Kapitel 29
Wie gewonnen, so zerronnen,
das Schicksal hat gesponnen
Wayland
Mentale Notiz:
Nein! Das darf nicht wahr sein!
N achdem sich der anfängliche Schock und Unglauben bei allen gelegt hatte, verbrachte Wayland die nächste halbe Stunde damit, gedrückt zu werden. Tränen der Erleichterung flossen und Grayson lachte wie von Sinnen. Immer wieder küsste er Wayland und lachte dann erneut. Dieses Spiel ging nun schon geschlagene zehn Minuten. Das restliche Team schaute schmunzelnd zu, während Ish genervt aufstöhnte und fragte, wann denn das Vorgeplänkel vorbei sein und endlich der Samen fließen würde. Diese Dämonin war, ohne Frage, ungemein verstörend.
Aber Wayland hatte andere Sorgen. Sie mussten zurück nach Chicago. Und zwar, ohne dass sein Team Fragen stellte.
Vier Stunden später standen sie zusammen am Navy Pier. Wayland hatte es nicht übers Herz gebracht, direkt mit den Informationen über die Kinder Evas die Freude zu drücken. Immerhin wusste außer Grayson niemand, dass er diese Informationen hatte. Es war nicht so, dass er seinem Team nicht vertraute, aber etwas kam ihm komisch vor. Vielleicht war er nur paranoid, dennoch wollte er kein erneutes Risiko eingehen. Sie waren unter anderen Gründen zurück nach Chicago gereist und standen nun am Navy Pier. Die Kinder Evas hatten genau das gemacht, was Benoît vor wenigen Tagen erst über seine eigene Scharade erklärt hatte. Ebenso wie er die Todsünden vor aller Augen versteckt hatte, waren auch die Kinder Evas für Tausende von Wesen täglich gut zu sehen.
Waylands Blick wanderte über die Wasseroberfläche. Die Abendsonne spiegelte sich in ihr und der Frieden, den sie spendete, konnte nicht trügerischer sein. Der alte Leuchtturm, der auf einer Insel vor Navy Pier ein beliebtes Fotomotiv aus der Ferne darstellte, warf seinen unheilvollen Schatten über das Wasser. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, dann hätte er nie glauben können, dass in diesem Gebäude und dem Gewölbe darunter, die abartigsten Dinge vorgingen. Galle stieg ihm die Speiseröhre empor, als er sich an das Geschehen in dem Keller erinnerte.
»Jude«, Wayland wandte sich vom Wasser ab und schaute zu dem jungen Beschwörer. »Kannst du unsere Ketten und alle elektronischen Geräte um uns herum lahmlegen und dafür sorgen, dass uns weder jemand sieht, noch hört?«
»Ähm, ja, ich denke schon. Aber wieso sollte ich das tun?« Merklich verwirrt schaute Jude erst zu Wayland und dann zu Grayson, der ihm lediglich zunickte.
»Bitte, mach es.«
»Way, was wird das?« Ash stellte sich zwischen Jude und Wayland. Seine Augen zu Schlitzen verengt. »Deine Mutter wird dich …« Er stockte und jedem war bewusst, was er sagen wollte. Dennoch brachte der Werwolf das Wort umbringen nicht über die Lippen. Die Trauer, die sie alle aufgrund von Waylands Tod verspürt hatten, hing schwer in der Luft. Maple hatte den Blick gesenkt, während Adalain schnaufte.
Jude starrte weiterhin zu Wayland, der sich mit dem Zeigefinger und Daumen in die Nasenwurzel kniff. Er holte tief Luft. »Wirk den Zauber.«
»Ich warne dich, Jude, wag es nicht!«, herrschte Benoît ihn an.
Einen kurzen Moment starrten sich beide an, als würden sie sich jeden Augenblick an die Hälse springen. Dann loderten grüne Flammen aus Judes Augen, die sich unmittelbar in der Luft verteilten und eine Reihe von Abraxas formten. Einen Wimpernschlag später senkte sich deren erste Hälfte auf jeden der Agenten. Ein kurzes Flimmern der Luft machte deutlich, dass sie jetzt nicht mehr gesehen und gehört werden konnten. Die übrigen Abraxas flogen zu Boden und eine Flammensäule umspielte die Gruppe. »Erledigt.«
»Was sollte das?« Benoît schaute mit finsterer Miene erst zu Jude, dann zu Wayland, bevor er ihn am Kragen packte. »Wieso konnte ich das nicht in deinen Gedanken lesen?«
»Weil ich den Tod von Chicago darum gebeten habe, dass ich meine Gedanken vor dir verschließen kann«, antwortete Wayland mit fester Stimme und löste Benoîts Finger.
»Was ist eigentlich verkehrt, dass alle Welt ihre Gedanken vor mir versteckt?«, brummte der Vampir.
»Willkommen im Club. Wir anderen müssen auch so leben. Nicht wie ein perverser Stalker, der sie aus den Köpfen anderer liest, doch seine eigenen Wünsche nicht aussprechen kann«, nuschelte Jude vor sich hin, was ihm nur einen grimmigen Seitenblick einbrachte. Wayland verstand zwar nicht, was deren verdammtes Problem war, aber nach dieser Mission sollten sie ihren Scheiß gefälligst klären.
»Die Kinder Evas haben ihr Hauptquartier im alten Leuchtturm«, sagte Wayland. Es brachte nichts, um den heißen Brei herumzureden. Nach einem geschockten Moment der Stille brach das Chaos aus. Alle redeten durcheinander, stellten Fragen und fluchten.
»Hey, lasst ihn ausreden!«, donnerte Graysons Stimme und Funken stoben aus seinen Augen. So schnell sie erschienen waren, verblassten sie auch wieder. Adalain senkte betreten den Kopf, während ihn der Rest mit offenem Mund anschaute. Grayson ließ sich davon nicht beirren und deutete Wayland mit einem Nicken an, weiter zu sprechen. »Wir sind auf uns allein gestellt, ich vertraue aktuell niemandem in der MIA.«
»Offensichtlich nicht einmal uns«, sagte Benoît mit einem Schnaufen. »Sonst hättest du uns zuvor eingeweiht.«
Es brachte nichts, es abzustreiten, denn es war ohnehin allen bewusst, dass es stimmte. Benoît war lediglich der Einzige, der es aussprach, Wayland konnte es in den Augen jedes einzelnen sehen. »Es tut mir leid, aber das war der sicherste Weg.«
»Wie auch immer, das können wir später klären«, sagte Adalain. Ihr Blick gab ihm zu verstehen, dass sie definitiv mit ihm darüber reden würde. »Was ist der Plan?« Ihre Augen huschten zu Grayson, als wartete sie darauf, dass er ihr sagte, was zu tun war. Offensichtlich beeinflusste die Aura des Alphas die Spinnenwandlerin deutlich stärker als ihn selbst. Ungeachtet dessen erklärte er den Plan.
Zehn Minuten später rannten sie von Abraxas getragen und weiterhin getarnt über das Wasser auf den Leuchtturm zu. Zwar war Jude kein offizielles Mitglied der MIA, doch Wayland wollte seine vielseitigen Kräfte schon jetzt nicht missen. Der Eingang war nicht bewacht, damit die Kinder Evas keine Aufmerksamkeit erregten. Wayland wusste aber durch seinen Besuch als Geist, dass direkt hinter der Tür Wachen stationiert waren. Das Ziel war einfach: Jeden Anwesenden eliminieren, weitere Informationen extrahieren und danach das Gebäude dem Erdboden gleich machen. Der einzig knifflige Moment, jedenfalls hoffte Wayland, dass es nur einer war, bildete der richtige Augenblick des Stürmens. Sie waren definitiv in der Unterzahl, aber jeder von ihnen konnte es mit mehreren Halb-Schattenwesen aufnehmen.
»Wir warten hier etwa eine halbe Stunde, dann sollte die Wachablösung stattfinden. In dem Moment sind sie am angreifbarsten.« Wayland hatte kaum zu Ende gesprochen, da hörte er die Stimme des Phönix‘ in seinem Kopf.
»Wir haben lange genug gewartet! Sie müssen brennen!«
Er bekam nicht mehr die Chance etwas zu sagen, denn aus Graysons Augen loderte Feuer, und Flammen tanzten über seinen Körper. Es war ihm zwar nicht möglich sich zu wandeln, solange der größte Teil des Phönix‘ schlief, aber der kleine Teil, der erwacht war, hatte scheinbar die Kontrolle übernommen.
»Oh Scheiße, du stehst in Flammen, Kumpel«, keuchte Jude.
»Du bist nicht mehr der Einzige mit Special-Effects«, krächzte Grayson. Seine Stimme war kaum noch zu erkennen. So sah also die Mischform des Phönixwandlers aus. Langsam drehte er sich zu Wayland. »Du denkst wirklich zu laut. Nein, ich habe die Kontrolle. Der Phönix hat mir lediglich die Kraft angeboten und ich habe die Schnauze voll zu warten. Er hat recht - sie müssen brennen, jeder von ihnen!«
Mit diesen Worten brach eine Feuersbrunst aus ihm hervor und die Tür zum Leuchtturm wurde nach innen gesprengt. Wie ein Buschfeuer in einem trockenen Wald fraßen sich die Flammen durch den Vorraum. Holz knackte, Wesen schrien und die Luft roch nach verkohltem Fleisch.
Nur wenige Augenblicke später war jeder im ersten Raum nur ein Haufen Asche. Grimmig nickte Grayson zum Eingang. »Mir nach!«
Grüne Flammen formten beim Eintreten sieben Abraxas, die sich auf alle hinabsenkten. »Immunität gegen Feuer. Scheint mir angebracht bei seiner neuen Kraft«, sagte Jude mit einem Grinsen im Gesicht. Diese ganze Sache bereitete ihm eindeutig zu viel Freude.
Sie erreichten den Zugang zum Treppenhaus, als von oben zwei Halb-Löwenwandler in ihrer Tierform zu ihnen nach unten stürmten. Zwei Halb-Vampire, eine Halb-Hexe und ein Bär kamen aus dem Keller die Treppe hinauf. Maple murmelte Worte der Macht, Benoît hatte sein menschliches Äußeres abgelegt und Ash brüllte lautstark in seiner Werwolfsform.
Da alle wussten, was ihre Aufgabe war, ließ auch Wayland den Tiger frei. Als seine Wandlung abgeschlossen war, hatte Benoît seine Zunge im Hals der Hexe vergraben, während Jude und Maple mit Zaubern um sich warfen. Beide Löwen erblickten den Tiger und drehten sich brüllend zu ihm. Bevor sie angreifen konnten, hörte Wayland Graysons Stimme in seinem Kopf.
»Jeder Wandler im Haus, außer meinen Teammitgliedern, nimmt sich augenblicklich das Leben!«
Mit erstauntem Maunzen sah Wayland, wie der erste Löwe sich in die Flammen des Vorraums stürzte und verbrannte. Der zweite von ihnen riss sich mit seiner Pranke die eigene Kehle heraus und sackte tot zu Boden.
»Gut die Hälfte aller Anwesenden waren Halb-Wandler. So ging es schneller«, kommentierte Grayson mit Eiseskälte in der Stimme die Situation. Zwar hatte er die Kontrolle über den Körper, aber Wayland war sicher, dass in dieser Form der Phönix sein Denken verdüsterte.
Während sich Wayland mit Grayson, Jude und Benoît in den Unterbau begab, eilten Ash, Adalain und Maple die Treppe hinauf. Wenigstens den dreien blieb die Abscheulichkeit der unteren Etage erspart. Wayland holte tief Luft, bevor sie die Tür zu der Schlachtkammer aufstießen. Auch hier lagen mehrere tote Halb-Wandler, die Graysons Ruf gehört hatten und seiner Aufforderung nachgekommen waren. An den Wänden standen Einzelteile ermordeter Schattenwesen in Gläsern. Köpfe, Gliedmaßen, Herzen und Augen. Alle fein säuberlich sortiert und beschriftet.
Auf Tischen lagen Akten zu den Forschungen, die diese Bastarde betrieben. Weiter hinten im Raum saßen fünf menschliche Rekruten auf Stühlen. Über ihnen hingen wimmernd mehrere Schattenwesen kopfüber von der Decke. Quälend langsam bluteten sie aus. Über Schläuche, die in ihren Hälsen steckten, lief ihr Blut in große Kessel. Dort vermischte es sich mit einem qualmenden Gebräu und wurde durch einen weiteren Schlauch samt Infusionsnadel in die Menschen weitergeleitet. Die Prozedur dauerte zwei Tage, bevor sich das menschliche Blut und ihre Seele mit dem Gebräu vermischt hatte und sie zu den Halb-Schattenwesen wurden. Wie Wayland seit seiner Beobachtung mit dem Tod von Chicago wusste, bestand die Erfolgsrate zum aktuellen Zeitpunkt bei fünfzig Prozent. Natürlich verschwiegen die Kinder Evas den neuen Rekruten die Tatsache, dass nur die Hälfte die Umwandlung überlebte.
Wayland hörte das Keuchen seiner Teamkameraden in dem Moment, in dem sie realisierten, welche Abscheulichkeit sich vor ihnen abspielte. Flammen brachen aus Graysons Augen hervor und Wayland spürte die gierige Wut bis in die Tiefen seiner Seele.
»Nein, wir brauchen Informationen. Du kannst nicht alles in Flammen aufgehen lassen«, dachte Wayland so deutlich wie möglich, während die Wut des Phönix‘ ihm fast den Verstand raubte. Er hoffte nur, dass seine stummen Worte zu Grayson vordrangen. Hatte er zuvor noch die Kontrolle, waren nun die Instinkte seines Tieres an der Macht. Wayland kannte dieses Gefühl nur zu gut, wenn der eigene Verstand mit den animalischen Instinkten rang.
Er sprang an die Seite seines Freundes und legte die Schnauze an eine von Graysons Hände. Ein flehendes Maunzen verließ Waylands Kehle. Etwas in den Augen seines Partners veränderte sich und dieser jagte die Flammen gebündelt auf zwei Angreifer zu. Die Asche ihrer verbrannten Leichen flog Wayland ins Fell und er schüttelte sie angewidert von sich ab. Erleichterung breitete sich in ihm aus, als Grayson zu ihm schaute und sagte: »Danke dir.«
Es dauerte nur eine halbe Minute, da hatten sie alle anderen Angreifer in diesem Schlachthaus getötet. Hier unten waren primär menschliche Forscher und Wissenschaftler anwesend, die keinerlei Chance gegen vier MIA-Agenten hatten. Normalerweise war es gegen das Gesetz, Menschen innerhalb der Städte zu töten, aber jene Monster, die hier arbeiteten, hatten jeden Anspruch auf das Recht zu leben verwirkt. Der schnelle Tod war noch zu gut für sie.
»Weiter«, knurrte Ash schwer atmend. Es war das erste Mal, dass Wayland seinen Freund so dermaßen neben sich stehend erlebte. Strahlte der Werwolf ansonsten Stärke und Souveränität aus, vibrierte dessen Körper in diesem Augenblick vor Zorn und Entsetzen.
Wayland schloss die Augen, denn er wusste, was sie im nächsten Raum erwartete. Ein klägliches Maunzen verließ bei diesem Gedanken seine Kehle. Grayson, der die Bestürzung gespürt haben musste, kniete sich zu ihm auf den Boden und nahm Waylands Kopf in die Hände. »Bald ist es geschafft und dann kann uns eine Woche jeder mal am Arsch lecken. Wir machen gemeinsam Urlaub und falls deine Mutter etwas dagegen hat, kündigen wir. Ganz einfach.«
Mit einem tiefen Schnurren und dem Reiben seines Kopfes gegen Graysons Hand, stimmte Wayland ihm zu. Seine Mutter würde nichts einzuwenden haben. Im Gegenteil. Nachdem sie aufgehört hatte, vor Freude zu weinen, als er zurückgekehrt war, hatte sie ihm gesagt, er solle Urlaub mit Grayson machen. Er freute sich schon darauf, dass dieser Horror hier und heute endete. Danach würde ihr gemeinsames Leben beginnen und nichts konnte sie mehr davon abhalten. Zusammen waren sie stark und würden jede Hürde meistern. Die Liebe zu Grayson und seiner Mutter ließ ihn aus voller Kehle schnurren.
»Wir sollten weiter. Nicht, dass das hier eine Herausforderung wäre, aber ich will diesen grauenhaften Ort so schnell wie möglich niederbrennen«, sagte Grayson, stand auf und bewegte sich festen Schrittes auf die Eisentür am Ende des Raumes zu. Wayland verließ seine Seite nicht und rieb sich weiterhin an Graysons Hand. Er hoffte inständig, dass sein Partner die Wut unter Kontrolle behielt, sobald er durch die Tür trat.
Im nächsten Raum erstarrten Waylands Kollegen. Er wusste, dass sie die Vielzahl an Käfigen und Apparaturen erblickt hatten, die sich hier übereinander stapelten. In ihnen waren achtlos Schattenwesen hineingequetscht, Jung und Alt. Viele von ihnen mit offenen Wunden, gebrochenen Knochen und Nadeln in ihren Körpern. Schilder oberhalb der Käfige kategorisierten sie nach Rasse und Geburtsjahr. Die Geräuschkulisse war Wayland immer noch im Gedächtnis, seit er zuletzt mit dem Tod von Chicago hier gewesen war. Wimmern, Schreie und Wehklagen mischten sich erneut zu einem abartigen Chor der Pein.
Wayland schüttelte sich und versuchte, den Blick von den Käfigen loszureißen. Flehende Augen schauten ihn an, auf dass er sie erlöste. Sie hofften nicht auf Befreiung. Er konnte es in ihren Augen lesen – ein jeder von ihnen hoffte auf den Tod. Die Qual, die sie über sich hatten ergehen lassen müssen, hatte ihre Seelen gebrochen. Ihren Lebenswillen mit Füßen getreten. Alles an ihrer Art schrie, dass sie aufgegeben hatten und das Ende mit offenen Armen willkommen heißen würden. Tränen bildeten sich in Waylands Augen und er brüllte. Neben sich hörte er die wutverzerrten Schreie seiner drei Begleiter - ihnen erging es nicht anders als ihm. Niemand von ihnen würde diesen Abend in dem Leuchtturm, der so friedlich im Hafen vor Navy Pier lag, je vergessen.
Die Folterknechte und Forscher in diesem Raum stellten, ebenso wie im vorigen, keinerlei Bedrohung dar. Bis auf zwei Wesen waren es alle Menschen, die ihre Seele einem Krieg verschrieben hatten, den niemand gewinnen konnte. So erleichternd es war, dass sie keine wirkliche Gegenwehr erwartete, stutzte Wayland. Bei seinem letzten Besuch waren mehr als das Fünffache an Halb-Schattenwesen hier gewesen. Zunehmend fühlte es sich an, als wären die Forscher und die wenigen Halb-Schattenwesen nur Bauernopfer.
Seine Theorie bewahrheitete sich, als sie den Besprechungsraum betraten. Ein junger Mann stand in der Mitte des runden Raums und grinste über das ganze Gesicht. Auf einem Balkon, der ins Innere ragte, hinter magisch verstärktem Glas sah Wayland einen breit gebauten, älteren Mann mit einem bösartigen Schmunzeln auf den Lippen. Neben ihm lehnte eine Frau mit ausdrucksloser Miene. Ihre Haut formte sich wie aus weißem Stuck und schien von innen heraus zu leuchten. Sie überragte ihren Partner um gut einen Meter. Pechschwarze Augen observierten wachsam die Situation, während ihre roten Lippen langsam zu einem Lächeln in die Höhe wanderten. Es bestand kein Zweifel, dass es sich dabei um Eva handeln musste - was auch immer sie für ein Wesen sein mochte. Nie zuvor hatte Wayland etwas Vergleichbares gesehen. Sie war ein gutes Stück größer als er selbst, ihre Augen besaßen keine Iris und eine unvorstellbare Macht strahlte von ihr aus.
Grayson erstarrte neben Wayland, als er den jungen Mann entdeckte. »Du«, entfuhr es ihm. Die Fassungslosigkeit deutlich spürbar. Sein Blick wanderte zu dem glatzköpfigen Mann und seiner Schwester. »Ihr … Wieso?«
Bevor einer der beiden Männer antworten konnte, glühten Evas Augen auf und dunkle Schatten schossen aus dem Boden. Blitzschnell legten sie sich um Wayland, Jude und Ash. Ein stechender Schmerz durchfuhr Waylands Körper und zwang ihn dazu, sich zurück in seine menschliche Form zu wandeln. Ash war weiterhin ein Werwolf und bei Jude waren alle grünen Runen verblasst. Die Schattenfesseln blockierten ihre Magie. Da Ashs Wolf seiner echten Natur entsprach, war er der Einzige, der in diesem Augenblick nicht zum normalen Menschen verdammt war. Dennoch brachte all die Kraft ihm nichts. Wild brüllend versuchte er, sich aus den Fesseln zu befreien, nur dass sie sich mit jeder seiner Bewegungen enger zogen. Schnell gab er auf, da das Unterfangen gänzlich sinnlos war und ihn nur zu erdrücken drohte.
Lediglich Grayson stand weiterhin ohne Schatten um sich geschlungen da und starrte den Mann in der Mitte des Raumes an. Weshalb Eva ihn nicht fesselte, verwirrte Wayland. Was bezweckte sie?
»Ts, ts, ts, du fragst wieso?«, fragte der junge Kerl langsam. Seine blonden Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht. Die Haut spannte sich dünn über die deutlich sichtbaren Knochen. Beinahe einem Vampir gleich.
»Phil, du bist mein Bruder. Hasst du mich so sehr?«, fragte Grayson. Seine belegte Stimme drohte zu brechen.
»Mehr als das! Und wir sind keine Brüder. Dad und ich wussten immer, dass du nur ein Bastard warst. Ein Parasit. Hätte der magische Schwur, der uns auferlegt wurde, nicht verhindert, dass wir dir etwas antun konnten, bis du zum Wiedergänger würdest, hätte ich dich schon lange getötet. Du bist kein Mensch, nur Abschaum. Du verdienst es nicht, zu leben!«
Wayland sah Narben auf Phils Haut und eine Zunge besetzt mit zwei Dornen. Erschrocken erkannte er, dass Graysons Bruder nicht nur eine Infusion durchlaufen war, sondern zwei. Er hatte Vampir- und Hexenblut in seinen Adern. Es waren nicht nur Experimente, mehr als eine Schattenkraft in ein Wesen zu transferieren. Nein, es war diesen Scheusalen tatsächlich gelungen. Die Nebenwirkungen schienen der körperliche Verfall zu sein, der deutlich von Phil ausging. Diese Forschungen könnten den aufkeimenden Krieg eindeutig zum Vorteil der Menschen entscheiden. Aber zu welchem Preis? Sie opferten ihre eigenen Leute, um das zu werden, was sie so sehr verachteten und bemerkten dabei nicht, dass sie damit alles verrieten, wofür sie kämpften.
»Das ist Irrsinn!«, schrie Grayson. »Ich habe euch nie etwas getan.«
Der Mann hinter dem Glas lachte gehässig. »Nie etwas getan? Ich musste achtzehn Jahre ein Monster großziehen und so tun, als würde ich es lieben.«
Nun war es an Grayson zu lachen. »Wann hast du je so getan, als würdest du mich lieben, Vater ?« Voller Wut spuckte er jedes Wort aus.
»Du kannst froh sein, dass Dad so gnädig war, dich nicht in einen Käfig zu sperren, wo du hingehört hättest.« Phil schaute Grayson voller Verachtung an.
»Ich habe gehofft, du würdest freiwillig gehen, wenn ich dich nur oft genug misshandelte. Aber nicht einmal das konntest du. Dein Leben lang warst du ein nutzloser Verlierer. Ein Monster im Schafspelz. Hätte ich damals gewusst, dass so etwas zur Welt kommen würde, hätte ich dich bereits im Bauch deiner Mutter ermordet und sie gleich mit!«
Tränen liefen Graysons Wangen hinab und er schrie voller Schmerzen. Wayland zuckte zusammen. Jede seiner Fasern spürte die tiefen Wunden, die jene Worte auf Graysons Seele hinterließen. Nach all den Jahren schaffte es dieser widerliche Mensch, ihn immer noch zu verletzten. Wayland brüllte, während Jude wilde Flüche ausstieß. Nur Ash schwieg, da die Fesseln ihn beinahe erwürgten.
»Du wirst jetzt sterben, wie die abartige Hure, die dich zur Welt gebracht hat«, sagte Phil mit einem finsteren Lachen. »Ich lasse dich genauso leiden und betteln, wie unsere Mutter es über Wochen getan hat. Hätte ihr schwacher Körper nicht aufgegeben, hätten wir sie länger gequält und all das während du nur wenige Meter von ihr entfernt in deinem Zimmer schliefst. Du hast nie gemerkt, dass wir sie über Jahre hinweg am Leben hielten und für ihre Sünden bestraften.«
Der Raum erhitzte sich schlagartig. Schon nach kürzester Zeit brannte die heiße Luft auf Waylands Haut. Er konnte den Blick nicht von Grayson abwenden, obwohl blendende Flammen aus dessen Augen hervorschossen. Sie umspielten seine Arme, führten einen beängstigend hypnotisierenden Tanz auf, um dann unvermittelt mit einem ohrenbetäubenden Knall in Flügel aus Feuer an seinem Rücken zu explodieren. Grayson schrie, die Macht des Phönix‘ war zu viel für seinen Körper, sodass er in Flammen stand. Hautschicht für Hautschicht verwandelte sich zu Asche und wirbelte durch den Raum. Wenige Augenblicke später umspielte ihn ein Meer aus Feuer und grauen Partikeln.
Hinter der Scheibe lachte Eva. »Bald, Bruder, bald wirst du wieder erwachen und mit dir wird diese Welt brennen!«
Mit vor Schreck geweiteten Augen verstand Wayland den Irrtum, dem sie erlegen waren. Bisher hatten sie geglaubt, dass Eva Grayson töten wollte, um an die Macht der Todsünden zu gelangen. Aber das war lediglich der Plan des Kollektivs. Eva wollte ihren Bruder zurück, der selbst beschlossen hatte, nie wieder auf Erden zu wandeln. Sie wollte mit ihm diese Welt in Flammen untergehen lassen.
»Töte ihn, Philip!«, brüllte Graysons Vater wie von Sinnen. Sein Speichel flog gegen die Scheibe, die die beide Beobachter von dem Inferno im Innenraum trennte.
»Das kann er nicht«, flötete Eva mit zuckersüßer Stimme, die zugleich so eiskalt klang, dass sich bei Wayland alle Haare aufstellten. »Dein Sohn wird sterben, wie es die Zeitlinie erfordert. Wir sollten gehen. Dich brauche ich noch.«
»Du Miststück, du hast mir versprochen, dass wir Grayson töten!«, schrie sein Vater.
»Du solltest besser aufpassen, welche Pakte du in deinem blinden Eifer eingehst. Ich sagte, dass Phil seinen Bruder stellen wird und alles kommt, wie Grayson es verdient hat. Wie du siehst, war das keine Lüge.« Lachend zeigte sie von oben in den Raum unter ihr und setzte gelangweilt fort: »Ich habe jedoch mit keiner Silbe gesagt, dass er ihn besiegen kann. Wieso hätte ich das auch sagen sollen? Ich wusste, dass dein Sohn sterben wird.«
Diesen Moment nutzte Phil, um sich mit ausgestreckter Vampirzunge auf Grayson zu stürzten, doch dieser verschmolz mit der Zwischenebene und sein Bruder stolperte durch ihn hindurch. Unmittelbar darauf materialisierte sich Grayson wieder in der irdischen Ebene. Seine Augen pulsierten vor Zorn. Flammen schossen in alle Richtungen, vermischten sich mit dem Inferno, das in dem Raum tobte und Wayland bemerkte erneut die schmerzende Präsenz des Phönix‘. Graysons Schreie waren mittlerweile in ein Wimmern übergegangen – sein Blick apathisch. Tränen rannen seine Wangen hinab und verdunsteten unmittelbar. Die Flammen zerfraßen die Haut, die augenblicklich danach wieder heilte, nur um zum wiederholten Male dem Feuer zu erliegen. Wayland wollte sich gar nicht vorstellen, wie unerträglich die Schmerzen waren.
Schwankend drehte sich Grayson zu Phil. Ein ohrenbetäubender Schrei verließ seine Kehle. So animalisch und roh, wie ihn nur ein Alpha von sich geben konnte. Die flammenden Flügel lösten sich von seinem Rücken, legten sich um seinen Bruder und hoben ihn hoch in die Luft. Dann explodierten sie und mit ihnen endete Phils Existenz in einer Wolke verdampfenden Blutes.
Grayson sackte benommen zu Boden. Er schluchzte und atmete schwer. Die schattenhaften Fesseln lösten sich auf und Wayland stürzte zu seinem Partner.
»Hey Casper, schau mich an. Bitte«, flüsterte er.
Graysons gerötete Augen sahen zu ihm auf. Das Leid so vieler Jahre spiegelte sich darin. Eine gebrochene Seele, die kurz davor war aufzugeben. »Wieso hassen sie mich so sehr? Ich wollte doch einfach nur geliebt werden«, flüsterte er apathisch.
»Es tut mir so leid. Aber du brauchst sie nicht. Grayson, ich liebe dich! Niemals ohne dich, weißt du noch?«
Graysons Augen klärten sich etwas auf und er lächelte. »Niemals ohne dich«, wiederholte er kraftlos. »Für immer wir.«
»Ihr seid so pathetisch! Du tust mir beinahe leid, Wayland«, sagte Graysons Vater voller Hass.
»Ich brauche dein Mitleid nicht!«
Daraufhin lachte der glatzköpfige Mann. Eva griff Graysons Vater fest an der Schulter und während sich die beiden langsam auflösten, zeigte er auf Grayson und rief Wayland die Worte zu, die alles verändern sollten: »Du dummes Tier liebst den Mörder deiner Eltern!«
Ende Band 1