gebäude mit den für die Südstaaten typischen Balkonen. In der Ladenfront bot der Händler allerlei Waren für Voodoo an. Das meiste davon nur für Touristen und fernab echter Zutaten. Innereien und Opfergaben stellten selbst in einer Welt voller Schattenwesen nicht die besten Blickfänger dar. Immerhin hatten sie hunderte von Jahren getarnt als, sowie unter Menschen gelebt und viele der Charakteristika dieser angenommen. Die Vorstellung von unzivilisierten Monstern war eine aus Büchern und Filmen vergangener Jahrzehnte und fernab jeglicher Realität. Durchtränkt von Vorurteilen der Menschen, wenn es zu Sachen kam, die ihnen fremd waren.
Zola war ein perfektes Beispiel dafür. Gleichermaßen Benoît. Während
Mademoiselle Moreau vermutlich das fürsorglichste Wesen mit dem Streben nach einem gerechten Frieden war, welches Wayland je kennengelernt hatte, besaß Benoît ebenso deutlich die arrogante und blutrünstige Seite
–
unter all dem elitären, höflichen Gehabe. Nichtsdestotrotz, oder gerade deswegen, verehrten die menschlichen Bewohner die Familie Moreau, die sich den Schutz New Orleans‘ und seiner Einwohner als oberste Aufgabe gesetzt hatten.
Die Lebensfreude, die in dieser Stadt aus den Gesichtern, Bars und fast schon jedem einzelnen Stein erstrahlte, war deutlich zu verspüren. So sehr Wayland Chicago liebte
–
die Natur, die hohen Gebäude und den stetigen Wind in den Häuserschluchten
–
fragte er sich dennoch, ob er nicht ein Teil von New Orleans werden wollte. Am liebsten mit Grayson. Ohne Gefahren, MIA oder tägliche Sorgen. Vielleicht sollte er nach dem Auftrag mit den Kindern Evas und dem Kollektiv einen Jobwechsel in Betracht ziehen.
Grinsend schüttelte er den Kopf.
»Was denn?«, fragte Grayson. »War das wieder eine dumme Frage?« Sein Gesicht wurde von einem Schatten verdunkelt und Wayland verspürte einen Schlag in die Magengrube. Das war seine Schuld. Hätte Grayson nicht gehört, dass er ihn für unreif hielt, würde er nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
»Nein, gar nicht. Ich hatte gerade nur gedacht, dass ich mir vorstellen könnte hier zu leben. Ohne Agentendasein…« Wayland schluckte. »Nur mit dir und einfach schauen, was sich da entwickelt«, fügte er leise hinzu. Sein Puls beschleunigte sich
–
hatte er soeben doch zum ersten Mal ausgesprochen, dass er nicht mehr gegen die Gefühle ankämpfte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die Grayson gedankenversunken schaute, lächelte er. »Das würde mir gefallen. Keine Verrückten, die mich opfern wollen, keine Suche nach meinem ersten Ich und einfach leben. Ich könnte herausfinden, wer ich sein will und nicht wer ich war. Schöner Traum.«
Und das war es in der Tat: Ein Traum.
Jedenfalls bis alle Gefahren beseitigt waren.
Und dafür brauchten sie Spuren. Die sie nun einmal nicht hatten.
Wayland knurrte frustriert. »Vielleicht fangen wir mit dem Teil an, dass wir schauen, wohin es mit uns geht und löschen nebenbei die Arschlöcher aus?«
»Ich mag deine Art zu denken, Agent Bishop«, antwortete Grayson mit einem Lachen. Flatterte bei dem Geräusch etwa eine ganze Armee von
Schmetterlingen in Waylands Bauch?
Verdammt! Du bist über dreißig, benimm dich nicht wie ein Teenie!
Und doch grinste er dämlich vor sich hin, während sein Tiger zufrieden schnurrte.
»Unser Tisch wartet«, sagte Wayland. Wärme kroch durch seine Adern. Er hoffte, dass Grayson das Restaurant mögen würde.
»Tisch?«
»Ich hab da etwas für uns reserviert.« Verlegen räusperte sich Wayland. Diese ganze Dating-Sache war so weit außerhalb seiner Wohlfühlzone, dass er sich vorkam wie ein Amateur. Waffen, Verbrecher, Mörder
–
all das war überhaupt kein Problem. Aber ein Date? Mit Grayson? Oh Mann. »Ich hoffe, es gefällt dir.«
»Sicher wird es das.« Grayson strahlte über das gesamte Gesicht und Waylands Puls verdoppelte das Tempo.
»45 Dollar für ein Gericht, von dem ich die Hälfte der Zutaten nicht kenne? Was zur Hölle, Dumbo?« Wild blinzelnd schaute Grayson zwischen der Speisekarte und Wayland auf und ab.
Wieso dachte ich auch, dass es ein schlauer Plan war, Benoît nach einem romantischen Restaurant zu fragen?
»Kaninchen aus Louisiana in Apfelwein und Brandy geschmort auf Pekannussholz mit geräuchertem Speck aus Baton Rouge, geröstete Schalotten, Shiitake-Pilze eingelegt in Blut
–
Vampir, Mensch oder Werwolf
–
alternativ in Rotebeetesaft für Nicht-Bluttrinker und dazu ein Potpourri aus frischem Saisongemüse«, las Grayson vor und seine Augen weiteten sich bei jedem Wort.
Richtig, ich erinnere mich. Der Idiot Jude hatte Schlagsahne und Schokosoße auf meinem nackten Körper vorgeschlagen, die Grayson naschen könnte – deswegen, und nur deswegen, hab ich auf Benoît gehört. Gut gemacht, Bishop – erstes Date direkt eine Bruchlandung.
Schokosoße in den Haaren klang in diesem Moment deutlich verlockender als Graysons aufgeregter Schluckauf und die Verwirrung in den Augen. Mist!
Unauffällig berührte Wayland die Kommunikationskette und hoffe inständig, Ash würde antworten. Nach nur wenigen Augenblicken hörte er die Stimme seines Freundes im Kopf.
»Way, was gibt es?«
Toller Plan, wie sage ich Ash, dass ich Hilfe brauche, ohne dass Grayson es hört? Bishop, du bist eine Vollkatastrophe!
»So … Also … Erstes Date, hä?«, stammelte Wayland, auf dass Ash es hören würde. Leider ebenso Grayson, der ihn mit erhobener Augenbraue musterte.
Super Plan!
»Ähm … Ja«, antwortete er und die Röte auf Graysons Wangen stellte merkwürdige Dinge mit Waylands Magen an.
Ein schallendes Lachen erklang in Waylands Kopf. Ash, der Sack, hatte die Lage offenbar ziemlich genau erfasst.
»Du bist echt am Arsch, Kumpel, wenn du gerade mich wegen eines Date-Tipps anrufst!«
, antwortete Ash prustend.
Wayland senkte den Kopf und versteckte die geflüsterten Worte »Teuerstes Restaurant. Scheiß Tipp. Hilfe!« in einem Husten.
Daraufhin lachte Ash nur lauter und Grayson schaute aus besorgten Augen zu Wayland.
»Geht es dir gut, Dumbo?«
»Ja, klar. Alles bestens. Kein Problem. Alles gut. Trockener Hals. Alles gut.«
Sag lieber nochmal, dass alles gut ist, vielleicht hat er es ja noch nicht verstanden, Trottel!
Der Tiger lief wild im Kreis und maunzte panisch, was keine große Hilfe war. Wayland hätte schon an der vergoldeten Flügeltür, dem Butler im Smoking und den teuren Stoffen, die alle Tische zierten, erkennen müssen, dass es in diesem Chaos enden würde.
»Ihr seid bei Monsieur B«
, sagte Ash, der sie offenbar via Magie geortet hatte.
»Bestellt die Spezialität des Hauses. Das beste Garnelengericht in New Orleans und danach macht ihr einen Spaziergang am Mississippi. Ach, und Way? Du bist ein Vollidiot!«
»Wir sollen die Garnelen bestellen«, platze Wayland heraus.
»Sagt wer?«, fragte Grayson sichtlich verwirrt.
»Ähm … Ich?«
»Du sagtest
sollen
nicht
sollten
«, antworte Grayson bedacht langsam und
sein Blick wanderte zu Waylands Kette, die er mit schwitzenden Händen fest umklammert hielt.
Wieso entdeckt er genau jetzt seinen Agentenspürsinn?
Bevor Wayland wusste, was seine Hand anstellte, schnappte er sich eine der Oliven, die als Entrée auf dem Tisch standen und warf sie Grayson ins Gesicht. Mit einem leisen
Plopp
prallte sie von dessen Nase ab und landete spritzend in dem Wasserglas vor ihm.
»Hast du … Du hast nicht … Wirklich? Eine Olive? In mein Gesicht? Echt jetzt?«, stammelte Grayson mit offenem Mund.
»Oh Scheiße, Way!«
, presste Ash zwischen dröhnendem Lachen hervor.
»Viel Glück, ich lege auf. Das ist kaum zu ertragen. Ein Tipp noch: Wirf ihm keinen Shrimp ins Gesicht.«
Grayson schaute weiter fassungslos zu Wayland hinüber, schüttelte dann langsam den Kopf und seine Mundwinkel hoben sich verschwörerisch. Nahezu unauffällig wanderte seine Hand Zentimeter für Zentimeter zu dem Schälchen mit Oliven, während er versuchte unschuldig dreinzuschauen. Bevor seine Hand sich eines der glitschigen Geschosse schnappen konnte, legte Wayland seine Hand auf Graysons und beide erstarrten. Wärme kroch seinen Arm empor, legte sich über seinen Nacken und explodierte in Waylands Gesicht. Gefangen in den grünen Augen seines Partners schluckte er schwer. Auch Graysons Adamsapfel bewegte sich behäbig auf und ab. Fast in Zeitlupe verschränkte Wayland die Finger mit denen von Grayson und wurde mit einem Lächeln belohnt, das ihm im Stehen die Beine weggezogen hätte. Mehrere Minuten schauten sie sich an, während Waylands Daumen über den Handrücken seines Partners streichelte.
»Wen hast du angerufen?«, fragte Grayson heiser.
»Ash.« Selten hatte Wayland so kleinlaut geantwortet, wie in diesem Moment.
»Und sein Tipp zum ersten Date war, mir etwas ins Gesicht zu werfen?«
»Nein, das war meine Panik alles zu vermasseln.« Wayland rollte mit den Augen und grinste über sich selbst.
»Kenne ich. Erinnerst du dich an den Center Shock, den ich dir ins Gesicht geworfen habe? Wobei ich betonen möchte, dass ich in deinen Mund getroffen hätte und nicht gegen die Nase, wie ein Amateur.«
Beide lachten aus voller Kehle bei dieser Erinnerung und eine in ein teures Designerkleid gehüllte Werwölfin am Nachbartisch schaute pikiert
zu ihnen herüber. Gefolgt von einem »Unerhört!«
»Was hältst du davon, wenn wir Pizza und Eis besorgen und dann mit Jude und Benoît einen Mario-Kart-Wettkampf-Abend veranstalten?«, fragte Grayson. »Wir können Maple und Adalain auch dazu schalten.«
Mit einem Lächeln nickte Wayland. »Die machen wir fertig!«
»Abgemacht, dann lass uns hier verschwinden.« Grayson ließ Waylands Hand nicht los, als er aufstand, warf daraufhin ein paar Dollarscheine auf den Tisch und zog Wayland lachend aus dem Restaurant.
Am nächsten Abend dröhnte der Lärm des Helikopters in Waylands Ohren, während sein Blick auf Adalain weilte. Ihre Gesichtszüge verrieten, wie gewöhnlich, nichts über ihr Innenleben. Dennoch wirkte sie angespannter als sonst. »Willst du drüber reden?«, fragte er gegen das Scheppern der Rotoren.
»Weil ich ja allseits bekannt dafür bin über meine Gefühle zu reden?« Sie rollte mit den Augen, aber ihre Mundwinkel wanderten flüchtig in die Höhe. »Erzähl mir nicht, dass du nichts über meine Vergangenheit weißt.«
»Ist alles klassifiziert und nur Mom hat Zugriff auf deine Akte«, antwortete er ihr ausweichend. Er konnte ihr schlecht sagen, dass er inoffiziell die Akte hatte lesen dürfen.
»Verarsch mich nicht, Way!« Adalain verengte die Augen zu Schlitzen. Obwohl er wusste, dass sie ihm nichts antun würde, war dieser Anblick angsteinflößend. Es waren die Augen einer Killerin. Kalt, berechnend und unnachgiebig. »Du bist Teamleiter und deine Mutter Direktorin. Außerdem bist du hartnäckig. Natürlich hast du meine Akte gelesen.« Er wollte ihr antworten, aber sie weitete die Augen, um ihm zu signalisieren, dass sie nicht fertig gesprochen hatte. Also hörte er zu. »Und alleine deswegen solltest du wissen, dass ich erkenne, wenn Leute lügen. Dein Puls ist minimal schneller, dein Herzschlag demnach nicht mehr gleichmäßig, dein Geruch hat sich verändert und deine Pupillen sind einen Hauch kleiner. Mal davon abgesehen, dass dein Gesicht und die Sorge darin allein schon Bände spricht.« Sie rollte erneut mit den Augen.
Wayland biss sich auf die Unterlippe. Zum einen vor Erstaunen, zum
anderen, um nicht zu lachen, wie zielsicher sie ihn durchschaute.
Adalain schüttelte mit einem dunklen Lachen den Kopf. »Ich hab mehr als tausend Wesen getötet. Manchmal habe ich mich über Wochen in deren Organisationen, Familien oder Freundeskreise eingeschlichen. Leute zu durchschauen ist, was ich tue
–
bevor ich sie hintergehe und ihr Leben beende.«
Obwohl die Rotoren des Helikopters weiterhin schepperten, herrschte Stille zwischen den beiden Agenten. So sehr Wayland versuchte etwas zu antworten, wollte kein Wort über seine Lippen kommen. Er vermochte es sich nicht vorzustellen, wie Adalains Leben vor ihrer Karriere bei der MIA gewesen sein musste. Ständig vorzugeben, man wäre jemand anderes. Hunderte Identitäten und keine die eigene.
»Bereitmachen zum Abspringen«, durchbrach der MIA-Pilot seine Gedanken. »Drop Off in sechzig.«
Ein müdes Lächeln auf den Lippen erhob sich Adalain und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, bevor sie beide Fallschirme erneut überprüfte und Wayland einen reichte. Wortlos befestigte er die Gurte und nickte ihr zu.
»Drop Off in fünfzehn«, dröhnte die Stimme des Piloten durch die Kommunikation, ehe sich die Seitentür öffnete. Wind peitschte durch den engen Innenraum.
»Drop Off in 3… 2… 1… Go!«
Grüne Funken wirbelten von Waylands Körper in die Dunkelheit davon. Der Zauber, den Jude in die Fallschirme gewoben hatte, war am Boden nicht mehr nötig. Er hatte Adalains und Waylands Anflug auf den Central Park getarnt und jegliche Überwachungsmagie umgegangen. Aber selbst mit dieser Maßnahme wusste Wayland, dass Grayson zu Recht besorgt gewesen war. Sah New York aus ein paar hundert Metern Höhe, in Sicherheit des Tarnzaubers, beinahe schon friedlich aus, änderte sich dieses Bild mit jedem Meter, den man sich dem Boden näherte. Brennende Fahrzeuge, von Zaubern und Bomben zerstörte Gebäude, sowie wie vereinzelte Rufe, Schreie und Schüsse, zeigten unmittelbar, dass jener
Frieden eine Illusion war. New York war Kriegsgebiet.
Mit ‚Himmelfahrtskommando‘ hatte Grayson vermutlich gar nicht so unrecht. »Starr nicht nur dumm in die Nacht«, mahnte Adalain. Ihre Augen huschten auf den Kiesweg, der vor dem Busch entlang verlief, in dessen Nähe sie hockten. »Nimm den Fallschirm ab und folg mir.«
Überrascht über die Härte ihrer Stimme schaute Wayland zu der Spinnenwandlerin. Er wollte sie just in diesem Moment daran erinnern, wer den höheren Dienstgrad hatte, da kniff sie die Augen zusammen.
»Wenn du sterben möchtest, bleib halt dämlich in die Nacht starrend hier. Doch so du New York überleben willst, hörst du auf mich!«
Wayland schluckte schwer und nickte ihr knapp zu. Bevor er aber den Fallschirm abnehmen konnte, zog Adalain ihn hinter den Busch in Deckung. Seine Nasenflügel weiteten sich, nur um den Geruch von Schattenwesen aufzunehmen. Zwei Hexen, ein Vampir und ein Werwolf. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er in der Tat unkonzentriert gewesen war. Im Gegensatz zu Adalain hatte er die vier viel zu spät gewittert. Kurz schloss er die Augen, atmete flach ein, öffnete sie wieder und ließ den Atem entweichen. Wenn er New York ohne Verletzungen verlassen wollte, war es Zeit für das Einsatz-Mindset. Leichter gesagt als getan, wenn sich Grayson immer wieder in seine Gedanken schlich.
Aus der Deckung konnte er sehen, wie der Werwolf, dessen weißes Fell in dem fahlen Mondlicht schimmerte, an ihnen vorbeihechtete. Ob gefärbt oder natürlich, war in diesem kurzen Moment, kaum auszumachen. Dennoch war Wayland bewusst, dass er dem berüchtigten Rudel der Silbermähnen angehörte, die weite Teile von New Yorks Süden kontrollierten.
Nur wenige Augenblicke später rannten der Vampir und die beiden Hexen an ihrer Deckung vorbei. Eine der beiden Frauen murmelte magische Worte und warf unmittelbar danach einen Feuerball in die Nacht. Der Geruch von den Brandwunden, die Zauber bei Hexen hinterließen, wehte zu Wayland hinüber. Ein markerschütterndes Heulen aus der Richtung des Werwolfs durchstieß den Park. Offenbar hatte die Hexe getroffen, dennoch drosselten die drei Verfolger ihr Tempo nicht.
»Seit wann
–
«, bevor er weitersprechen konnte, schoss Adalains Hand vor seinen Mund und sie schaute ihn finster an. Sie hob ihre andere Hand als Faust in die Luft, was das Handzeichen für
Ruhe und Position halten
war. Wayland drückte ihre Hand von seinem Mund, dann nickte er knapp.
Nach gut zwei Minuten boxte Adalain gegen seine Schulter. »Konzentrier dich gefälligst. Wenn nicht für dich, wenigstens für mich. Sollte ich nämlich mit einem verletzten Tiger zurückkehren, höre ich das Ende von Graysons Gemecker nie!«
»Verstanden. Konzentrieren, nicht sterben, Grayson keinen Grund zum Meckern geben«, antworte Wayland mit einem Zwinkern.
»Unfassbar, der Idiot färbt echt auf dich ab!«
»Seit wann arbeiten Hexen und Vampire zusammen?«, fragte Wayland nun mit fester Stimme. Immerhin hatte sie recht
–
es war nicht der richtige Ort, um unkonzentriert zu sein.
»Wenn du in New York keinen Clan oder Rudel hast, dann verkaufst du für weit weniger als ein Bündnis mit dem Feind deine Seele. Hauptsache du bist nicht allein.«
»Verstehe. Wir sollten aufbrechen.«
Geschmeidig erhob sich Adalain und Wayland stellte erstaunt fest, dass er nicht bemerkt hatte, wann sie ihren Fallschirm losgeworden war. Mit ein paar Handgriffen entledigte er sich seines und stand aufrecht neben ihr.
»Nähe Times Square sagtest du?«, fragte er sie und sah nach Süden.
»Korrekt.« Nachdenklich folgte sie seinem Blick. »Ohne Komplikationen, was in New York eine ziemliche Seltenheit ist, sollten wir nicht länger als fünfzehn Minuten brauchen.«
»Dann los!«
Vierzig Minuten später standen sie, ihre Kleidung feucht von Vampir- und Werwolfblut, vor einem Wolkenkratzer, dessen Zustand makellos war. Wayland wandte sich zu seiner Kollegin, die eine Augenbraue in die Höhe gezogen hatte.
»Deine Familie ist protzig wie eh und je. Nicht ein verdammter Kratzer in der Fassade«, grummelte sie vor sich hin.
»Du kennst sie persönlich?« Es hatte ihn zwar nicht erstaunt, dass Adalain genau wusste, wo welche Gruppierung in New York ihre Hauptquartiere besaß, aber er hätte nicht gedacht, dass sie in ihrer
Vergangenheit etwas mit den Tignerows zu tun gehabt hatte. Aber woher sollte er das wissen? Sprach er doch mit niemandem über diesen Teil seiner Familie.
»Ein paar Mordaufträge. Übrigens, dein Onkel ist knauserig und ein Arschloch. Wette, er lässt dich bezahlen, falls du Durst bekommst.«
»Hüte deine freche Zunge, Damhán Alla, bevor ich sie dir abschneide«, kam eine Stimme aus der Gasse direkt neben dem Haus, ehe ein breitschultriger Kerl hervortrat. Gefolgt von einem Tiger und zwei Bären.
»Yakub«, flötete Adalain. »Wie wäre es, wenn deine Zunge mich da leckt, wo du mir immer hinschaust?«
Mit drei ausladenden Schritten war der Kerl bei Adalain und zog sie lachend in eine Umarmung. Sie wirkte mickrig im Vergleich zu ihm. Selbst Wayland war ein gutes Stück kleiner und schmaler als der Mann.
»
Die Spinne
, Damhán Alla, ist Geschichte, es ist nur noch Adalain«, sagte sie und fuhr Yakub kurz mit einer Hand über die Wange. »Es ist schön, dich zu sehen, Bruder.«
Bruder?
»Waffenbruder«, ergänzte sie an Wayland gewandt. »Wir haben zusammen beim Militär gedient. Deine Gedanken sind echt zu offensichtlich, Bishop.«
Wayland spürte den Blick Yakubs auf sich. Die braunen Augen geweitet und die Nasenflügel bebend starrte dieser ihn an. Eine von Yakubs gewaltigen Händen strich durch dessen schwarzen Bart, während die andere über sein raspelkurzes Deckhaar streifte. Wayland hätte schwören können, dass die Augen des Mannes feucht waren.
»Unglaublich«, brummte Yakub und wandte sich zu Adalain. »Sie sehen allen Ernstes fast identisch aus.«
Es fühlte sich an, wie ein Schlag in die Eingeweide und bevor Wayland sich versah, hielt er die Hand vor seinen brummenden Bauch. Er wusste genau, von wem Yakub sprach, jedoch war er sich nicht sicher, ob er bereit für dieses Treffen war.
»Folgt mir, er erwartet euch«, sagte Yakub und Wayland blieb nichts anderes übrig, als sich seiner Vergangenheit zu stellen.
Auf dem Dach des Wolkenkratzers hatte die Familie Tignerow einen Garten mit Pool und Bar errichtet. Es erinnerte weniger an eine private Erholungsoase im Chaos der brennenden Stadt, als viel mehr an einen edlen Outdoor-Club, der die Gewalt weit unten auf den Straßen ausblendete. Gedämpfte Tropical-House-Musik schwang zu Wayland herüber. Sein Blick wanderte zu einer schimmernden Kugel, die mittig über dem Pool schwebte. Eine künstliche Sonne
–
Magie der Hexen der Trügerischen See, die auch im Sins zum Einsatz kam. Nach kurzem Suchen wusste er, wer diesen Zauber aufrecht hielt und aus der frischen Abendluft einen warmen Sommertag machte.
Ekatarina Kureiko, Schwester von Lady Kureiko aus dem Schwarzen Haus. Eine der mächtigsten Hexen Amerikas und zudem eine Ausgestoßene. In einem knappen Bikini lag sie mit einem Cocktail in der Hand auf einer Strandliege. Trotz der ausladenden Sonnenbrille spürte er ihren Blick. Man überlebte nicht so lange in New York, wenn man unaufmerksam war. Ein breites Lächeln legte sich auf ihre Lippen und ihre Zunge fuhr über ihre strahlendweißen Zähne.
»Feodor«, sagte sie mit glasklarer Stimme, die vor Freundlichkeit nur so überschäumte. »Wir haben Gäste.«
Ein hochgewachsener Mann mit Muskeln, die Waylands in nichts nachstanden, tauchte aus dem Pool auf. Mit wenigen Zügen erreichte er den Beckenrand und entstieg dem Wasser, wie ein Model in einer beschissenen Parfümwerbung. Nackt und mit einem Lächeln strich er sich durch das feuchte, blonde Haar. Die Wassertropfen perlten seinen Körper hinab, während er entspannt und offensichtlich ohne jegliche Scham zu ihnen hinüber kam. »Cousin, nach all den Jahren«, flüsterte er, wobei er Wayland in eine kräftige Umarmung zog.
»Verstörend«, murmelte Adalain. »Wie in einem billigen Porno. Willst du dir nichts anziehen, Feodor?«
Verstörend ist eine Untertreibung. Wo ist mein Onkel und wieso nach all den Jahren? Es war ein Fehler nach New York zu reisen!
»Ich glaube nicht, dass dieser Anblick für euch beide neu ist«, antwortete Feodor schmunzelnd und breitete die Arme aus. Recht hatte er. Wayland sah diesen Ausblick jeden Morgen nach dem Duschen im Spiegel und auch Adalain kannte ihn nackt. Bis auf die Augen unterschied ihn nichts von Feodor.
Langsam löste sein Cousin die Umarmung. Hatte Wayland befürchtet, dass es sich unangenehm anfühlen würde
–
immerhin waren sie Fremde, hatte ihn stattdessen eine vertraute Welle der Geborgenheit erfasst, als ihn Feodor berührte.
»Wo ist Onkel Vasil?«, presste Wayland hervor, der sich diesen verwirrenden Gedanken nicht hingeben wollte.
»Tot und schmort hoffentlich im Feuer!« Der Ausdruck in Feodors Augen hatte sich von Wärme zu purer Kälte verändert.
»Was? Wann?« Es war Adalain, die reagiert hatte, denn Waylands Gedanken stoben in alle Richtungen, ohne dass er eine Antwort ausmachen konnte.
»Setzt euch doch. Mein
Mann
ist unhöflich«, erklang Ekatarinas Stimme. Sie hatte sich ihnen unbemerkt genähert und lächelte über das ganze Gesicht. Dann nickte sie zu zwei Sonnenliegen und winkte einem Barkeeper zu.
»Miss Tignerow?«, fragte der Bedienstete, nachdem er heran gehastet war.
»Bring unseren Gästen doch bitte meinen Lieblingscocktail. Wärst du so lieb, Schätzchen?« Freundlich schaute sie zu dem jungen Mann, der mit einem Nicken davoneilte.
»Miss Tignerow?« Adalain kniff die Augen zusammen. »Und ich wurde nicht zu eurer Hochzeit eingeladen?« Sie verschränkte mit einem schiefen Grinsen die Arme vor der Brust.
»Wärst du gekommen?«, fragte Ekatarina. Das Lächeln auf ihren Lippen unverändert. »Cain war anwesend.«
Ein flüchtiger Schatten huschte über Adalains Gesicht und Wayland verstand kein einziges Wort. Viel mehr erstaunte ihn, wie freundschaftlich die Kollegin mit dem Teil seiner Familie umging, den er selbst nie getroffen hatte.
»Wir haben genug Zeit diese Fragen zu klären«, ergriff Feodor das Wort. »Aber ich denke, Wayland hat Wichtigeres auf dem Herzen?« Seine Hand berührte Waylands Arm und erneut schoss das Gefühl von Liebe und Geborgenheit durch seinen Körper.
»Du erinnerst dich nicht, oder?« Etwas Trauriges schlummerte in den Tiefen von Feodors Augen, während dieser sich ein Lächeln in das Gesicht mühte.
»Woran?« Waylands Stimme klang ungewöhnlich trocken. Zitterte sie etwa?
»Mein Tiger hat dich nach der Geburt markiert.« Feodors Stimme klang ebenso nicht mehr fest.
»Die Träume … Es sind Erinnerungen? Wir beide in einer gemeinsamen Krippe? Unsere Hände verschlungen?«
Feodor nickte.
»Aber … Ich … Mein Tiger …«
»Du hast mich nie zurück markiert«, antwortete Feodor. »Dann starben deine Eltern und du warst verschwunden.«
Wayland wusste nicht, was er sagen sollte. Er spürte das Band der Liebe zwischen ihnen. Das Atmen fiel im zunehmend schwerer. Sein Körper wurde in die Sonnenliege gedrückt, während sich eine eiserne Hand um sein Herz schloss. Feodors Gefühle wallten heiß und innig zu ihm herüber, jedoch merkte Wayland, dass seine eigenen dem ähnelten, was er für seine Mutter und Schwestern empfand. Familie. Eine Welle des Mitleids durchflutete Wayland.
»Kein Grund betrübt zu schauen«, sagte Feodor. »Es ist, wie es ist. Ich lebe schon über dreißig Jahre mit dieser unerwiderten Liebe. Jeder von uns hat sein eigenes Päckchen, Cousin.«
»Aber du und Ekatarina?«, fragte Wayland. Seine Gedanken rasten. Er hätte niemals nach New York kommen sollen.
»Wir sind seit vielen Jahren enge Freunde.« Ekatarina lachte herzlich auf. »Wir lieben uns, aber nicht auf diese Art und Weise. Die Hochzeit war mehr ein Symbol der Einigkeit, ein Zeichen der gemeinsamen Ziele und eine Erinnerung, dass die Prosnost stärker denn je ist.«
Den Namen Prosnost zu hören jagte Wayland eine Gänsehaut über den Nacken. Jeder in Amerika kannte diese Mafiaorganisation, die als skrupellos und gefährlich galt. Das Unternehmen seiner Blutsfamilie. Gefürchtet, gehasst und gejagt.
»Du bist so blass, mein Guter«, hörte Wayland Ekatarinas Stimme durch das tosende Rauschen in seinen Ohren. Alles drehte sich. Dunkelheit kroch aus sämtlichen Ecken auf ihn zu.
»Er hat eine Panikattacke.« Nur vage spürte Wayland Adalains Hand auf seiner Schulter. Alles war taub, dunkel und kalt.
»Schlaf, wir reden morgen.« Blaue Funken tanzten durch sein Blickfeld und Ekatarinas magische Worte klangen weit entfernt.
»Morgen beantworte ich dir alle Fragen, die du zum Dolch und den Wächtern hast, Cousin.« Er spürte Feodors Lippen an seiner Stirn, ließ los
und sank in die Dunkelheit.