Kapitel 24
Und alles geht in Flammen auf
Grayson
Überlebenstipp Nummer 10:
Nur wenn du Leute in deinem Leben hast, kannst du sie auch verlieren – also: Bleib allein!
N
ein, nö, auf keinen Fall!
Irie sagte, ich kann den Zyklus einfach beenden, richtig? Soll sich doch mein nächstes Ich mit dem Mist herumschlagen.
Irgendwo
war es ja auch mal gut mit dem Irrsinn. Ich wagte, über mich zu behaupten, ein durchaus dickes Fell zu besitzen. Viel ertragen zu können. Und nur manchmal zu jammern. Okay, Letzteres mag eine Untertreibung gewesen sein, aber die Sache war: Unsterblich sein? Klar, kein Ding.
Von der eigenen Mutter gekillt werden und den Tod höchstpersönlich kennenlernen? Mit links.
Agent sein und Gefühle für einen grummeligen Tiger entwickeln? Zähne knirschend, aber unausweichlich und im Endeffekt unerwartet schön.
Geister Jones und die Jagd nach dem verloren Dolch spielen? Wenn es
nicht anders geht, na gut.
Jedoch der Bruder der ersten Frau – von DER Eva
–
sein? Nein, nö, auf gar keinen Fall. Ich war fertig mit dem ganzen »Finde deine wahre Identität«
–
Ding. Meine wahre Identität konnte mich mal gemütlich da lecken, wo die Spice-Girls nicht sangen!
»Wieso rollt er die ganze Zeit mit den Augen, lacht hysterisch und schaut wie ein Lama mit Verdauungsstörung? Hat er einen Anfall?«, hörte ich Jude fragen.
»Keine Sorge, Cher, wie ich ihn kenne, badet er nur in Selbstmitleid und will seinen Zyklus beenden«, grummelte Benoît.
»Er will was?« Waylands Stimme donnerte durch den Raum.
»Mon dieu, beruhig dich! Er ist nur überdramatisch.«
Selbst ohne meine Gedanken zu lesen, kannte Benoît mich offensichtlich zu gut.
»Überdramatisch?«, flüsterte ich so leise, dass man es kaum hören konnte. »Überdramatisch sagst du?« Das war schon etwas lauter. »Ich zeige dir gleich überdramatisch!« Mit diesen Worten und einem lauten Kriegsschrei, vor dem sich sogar ein wilder Gorilla verbeugt hätte und die Spartaner errötet wären, sprang ich Benoît auf den Rücken und warf ihn zu Boden. Eventuell reagierte ich wirklich ein klitzekleines bisschen über, aber es reichte mir.
Ein unmenschliches Donnern durchfuhr den Raum, als Mademoiselle Moreau ihren Spazierstock auf den Boden schlug und dunkle Funken in alle Richtungen wirbelten. »Es ist nicht die Zeit zu streiten. Wir befinden uns im Angesicht eines aufziehenden Krieges und ihr geht euch an die Hälse? Ich habe mehr von euch erwartet.« Ihr Blick wanderte durch die Runde.
Ich rappelte mich auf, schnaufte einmal in Richtung Benoît und senkte betreten meinen Kopf. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass ausnahmslos jeder es mir gleich tat. Die Anklage und Autorität ließ alle verstummen.
»Wayland, Benoît, ihr beide geht mit Feodor und Ekatarina in die Bibliothek und sucht nach weiteren Informationen, die wir vielleicht übersehen haben.« Sie nickte ihnen zu und entließ sie aus der Unterhaltung. Die vier konnten den Raum nicht schnell genug verlassen und ich wünschte, ich könnte mit ihnen gehen.
»Jude, du unterrichtest Grayson in der Dämonensprache und setzt Schutzzauber in seine Knochen ein«, führte sie fort. Sowohl Jude als auch
ich starrten sie mit großen Augen an. Was sollte er mit meinen Knochen machen?
»Zola, das kann nicht dein Ernst sein? Du hast mir verboten, zu tief in diese Art der Magie vorzudringen.« Jude wirkte blass. Ob er nun die Dämonensprache oder die Abraxas meinte, wurde mir nicht klar.
»Das war, bevor Wayland zum Hüter wurde und wir erfahren haben, dass Eva sich sowohl noch erinnert, als auch das Kollektiv nach der Macht der Sieben strebt.«
Schweigend nickte Jude, aber der Gesichtsausdruck, den er auflegte, gefiel mir gar nicht. Dann drehte sich Zola zu mir und erschütterte erneut meine Grundfeste.
»Cher, gib dich der Stimme nicht hin. Dein Körper ist noch nicht bereit für die Macht, die sie innehält.«
»Sie lügt! Wir sind bereit! Wir brauchen deinen Körper nicht!«
»Woher weißt du davon?«
»Im Gegensatz zu Benoît kann ich deine Gedanken weiterhin lesen. Durch die Heilung deiner Verletzung sind wir verbunden.«
»Wer ist er? Ist es das Kollektiv, das auf mich Zugriff hat? Die Todsünden?«
»Nichts von alle dem. Die Stimme, die du hörst, ist ein Teil von dir.«
»Ich führe Selbstgespräche?« Wunderbar, das fehlte mir ja gerade noch.
Sie lächelte mir milde zu. »Wenn du so willst, ja. Ich bin mir bewusst, dass du es nicht hören magst, doch du bist noch nicht bereit. Selbst nicht für diesen kleinen Teil der Wahrheit. Aber bald, sehr bald, wirst du verstehen.«
»Ich bin es so leid, dass mir jeder sagt, ich darf es nicht wissen, ich sei nicht bereit oder ich habe es damals so gewollt. Zählt denn gar nicht, was ich jetzt will?« Meine Stimme klang selbst in meinen eigenen Ohren müde.
Zola trat auf mich zu, nahm meinen Kopf in ihre Hände und küsste meine Stirn. »Deine Mutter ist so stolz auf dich. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.« Zwei Stimmen sprachen aus ihr, während sie mich voller Liebe anschaute.
»Mom?« Mein Atem stockte und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Um Zola herum hatte sich eine magische Aura gebildet, die die Form meiner Mutter hatte.
»Schatz, du trägst diese Bürde schon so lange. Halt noch ein wenig durch. Das nächste Mal, wenn ich dich zur Welt bringe, wirst du dich erinnern. Und es gäbe keine bessere Version von dir, als die jetzige, um diese schwere
Bürde, die damit kommt, zu tragen. Es hat viertausend Jahre gedauert, bis du der wurdest, der du jetzt bist.«
»Ich bin müde, Mom.« Mit diesen Worten fiel ich Zola in die Arme und weinte, umhüllt von der Liebe meiner Mutter. In diesem Moment war mir egal, dass mein Verstand mir offenbar einen Streich spielte und ich phantasierte, meine Mutter zu sehen.
»Ich weiß, mein Schatz. Du bist stärker, als du denkst.«
»Träume ich? Ich verstehe nicht. Du bist tot …«, presste ich nach einer Weile hervor.
»Streng genommen bist du das ebenso gewesen
–
mehrfach. Einige Male davon ziemlich unnötig, wenn ich das erwähnen darf.«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Keiner von uns beiden stirbt jemals so ganz. So wie du jedes Mal zurückkehrst, tue auch ich es. Zola hatte vor vielen Jahren die Güte, ihren Körper als Gefäß für mich bereitzustellen. Nach jedem Tod von mir teilen wir uns ihren Körper, bis es Zeit ist, dich erneut zu gebären.«
»Das muss den Tod von Chicago ganz schön anpissen«, presste ich mit einem Gemisch aus Schniefen und Lachen hervor.
»Ach, der alte Greis war seit jeher einer der speziellen Sorte. Geh nun mit Jude und erfülle dein Schicksal.«
Ich hatte noch so viele Fragen und wenn es nur dazu diente, um mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Aber auch ich wusste, dass es nichts brachte, sich erneut zu verkriechen und nur zu hoffen, dass sich alles zum Positiven wendete. Diesen Punkt hatte ich weit überschritten. Es war Zeit, aktiv in mein Schicksal einzugreifen und ihm mit erhobenem Haupt den Mittelfinger zu zeigen.
Mittlerweile waren vier Tage vergangen, die Kinder Evas waren weiterhin nicht aufgetaucht und ähnlich wie bei Getrude lernte ich offenbar auch hier mal wieder langsamer, als ich sollte. Feodor und Ekatarina waren zurück nach New York gereist und hatten gesagt, wir seien jederzeit willkommen. Ich freute mich für Wayland, dass er einen Teil seiner alten Familie zurück in seinem Leben hatte. Seit der Abreise seines Cousins schaute er mehrfach zusammen mit Rocky beim Training vorbei und
lehnte dann schweigend an einer der Säulen. Beobachtend, mich beanspruchend. Dass es in meinem Inneren daraufhin jedes Mal kribbelte, tat meiner Konzentration natürlich alles andere als gut. Ebenso die Tatsache, dass wir zwar mehrere offizielle Dates gehabt hatten, doch bisher keinerlei körperlichen Kontakt, der über das allabendliche Kraulen des Tigers hinausging. Ich konnte nicht einmal benennen, warum wir uns beide zurückhielten, aber so nervig es war, war es auch schön. Trotz der Markierung überstürzten wir nichts, sondern lernten uns besser kennen und so würde es sich dann ehrlich anfühlen, wenn es zu etwas kommen sollte. Die Zweifel, ob ich mich nur wegen der Markierung nach ihm verzehrte, waren mittlerweile gänzlich gewichen.
»Es heißt Vihk dych. Langes V, und das HK wird wie ein gutturales CH ausgesprochen. Verdammt, konzentrier dich!«, blaffte Jude mich an. Aber was konnte ich dafür, wenn die Sprache der Dämonen zum einen keinerlei Logik folgte und dieser Satz zum anderen äußerst nach
–
»Wehe du sagst mir, dass es wie ›Fick dich‹ klingt. Ich schwöre dir, Grayson, ich lasse deinen Mund zuwachsen und dich danach von einem Ghul fressen. Bei den Loa, wie hat Gertrude dich als Schüler ausgehalten?«
»Hat sie nicht. Ich stand mehrfach kurz davor, eine Kröte zu werden.«
»Nachvollziehbar, die Idee ist notiert«, sagte er mit einem schweren Seufzen.
»Vick dich«, versuchte ich es erneut und Jude rollte mit den Augen. Das war hoffnungslos. Dämonensprache und ich? Keine Freunde.
»Lass mich dir helfen, bitte.«
Ich fuhr zusammen. Die letzten Tage hatte ich die Stimme kaum gehört und war deswegen umso überraschter, dass sie das erste Mal freundlich sprach. Eine Bitte von dem Biest in mir? Jetzt drehte ich vollständig durch, dennoch nickte ich und gab mein Einverständnis.
»Vihk dych. Rash, athwart dulum des!«, hörte ich meine Stimme wie ein nahendes Gewitter durch den Raum donnern. Der Raum flammte für einen kurzen Augenblick auf und das Feuer schoss in mich.
»Na endlich, das wurde auch Zeit!
Viertausend
Jahre! Nicht ein, nicht zwei, nein vier-verdammte-tausend!«, brüllte mich Rocky mit einer schrillen weiblichen Stimme an.
Verdammt, Lucille hatte recht: Rocky war eine Rocka
–
okay, über den neuen Namen sollte ich noch einmal genauer nachdenken. Nachdem ich nicht mehr kreidebleich auf dem Boden saß und mich fragte, ob ich mich
eingenässt hatte, jedenfalls.
»Was zur Hölle bist du?«, stammelte ich.
»Hölle ist ein gutes Stichwort. Die letzten viertausend Jahre waren die Hölle auf Erden. Gefangen in einem tölpelhaften Gargoyle mit dem ich mir den Verstand teilen muss. Der wohl dümmste Plan seit Anbeginn der Zeit, und das bedeutet bei dir schon einiges, aber was habe ich auch anderes erwartet?«, fluchte Rocky weiter
–
mehr zu sich selbst als an jemanden im Raum gerichtet. Jude, Wayland und ich starrten den kleinen Gargoyle hingegen nur mit offenen Mündern an, während er
–
ich meine sie
–
durch den Raum lief und wild mit ihren T-Rex-Armen in die Luft boxte.
»Rocky … Eine Erklärung bitte«, versuchte ich, auf mich aufmerksam zu machen. Der Gargoyle fuhr herum, flatterte zu mir und schlug mir einen steinernen Flügel in die Kronjuwelen.
»Na, schmerzhaft?«, zischte sie. »Das ist nichts gegen die Qual, viertausend Jahre in einem
stummen
Gargoyle gefangen zu sein.« Sie schnaufte abfällig. »Übrigens mein Name ist Ish‘tahria Ruskvrinirael Durundy, kurz Ish.«
»Gesundheit«, murmelte Wayland. Großer Fehler.
»Schnauze, du lächerliche Version eines Flohkissens. Geh dich entlausen und lass die Erwachsenen reden! Jeder, der jünger als dreitausend Jahre alt ist, hat jetzt Sendepause.« Sie blinzelte ihn finster an. »Zum Verständnis für euch dümmliche Sterbliche, damit meine ich Wayland und Jude. Ihr seid entlassen. Geht. Husch husch, die Unsterblichen müssen reden.«
Als sich weder Wayland noch Jude bewegten, passierte etwas, das so grotesk war, dass ich es vermutlich niemals aus meinem Kopf bekommen würde. Verführerisch stemmte Ish die T-Rex-Arme in die Hüfte, lehnte wie ein äußerst hässliches Supermodel eine Schulter nach vorne, setzte einen Schmollmund auf und klimperte irre mit den Wimpern. Als die beiden sich weiterhin nicht bewegten, warf sie die Arme in die Luft und schaute mich finster an.
»Bist du jetzt zufrieden, du Idiot? Nicht einmal meine Kräfte habe ich behalten.«
»Welche Kräfte? Duckface für die Gargoyleversion der Cosmo?«
»Oh, der Herr will sarkastisch mit mir werden, nachdem er mich vier
–
«
»Viertausend Jahre, ja, ich habe es verstanden«, seufzte ich.
»Das bezweifle ich, aber ich möchte dich informieren, dass ich einst eine
mächtige Succubus war.« Ihre Stimme klang süßlich, bevor sie in pures Gift umschlug. »Jedenfalls bis du die bescheuerte Idee hattest, dich zu verzaubern und damit einen ganzen Arsch voll anderer Leute. Wie zum Beispiel mich!«
»Succubus?«, fragte ich und zeigte mal wieder, dass ich nicht allzu gut mit einer Flut von Informationen umgehen konnte.
»Ein besonders aufreizender, überaus ansehnlicher
–
möchte ich erwähnen
–
Dämon in Frauengestalt, der seine Opfer verführt und ihnen dann die Seele raubt«, sagte sie eiskalt.
»Du bist eine Sex-Dämonin?«
»Traurig, nicht wahr? Wenn man überlegt, wie prüde du mit deinem Samen umgehst?«
»Bitte was?«
Das hat sie nicht ernsthaft gesagt?
»Sie braucht den männlichen Samen und zieht daraus die Seele zum Überleben
–
wenn sie nicht gerade in einem Gargoyle feststeckt, jedenfalls«, mischte sich Jude leise ein und schaute skeptisch zu Ish, die ihn nur anfunkelte.
»Wenn du nun einen blöden Witz über Verhütung machst, breche ich dir dein Schienbein oder beiße dich dort, wo es richtig schmerzt.« Ihre schwarzen Augen durchbohrten mich und gaben der Drohung Nachdruck. Und ich? Ich schaute mal wieder nur verwirrt.
»Ich habe dich jahrelang aus meinem Gefängnis beobachtet, ich kenne dich besser als du dich selbst«, fügte sie hinzu.
Damit hatte sie vermutlich recht, denn ein Spruch zum Thema ›Machs mit Gummi‹, lag schon auf meiner Zungenspitze.
»Wir sind Freunde, oder?«, fragte ich vorsichtig.
Ish lachte laut. »Waren! Vergangenheitsform. Das war, bevor du deinen äußerst dämlichen Plan umgesetzt hast, gegen den ich übrigens ein ungemein starkes, wenn auch ignoriertes, Veto eingelegt hatte und mich im Kopf des Gargoyles eingesperrt hast. Hast du eine Ahnung, wie erniedrigend es ist, als überragend attraktive Dämonin im Kopf eines Gargoyles festzusitzen, wie in einem Chicagoer Taxi bei High Noon – bis der Herr sich ergnädigt, erneut die Dämonensprache zu erlernen und ich wieder mit ihm und all seinen Verbündeten reden kann?«
Ehrlich gesagt wusste ich das nicht. Ich setzte zu einer Antwort an, aber sie kam mir zuvor. »Die Frage war rhetorisch.«
Wieso wundere ich mich eigentlich noch? Und wieso hätte nicht mein nächstes Ich den ganzen Stress haben können? Oder dieser Arsch Michael zuvor!
»So, hier ist, was wir tun«, durchbrach Ish meine Gedanken. »Da ihr alle nutzlos seid, und damit meine ich ganz besonders dich, Flohkissen«
–
grinsend deutete sie auf Wayland
–
»habe ich, gnädig und gelangweilt wie ich war, eure Arbeit erledigt und herausgefunden, wo sich die Kinder Evas verstecken. Ihr könnt mir später danken.«
»Du hast was?«, fragten Wayland, Jude und ich zeitgleich.
»Spreche ich Mandarin? Ich habe herausgefunden, wo
–
«
»Schon verstanden, aber wieso sagst du das nicht direkt?« Wayland schaute sie wütend an.
»Mach mal halblang, Kitty. Paar Minuten konntet ihr wohl warten, denn ich habe
viertausend
Jahre gewartet. Also Schnauze und mach Platz!«
Nach einem kurzen Wortgefecht teilte Ish uns mit, wo in Chicago einer der Unterschlüpfe zu finden war. Wayland stürmte daraufhin aus dem Raum, dicht gefolgt von Jude und mir. Leise grummelnd flatterte Ish neben mir her. »Danke, Ish. Wie gnädig, dass du unsere Arbeit machst. Was würden wir nur ohne dich tun? Undank ist der Welten Lohn. Scheiß Sterbliche, hätte ich bloß meine Kräfte, würde ich sie dafür quälen«, murmelte sie den gesamten Weg in die große Versammlungshalle.
Fast vier Stunden später standen wir in der Nähe des Unterschlupfs in Chicago. Hatten wir gehofft, dass Dick eine Tür öffnen würde, teilte er uns mit, dass das Nimbin nicht unser privates Reiseunternehmen war. Woraufhin Wayland einen der MIA Hubschrauber beorderte. Auf dem dreieinhalbstündigen Flug erklärte Ish mir genervt, wie diese ganze Sache mit den Dämonen funktionierte. Verstanden hatte ich nicht einmal die Hälfte, da ich oft ich in Gedanken abschweifte. Zu viel war die letzten Tage passiert. Wayland war ein Hüter, sein Cousin, der rein zufällig einer der meistgesuchten Verbrecherbosse war, hatte ihn markiert, um ihn zu beschützen und die wohl jedem bekannte Eva war meine Schwester. Zudem versuchte alle Welt, die sieben Todsünden, die ich nur für Märchen
gehalten hatte, zu befreien und mein treuester Freund aus meiner Zeit als Mensch war eine Sie in Form einer Sex-Dämonin, die ziemlich angepisst von mir war. Hätte mir das jemand vor zwei Monaten gesagt, hätte ich dem Tod von Chicago erzählt, dass er mich in das beschissene Licht hätte gehen lassen sollen, anstatt mich als Wiedergänger zurückzuschicken.
Ish flatterte neben mir und schaute mich mal wieder an, als wollte sie mich ermorden oder mir Schmerzen zufügen. Ein Glück war sie nur eine normale Dämonin und zudem ohne Kräfte gefangen in einem Dämonenwesen. Ihr zufolge gab es eine strikte Rangfolge in den dämonischen Reihen. Dämonenwesen waren eine Mischung aus sterblich und Dämon, dann kamen die niederen Dämonen, dann die normalen von ihnen, gefolgt von den hohen Dämonen und an der Spitze standen die Sieben Alten, wie sie in Ehrfurcht verkündete. Was die Motive der Dämonen waren, woher sie kamen und alles, was vielleicht hätte nützlich sein können, konnte sie mir dank meines Zaubers natürlich nicht verraten. Als ich deswegen grummelte, schlug sie mir mal wieder in den Schritt und sagte, dass ich selbst schuld sei und nicht in dieser Lage wäre, wenn ich damals auf irgendjemanden gehört hätte.
Mein Leben war ein einziger Alptraum.
»Alle verstanden?«, fragte Wayland und riss mich zurück in die Wirklichkeit. Alle außer mir nickten. »Bleib einfach bei mir, Casper.« Er zwinkerte mir zu.
Vor nicht ganz einem Monat hätte ich ihm dafür den Kopf abgerissen, aber nun wusste ich, dass er sich lediglich sorgte und mich nicht für schwach hielt. Die Stimme in mir war erstaunlich still geblieben, seitdem sie mir die Dämonensprache beigebracht, oder wenigstens die Erinnerung an diese offenbart hatte.
Immerhin beherrschte ich mittlerweile auch die magiefizierte Pistole, die Jude für mich angefertigt hatte. Zudem besaß ich ein paar Zauber, die er in Form von Abraxas auf meine Knochen eingraviert hatte. Diese waren nur einmalig nutzbar, aber dienten definitiv als Notfallplan. Der hilflose Grayson war Geschichte. Ich würde mich dem Schicksal stellen und diesen verdammten Kindern Evas gewaltig in den Arsch treten. Zufrieden nickte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Bitte sei vorsichtig«, flüsterte Wayland, der mich anschaute. Unsere Gesichter waren so nah, dass ich glaubte, wir würden uns küssen. So sehr ich es wollte, empfand ich diesen Zeitpunkt als völlig falsch dafür. Ich hatte
nicht so lange darauf gewartet, um es jetzt hier zwischen Müllcontainern gegenüber einer verlassenen Lagerhalle zu machen. Zudem stank es hier fürchterlich nach Pisse. Nicht das, was ich unter Romantik verstand. Deswegen nickte ich und lächelte ihm zu. Ish lachte schallend auf und schüttelte den Kopf.
»Ihr beide seid erbärmlich. Ich hätte mich schon längst an seinem Samen genährt.«
»Dieser Satz ist auf so viele Weisen falsch, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, gab ich zurück.
»Dann halt doch einfach die Fresse. Wie wäre das?«, antwortete sie zuckersüß. Obwohl ich nur einen kannte, hasste ich Dämonen und verstand ohnehin nicht, wieso Ish mit mir befreundet war. Denn, oh Überraschung, wieso ich mit dem Feind befreundet war, zählte zu den Sachen, auf die Ish mir auch auf Nachfrage keine Antwort geben konnte. Für jede Antwort, die ich erhielt, ergaben sich zwei neue Geheimnisse. Wunderbar.
»Dann los, bleibt immer zu zweit«, sagte Wayland. Maple blieb zurück im Wagen und überwachte die Verkehrskameras in der Umgebung, in die sie sich eingehackt hatte. Laut Ish waren in dem verfallenen Lagerhaus nie mehr als vier Kinder Evas zur gleichen Zeit gesichtet worden, weswegen unsere kleine Truppe genügen sollte.
Ash nickte mir grimmig zu und verwandelte sich in seinen Werwolf. Im Gegensatz zu Wandlern, die sich Stück für Stück verwandelten, war die Transformation der Werwölfe ungemein verstörender. Als ich das erste Mal sah, wie Ash zum Tier wurde, erklärte Wayland mir, dass bei Werwölfen der Wolf das echte Wesen war und der Mensch nur die Hülle. Umso erschreckender war es mal wieder anzusehen, wie Ash sich die fleischliche Hülle vom Leib riss, wie ein Stripper sein Hemd. Blut und Haut flogen zu den Seiten und vor mir stand ein monströser Wolf, der im Gegensatz zu Wandlern in der Form auch sprechen konnte. Überhaupt nicht beunruhigend.
»Das endet hier und heute«, brummte er und klopfte mir brutal auf die Schulter. Eine Geste, die freundschaftlich gemeint war, aber bei seiner Stärke beinahe meine Knochen zertrümmerte. Adalain setzte sich in Form einer kleinen orangenen Spinne auf seine Schulter. Sie und Ash würden auf das Dach des Gebäudes gehen und von dort einrücken.
Jude schnipste gerade eine grünliche Flamme gegen Benoîts
nachdenkliches Gesicht. Ein kurzer Blick und ein Schnaufen des Vampirs reichten, dass der Hexer ernst nickte. Weitere Flammen wallten um Jude auf, stoben in die Luft und formten eine Hülle um die beiden. Wenige Augenblicke später waren sie verschwunden.
Schall und Rauch
nannte Jude dieses Abaxas, das dafür sorgte, seinen Träger nicht mehr wahrzunehmen, obwohl er noch immer dort stand. Jude und Benoît bildeten die Vorhut, während Wayland und ich mit etwas Abstand folgen sollten.
Als wir warteten, nahm ich die Pistole von meinem Gürtel. Das schwarze Metall war kalt und leblos. Jedenfalls solange, bis ich meine Gedanken hineinfließen ließ und grüne Abraxas auf der Pistole zum Leben erwachten. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Teil meines Körpers an. Das Metall war warm und pochte im Schlag meines Pulses.
»Wir sind im Gebäude. Der Eingangsbereich ist gesichert«, hörte ich Benoît durch die Kette. Wayland und ich liefen zum Eingang und betraten die Lagerhalle. Ein muffiger Geruch stieg mir in die Nase. Süßlich und verwest. Galle bildete sich in meinem Rachen. Ich schluckte die bittere Flüssigkeit hinunter und schlich hinter meinen drei Teamkollegen einen Korridor entlang, der laut Beschilderung zum Lager führte. Je dichter wir kamen, umso intensiver wurde der Geruch. Offensichtlich waren wir auf dem richtigen Weg.
»Ich sehe niemanden in der Halle«, sagte Adalain in meinem Kopf.
»Jude?«, fragte Benoît und der
Schall und Rauch
Zauber verflüchtigte sich.
Die Augen des Hexers erstrahlten in grünen Flammen und ein Schatten verließ seinen Körper. Dieser verlängerte sich, bis er in die Halle hineinreichte. Wenige Augenblicke später schüttelte Jude den Kopf. »Ich spüre auch nichts. Weder Mensch, noch Schattenwesen.«
Mein Blick wanderte zu Ish. Hatte die Dämonin uns belogen?
»Wage es nicht, mir zu unterstellen, dass ich euch ausgetrickst habe«, zischte sie. »Ich mag dich gerade zwar andauernd verfluchen, aber wir sind über ein Blutband verbunden und es gab eine Zeit, da war ich deine beste Freundin. Ich war und bin eine deiner treuesten Gefährtinnen. Frag den Hexer, wir Dämonen können uns nicht gegen die Person wenden, die uns heraufbeschworen hat.«
Jude nickte. Also war Ish tatsächlich auf unserer Seite und ich verstand noch weniger, wieso. Hatte ich einen Pakt mit dem Bösen gemacht, um meinen Zauber zu wirken?
»Wir gehen rein. Haltet die Augen auf. Jude, Benoît, nach links. Ash, Adalain, ihr sichert den hinteren Bereich. Grayson, wir gehen nach rechts. Alle verstanden?«, dröhnte Waylands Stimme über die sichere Verbindung.
Zustimmung erklang unisono.
Wir stürmten die Halle und es dauerte keine zwei Minuten, da hörte man Adalains Stimme durch die Kette. Grauen schwang mit, etwas, von dem ich dachte, dass sie es nicht einmal kannte.
»Verdamme Scheiße!«, stieß sie hervor, gefolgt von Würgen und dem Geräusch des Übergebens. Wir stürmten gemeinsam in den hinteren Teil der Lagerhalle. Ash stand wie angewurzelt da, am gesamten Körper zitternd.
An einer Blechwand hingen zehn Körper. Allesamt MIA Mitarbeiter, die ich einmal flüchtig gesehen hatte. Ich erkannte eine davon wieder. Es war eine junge Agentin, von der ich wusste, dass Adalain sie vor drei Jahren aus einem Prostitutionsring gerettet und zur Agentin ausgebildet hatte. Eine der wenigen Personen, mit der ich Adalain regelmäßig hatte lachen sehen. Sah man von Maple ab, schien die tote Agentin ihre einzige Bezugsperson gewesen zu sein. Ich schluckte schwer und atmete tief ein. Großer Fehler. Der Gestank von verbranntem Fleisch, Blut und Fäkalien vervielfachte sich und trieb mir Tränen der Übelkeit in die Augen. Alle Agenten waren misshandelt und wie Vieh gebrandmarkt worden. Augäpfel hingen aus ihren Höhlen, Zungen lagen auf dem Boden und Innereien baumelten wie ein schreckliches Windspiel unter den Körpern.
Die Kinder Evas hatten gewusst, dass wir kommen würden, denn eine Nachricht aus Blut stand an die Wand geschrieben:
EURE ZEIT IST UM!
Bevor ich verstand, was damit gemeint war, erschien eine panische Lucille. Ihre verheulten Augen waren kein gutes Zeichen. Außerdem war ihr letztes Erscheinen beinahe mit meinem Tod geendet.
»Lauft! Das ist eine Falle. Bombe!«, kreischte sie.
»Was? Bombe?«, stammelte ich. Alle schauten mich an, ein kurzer Moment der Stille folgte, bevor Wayland brüllte.
»Alle raus hier!«
Ohne weiter zu überlegen, stürmten wir zum Ausgang. Niemand von uns wusste, wie und wann die Bombe hochgehen würde. Ich hoffte nur, dass sie an etwas geknüpft war, das wir nicht berührt hatten und die Kinder Evas
uns nicht beobachteten. Wir erreichten den Ausgang aus der Halle und stürmten in den Korridor, der zur Tür des Gebäudes führte, als ich stolperte und schmerzhaft stürzte. Mein Bein knackte überlaut und der Schmerz durchfuhr mich sofort. Die anderen waren fast an der Tür, da hörten sie mein Stöhnen. Wayland drehte sich erschrocken herum. Ein tiefes Brüllen seines Tigers verließ seine Kehle.
Bitte nicht!
»Lauft, ich komme wieder«, rief ich verzweifelt, weil ich wusste, was als Nächstes geschehen würde. Sein Tiger würde mich niemals zurücklassen, egal wie gefährlich es war.
»Verschwindet, ich hole ihn«, hörte ich Wayland zu den anderen rufen, während er auf mich zugelaufen kam.
»Du Idiot, rette dich
–
ich überlebe das eh!«, brüllte ich ihm entgegen. Er schüttelte nur den Kopf und erreichte meine Seite. Vorsichtig half er mir hoch, aber ich wehrte mich. »Lauf! Bitte!« Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus.
Er lächelte mir zu. »Niemals ohne dich«, waren seine letzten Worte, die ich vernahm, bevor die Halle hinter uns in einem Inferno aufging. Die Druckwelle erfasste meinen Körper und ich hörte die Flammen aufkreischen. Sie dehnten sich fast in Zeitlupe aus. Neben mir fuhr ein Ruck durch Wayland. Erschrocken schaute ich zu ihm und sah ein großes Metallstück in der Mitte seines Körpers. Das Gewicht um meine Schulter wurde im Sekundentakt schwerer. Blut lief aus dem Mund, während er zu Boden glitt. Ich kniete mich panisch neben ihn, schrie ihn an, bettelte. Ein letztes Lächeln legte sich auf seine Lippen und er flüsterte mit seinem finalen Atem: »Niemals ohne dich. Ich liebe dich.«
Wenige Augenblicke später stand sein Geist vor mir und schaute mich aus traurigen Augen an. Das konnte nicht wahr sein. Er war wirklich tot. Mir wurde schwindelig. Alles drehte sich. Die Wände kamen gnadenlos näher, drohten mich zu erdrücken und raubten mir den Atem. Kräftige Hände packten mich um die Hüfte. In ein grünes Schutzschild gehüllt hob Ash mich hoch, während Benoît Waylands Leichnam aus dem sich nähernden Flammenmeer trug. Ich schlug verzweifelt gegen Ashs Brust. Schrie ihn an. Flehte und bettele. Aber alles war vergebens, er war zu stark. Mein Körper kraftlos. Er durfte mich nicht wegtragen. Erneut schlug ich nach dem Werwolf. Waylands Geist stand da vorne. So nah und doch für immer entfernt. In diesem Augenblick erschien der Tod von Chicago an
Waylands Seite, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah bekümmert in meine Richtung. Lag sonst Arroganz in seinem Blick, erblickte ich dort ehrliches Mitleid. Ich versuchte zu schreien, dass er es nicht wagen sollte, Wayland mitzunehmen, aber meine Stimme verweigerte den Dienst. Lediglich ein Schrei, der in meinen Ohren wie der eines verletzten Tieres klang, entfuhr mir. Meine Augen brannten. Mehr und mehr verschwammen der Tod von Chicago und seine neueste Seele, mein Partner, vor dem Schleier aus Tränen und der einsetzenden Ohnmacht. Als ich mir mit einer Hand über die Augen fuhr, waren die beiden verschwunden. Ich vernahm nur ein vages Licht, das so knapp aufleuchtete, dass ich mir nicht einmal sicher war, ob ich es mir nicht lediglich eingebildet hatte.
Niemals ohne dich
wurde mit einem Mal zu
für immer allein
, als mich die Ohnmacht tiefer in ihren dunklen Armen willkommen hieß. Die Stimme in meinem Kopf schwieg nicht mehr. Sie tobte und wütete. Völlig außer Kontrolle schlug sie gegen meinen Geist, schrie ununterbrochen:
»Dafür werden sie alle brennen!«
Und damit ließ ich los, öffnete ihr meinen Geist und gab mich der Wut hin.