Der verlorene Bruder

Februar 1920

Ein Putt-putt-putt aus weiter Ferne ist das erste Anzeichen, dass der lange Zeit abwesende Willoughby Seagrave, Jaspers jüngerer Bruder und einziges Geschwister, nach Chilcombe zurückkehrt. Cristabel, die mit ihrer erst kürzlich angestellten französischen Gouvernante den Rasen überquert, bleibt stehen, um zu lauschen. Es ist ein völlig neues Geräusch, das an ihre Ohren dringt, über die Entfernung von zwanzig Jahrhunderten – ein Geräusch, das auf diesem Gut noch nie vernommen wurde. Cristabel lässt die tote Schnecke fallen, die sie in der Hand hatte, damit sie sich besser konzentrieren kann. Die französische Gouvernante ist ebenfalls einen Moment aus dem Tritt. Mon Dieu, petite Cristabel. C’est une automobile! Oui, Madame, c’est vrai . Es ist tatsächlich ein Auto.

Als es näher kommt, wird der Lärm des Fahrzeugs deutlicher: Es ist ein ratterndes, schnelles Dug-dug-dug-dug . Ein paar Männer, die hinter dem Haus die Ställe ausmisten, fühlen sich schaudernd an das Geräusch deutscher Gewehre erinnert. Doch für Maudie Kitcat, Betty Bemrose und die anderen Dienstboten, die sich fast überschlagen, um zuerst an der Eingangstür zu sein, ist es das Geräusch von Glamour und Entkommen, von Tagesausflügen und Freiheit, von London und Brighton, von Swanage und Weymouth. Es ist das Geräusch der Zukunft. Es ist Willoughby Seagrave.

Betty und Maudie sind beide glühende Verehrer von Willoughby. Sie haben miteinander vereinbart, dass sie die Briefe in Empfang nehmen, die er an Cristabel schickt, die Kriegsnichte, die er nie gesehen hat, weil er zum Zeitpunkt ihrer Geburt beim Militär in Ägypten war. Betty hat das Lesen von ihrem Vater gelernt, der den Pub im Dorf betreibt, deswegen kann sie Maudie und Cristabel Willoughbys Briefe laut vorlesen. Und was für Briefe das sind! Voll mit tödlichen Skorpionen, Wüstenmonden und Nomadenstämmen. Niedergeschrieben in Willoughbys schwungvoller Handschrift mit aufsteigenden Querstrichen und der großzügigen Verwendung von Großbuchstaben, mit einer ebenso vertraulichen wie dramatischen Stimme. (Glaub mir, kleine Cristabel – das war ein Abenteuer der allerhöchsten Klasse! )

Seine Briefe begannen grundsätzlich mit Meine liebste jüngste Lady , und dann stürzt er sich kopfüber in die Fortsetzung eines Husarenstücks aus einem seiner vorherigen Briefe, sodass sie sich zu einer einzigen endlosen Erzählung von Heldentaten aneinanderreihen. (Du wirst dich zweifellos erinnern, dass ich von diesem übellaunigen Dromedar abgesprungen war, damit Muhammad mich nicht für einen Feigling hielt. Gemeinsam verfolgten wir die Senussi zu Fuß durch die Dünen – im Gefolge meine Männer, zu Tode erschöpft, aber entschlossen! ) Am Ende jedes Briefes verlangt Cristabel: »Noch mal. Noch mal.« Also müssen sie ihn noch einmal vorlesen.

Warum Willoughby immer noch durch die Wüste galoppiert, während alle anderen schon wieder aus dem Krieg zurückgekehrt sind, ist ihnen nicht ganz klar, aber sie haben eine Fotografie von ihm in seiner cremefarbenen Uniform gesehen, die Jasper in eine Schublade gelegt hat, und er sieht genauso umwerfend aus wie die Filmstars in Rosalinds Zeitschriften. Die dreiundzwanzigjährige Betty genießt Willoughbys Abenteuer auf dieselbe Art, wie sie eine Klatschspalte genießt, in der über die sorglos vergnügten jungen Männer und Frauen der besseren Gesellschaft berichtet wird, die sich in den Nachkriegsjahren auf wilden Partys in London tummeln. Doch die vierzehnjährige Maudie ist von Willoughby schlichtweg überwältigt. Wenn Betty seine Briefe vorliest, steigt ihr eine heftige Röte ins Gesicht.

Maudie, das jüngste Küchenmädchen und Cristabels Gesellschaft auf dem Dachboden, ist eine Waise, die zu großer Intensität neigt. Einmal hat sie einen Lieferjungen in der Wäscherei eingesperrt, weil er sie wegen ihrer widerspenstigen Haare aufgezogen hatte. Es gehen Gerüchte, dass sie aus einer Schmugglerfamilie kommt. Es gehen Gerüchte, dass der Lieferjunge eine geköpfte Ratte in seinem Fahrradkorb gefunden hat. Maudie hat Bettys Hand fest ergriffen und stolpert jetzt mit ihr zur Eingangstür, während das Fahrzeug mit Willoughby und einem Stapel ramponierten Gepäcks die Auffahrt hochröhrt. Sie dürfen diese Eröffnungsszene einfach nicht verpassen. Denn eines steht fest: Willoughby legt immer einen Auftritt hin.

Der Lärm ist so gewaltig, dass Jasper, der im Esszimmer beim Frühstück sitzt, mitten in seinem Räucherhering innehält und fragt: »Werden wir gerade überfallen?«

Rosalind, die am anderen Ende des Esstischs sitzt, stellt ihre Teetasse ab und hält sich eine Hand an die Kehle. Von draußen hört man den Knall einer zugeschlagenen Autotür, gefolgt von der Kakofonie sämtlicher Saatkrähen, die in den umliegenden Bäumen nisten und jetzt alle auf einmal gen Himmel fliegen.

Blythe, der Butler, deutet eine Verbeugung an und macht sich auf, den Verursacher dieses Lärms zu suchen, doch der Verursacher dieses Lärms ist schon bei ihnen, er betritt mit großen Schritten das Zimmer, das Gesicht ganz schmutzig vom Straßendreck und gekrönt von einer Automobilistenbrille, die er sich ins wellige, kupferfarbene Haar geschoben hat. Irgendwie ist der Raum voller Menschen, die eben noch nicht da waren, die reinste Menschenmenge, die sich hinter Willoughby ins Zimmer drängt, darunter auch Betty und Maudie, Mrs Hardcastle, die Haushälterin, die neue französische Gouvernante und Cristabel mit ihrem Stock in der Hand.

»Tja«, sagt Willoughby mit seiner warmen, beruhigenden Stimme, in der immer ein kleines Lachen mitzuschwingen scheint. »Hallo allerseits.«

Sein Publikum kichert und murmelt Antworten, wobei sie sich gegenseitig ins Wort fallen – wie nervöse Zuschauer.

Cristabel schiebt sich durch die Menge und hebt feierlich ihren Stock. Willoughby verbeugt sich wie ein Pantomime, der einen Prinzen darstellen will, und sagt: »Du musst Cristabel sein. Ich kann deine Mutter in dir erkennen. Welche Ehre, endlich deine Bekanntschaft machen zu dürfen.« Dann wendet er sich an Jasper und Rosalind, die immer noch am Tisch sitzen. »Wobei mir in London Gerüchte zu Ohren gekommen sind, dass mein Bruder die Familie unbedingt erweitern will – und warum auch nicht?«

Rosalind errötet. Jasper macht den Mund auf, aber er hat sein Stichwort schon verpasst, denn jetzt wendet sich Willoughby wieder seinem Publikum zu.

»Betty Bemrose, Sie haben mir gefehlt. Wie ich mich in der Wüste nach Ihren geschickten Händen gesehnt habe. Niemand in Ägypten kann so gut Socken stopfen wie Sie. Ich musste in durchgescheuerten Strümpfen herumlaufen und habe Sie vermisst.«

»Mr Willoughby«, antwortet Betty und knickst ebenso verlegen wie entzückt.

Willoughbys Ton bewegt sich so geschmeidig zwischen den verschiedenen Registern, dass sich kaum sagen lässt, ob er der Star in einem romantischen Film, in einer Shakespeare-Komödie oder einem Schmierentheater im West End ist. Deswegen weiß man auch nicht, ob man sich von ihm beleidigt fühlen soll. Die meisten legen diese Frage zu seinen Gunsten aus, denn die Linie an seinem Mundwinkel ist nach oben gebogen und verrät sein Vergnügen an Zweideutigkeiten und wie er es genießt, dass man schon so oft zu seinen Gunsten entschieden hat – und seine großzügige Bereitschaft, noch mehr in dieser Richtung anzunehmen.

Jasper schnieft. »Ich entnehme diesem grässlichen Radau, dass du dir so ein lächerliches Fahrzeug zugelegt hast.«

»Ich freu mich auch, dich wiederzusehen, Bruderherz«, sagt Willoughby. »Ich habe tatsächlich so ein lächerliches Fahrzeug. Soll ich dich vielleicht mal auf eine Spritztour mitnehmen?«

»Du hättest uns ruhig sagen können, wann du kommst. Dann hätten wir Zeit gehabt, das gemästete Kalb zu schlachten«, sagt Jasper, der sich die Serviette aus dem Kragen zieht.

»Und diese wunderschöne Überraschung verderben? Du lieber Himmel, nein«, protestiert Willoughby, während er die französische Gouvernante anlächelt. »Ich habe aber das Gefühl, dass sich diese junge Dame über so ein lächerliches Fahrzeug freuen würde.«

»Monsieur Willoughby …«

»Ich sehe Sie als Rennfahrerin, Mademoiselle. Mit Lederhandschuhen. Wie sie mit fünfzig Sachen dahinschießen.« Er nimmt seine Automobilistenbrille ab und wirft sie ihr zu. »Probieren Sie die doch mal an.«

»Mr Willoughby, Sie möchten doch sicher ein Bad nehmen«, sagt Mrs Hardcastle, doch Willoughby hat die Gouvernante beim Arm gefasst, führt sie durch die Eichenhalle und sagt: »Nur eine kurze Runde. Nur damit Sie ein Gefühl dafür kriegen.« Sie gehen an Maudie vorbei, und ihr gaffendes Gesicht erinnert an einen Wüstenmond.

Als Rosalind ans Fenster des Esszimmers tritt, sieht sie im blassen Licht des Februarmorgens: Willoughby, eine französische Gouvernante mit Automobilistenbrille, eine Haushälterin mit Grabesmiene und ein Kind, das seinen Stock schwingt, alle zusammen in einem riesigen Cabrio, das ganz langsam über die Auffahrt tuckert und ab und zu auf den Rand des Rasens fährt. Diese ungewöhnliche Aktion wird von Jasper beobachtet, der zwar nicht richtig lächelt, aber auch nicht nicht lächelt, während neben ihm Betty, Maudie und eine Traube von Dienstboten stehen. Rosalind schaut zu, wie das Automobil beschleunigt und dabei den Kies hochspritzen lässt, woraufhin seine französische Passagierin aufschreit. Willoughby ruft über die Schulter nach hinten: »Zum Mittagessen sind wir wieder da.«

Rosalind hört, wie Jasper sich in sein Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses zurückzieht. Sie schlendert zum Salon, aber sie findet keine Ruhe. Sie wird gestört durch die Diener, die von Zimmer zu Zimmer flattern, von Fenster zu Fenster, wie eine Vogelschar, die in einem Haus gefangen ist. Am Ende faltet sie einfach die Hände, schließt die Augen und wartet. Im Warten ist sie mittlerweile schon viel besser geworden.

Die Ausflugsgesellschaft kommt drei Stunden später nach Chilcombe zurück, staubbedeckt und mit Streifen versehen, die an Erdbeermarmelade erinnern. Cristabel, die tief und fest schläft und auch noch im Schlaf ihren Stock umklammert, wird von Mrs Hardcastle ins Haus getragen. Rosalind empfängt sie in der Eichenhalle.

»Du liebe Güte«, sagt sie, »bring doch einer dieses Kind nach oben. Es braucht eine gründliche Wäsche. Ich kann mir das ja kaum anschauen.«

Sie hört die Stimme ihrer Mutter in ihren Worten und findet es beruhigend. Die Störung durch Willoughbys Ankunft hat ihr erlaubt, eine Rolle anzunehmen, die ihr bis jetzt verwehrt war: die der Dame des Hauses. Sie richtet sich kerzengerade auf, als die zerzausten Autofahrer an ihr vorbeimarschieren. Die französische Gouvernante trägt eine rosa Nelke hinter einem Ohr. Am Ende der kleinen Gesellschaft bleibt Willoughby auf der Schwelle stehen. Er hat seine Autofahrerkappe in der Hand und streicht sich reumütig über den Schnurrbart.

»Warum kommen Sie nicht herein?«, fragt Rosalind.

»Ich fürchte, ich habe einen schrecklichen ersten Eindruck gemacht.«

»Es ist nicht üblich, dass unsere Gäste den halben Haushalt auf einen Ausflug mitnehmen.«

»Nein. Das ist wohl nicht ganz angebracht«, gibt er zu.

»Was sollen denn die Dorfbewohner denken, wenn sie Sie so durch die Gegend rasen sehen?«

»Kümmert es Sie, was sie denken?«

Rosalind runzelt die Stirn. »Selbstverständlich.«

Er zuckt mit den Achseln. »Ich glaube, es hat ihnen eher gefallen. Wir sind am Pub stehen geblieben, damit sie sich den Motor genauer anschauen konnten.«

»Sie sind in den Dorfpub gegangen?«

»Ja. Haben Sie was dagegen?«

»Nein. Ja«, sagt Rosalind. »Ich meine, vielleicht hätte ich nichts dagegen gehabt. Wenn ich gefragt worden wäre.«

»Das hatte ich gehofft. Können wir noch mal neu anfangen? Diesmal auf dem richtigen Fuß. Nachdem ich ein Bad genommen habe. Ich werde so blitzsauber sein und mich so perfekt benehmen, dass Sie mich nicht wiedererkennen.« Er lächelt, und es wirkt wie die blendende Explosion des Blitzes beim Fotografen.

»Das klingt … annehmbar«, meint Rosalind.

»Sie sind eine famose Person. Ich wusste, dass Sie so sein würden.«

»Ja? Und wie sind Sie auf diesen Gedanken gekommen?«

Aber er geht schon an ihr vorbei, zieht sich das Hemd aus der Hose und läuft die Treppe hoch, wobei er immer zwei Stufen gleichzeitig nimmt und ruft: »Gibt es heißes Wasser für mich, Betty?«

Rosalind bleibt neben der Tür stehen mit ihren unbeantworteten Fragen, ihrem bisschen Text.