Flehentliche Bitten

März 1920

Weymouth ist voller Sand. Ein kühler Ostwind bläst über die weite Bucht, jagt über die weißen Wellenkämme und wirbelt den feinen Sand vom Strand auf, sodass er in stechenden Windstößen zu den Strandhotels getrieben wird, die nach jahrelangen, kriegsbedingt schlechten Geschäften ziemlich heruntergekommen sind. Wie eine Reihe von leeren Gesichtern, die auf ein kriegsschiffsgraues Meer hinausstarren. Jasper empfindet die Küstenstadt als verlassen, wie einen letzten Vorposten.

Er geht die Promenade entlang, einen breiten Gehweg, der sich am Strand entlangzieht. Im letzten Jahrhundert sind hier Mitglieder der königlichen Familie entlangflaniert, doch jetzt findet man hier nur noch verwundete Soldaten aus Australien und Neuseeland, die man in Dorset gelassen hat, damit sie sich erholen können. Sie werden mit Wollplaids zugedeckt und in Rollstühlen herumgeschoben, mit leeren Ärmeln oder Hosenbeinen, die man hochgeklappt und säuberlich festgesteckt hat. Jasper empfindet es als eine grausame Laune des Schicksals, dass diese tapferen Männer, die eigentlich die azurblauen Meere vor Australien gewohnt sind, ausgerechnet an Englands trister Südküste gelandet sind, wo das Meer seinen schlaffsten Händedruck zeigt.

Unter die zurückgelassenen Soldaten haben sich hie und da ein paar frühe Touristen gemischt, die an diesem windigen Tag ihre Hüte festhalten müssen, und unten am Strand paddeln ein paar Kinder, deren dünne Gliedmaßen ganz rot sind vor Kälte. Ein paar altmodische Badekarren stehen leer am Meeresrand. Ein Schild mit der Aufschrift »Bald wieder da« lehnt an einem gestreiften Zelt, in dem das Kasperletheater stattfindet.

Am anderen Ende der Promenade steht ein Reihenhaus aus Backstein mit Ferienwohnungen, die zum Hafen hinausgehen. Man kann über den Dächern die Schiffsmasten aufragen sehen wie eine Reihe von Kruzifixen. Am vorletzten Gebäude lehnt ein Werbeschild aus Holz an der Eingangstür, das verkündet, dies sei die Behausung von MADAME CAMILLE , MYSTISCHE HELLSEHERIN , Beraterin von KÖNIGEN UND KÖNIGINNEN , WAHRSAGERIN  – SIE SIEHT ALLES , SIE WEISS ALLES ! Dahinter eine Kreidezeichnung von einem einzelnen Auge.

Jasper bürstet sich den Sand aus dem Bart und klopft an die Tür. Ein kleiner Junge lässt ihn herein und deutet auf eine dunkle Treppe. Madame Camille hat ein kleines Zimmer im ersten Stock. Ein rotes, hauchzartes Stück Stoff ist über eine ganz normale Lampe gehängt worden, was dem Zimmer ein höllenartig rötliches Glühen verleiht. Madame Camille selbst sitzt an einem grün bezogenen Kartentisch an einem Fenster mit Hafenblick. Ihre Hände ruhen auf einer Glaskugel. Jasper nimmt an, dass das eine Kristallkugel sein soll, obwohl es gut und gerne auch einfach nur eine Schiffsboje sein könnte, die jemand aus dem Hafen hat mitgehen lassen.

Er nimmt gegenüber von ihr Platz und legt drei Münzen auf den Tisch. Madame Camilles Augen flackern darüber, flink wie eine Eidechsenzunge. Sie hat ein dünnes Gesicht und trägt einen Fransenschal über ihrem Zottelhaar.

»Sie sind gekommen, weil Sie jemanden verloren haben«, sagt sie. Ihr Akzent ist ungewöhnlich. Vielleicht irisch. Könnte aber auch sein, dass sie ihn nur spielt.

Jasper ist etwas verdutzt über die Formlosigkeit ihrer Ansprache. »Stimmt. Meine Frau. Meine erste Frau, Annabel. Ich habe zufällig mitgehört, wie eine meiner Bediensteten sagte, Sie hätten Kontakt zu ihrem verstorbenen Mann aufgenommen, und ich …«

»Annabel. Eine starke Frau. Die Starken mögen es nicht immer, wenn man Kontakt mit ihnen aufnehmen will. Weil sie ihren Tod selbst noch nicht so ganz akzeptiert haben, wissen Sie?« Madame Camille reibt ihre Glaskugel.

»Ich verstehe.« Er ist sich aber nicht ganz sicher, ob er es wirklich verstanden hat.

»Haben Sie einen persönlichen Gegenstand von ihr dabei, der sich immer noch an ihre Berührung erinnern kann? Irgendetwas, was sie immer bei sich trug?«

Mich, denkt er. Ich kann mich immer noch an ihre Berührung erinnern. Er runzelt die Stirn, dann greift er in seine Hosentasche, in der Annabels Haushaltsbuch steckt, Seite für Seite gefüllt mit dem Miniatursanskrit ihrer mit spitzem Bleistift geschriebenen Ziffern. Madame Camille nimmt das kleine Buch, schließt die Augen und atmet laut durch die Nase. Draußen stößt ein Raddampfer einen blechernen Ton aus, während er in See sticht.

»Ich höre Stimmen«, verkündet Madame Camille.

Jasper flüstert: »Ist sie da? Kann ich mit ihr sprechen? Ich wollte ihr die Sache mit Rosalind erklären. Aus reinem Pflichtgefühl sah ich mich gezwungen …«

»Eine temperamentvolle Dame.«

»Ist sie mir böse?«

Madame Camille runzelt die Stirn. »Sie ist abgelenkt. Sie sucht irgendwas. Hat sie irgendetwas verloren, was ihr wichtig war? Schmuck? Einen Schlüsselbund?«

»Da fällt mir gerade nichts ein.«

»Es kann auch etwas völlig Banales sein wie ein Fenster, das sie offen gelassen hat. Jedenfalls stört es sie ganz fürchterlich.«

»Ich halte meine Fenster grundsätzlich geschlossen. Darf ich jetzt mit ihr sprechen?«

»Sie ruft Sie, das arme Ding.«

»Um Himmels willen, warum können Sie ihr nicht sagen, dass ich hier bin? Oder mir zumindest irgendeinen Beweis liefern, dass diese Frau wirklich meine Annabel ist?«

Madame Camille öffnet ihre Augen halb. »Ich verdiene mein Geld nicht mit Beweisen, Mister. Ich geb Ihnen, was Sie mir geben.«

»Lächerlich!«, entfährt es Jasper. Der Speichel spritzt durch den Schnurrbart und verfängt sich darin.

Ihre Augen ruhen jetzt voll auf ihm, ihr Blick wirkt gerissen wie der eines Fuchses. »Dann war das vielleicht schon alles.«

»Das ist alles, was ich für mein Geld bekomme?«, fragt Jasper, dem erst jetzt auffällt, dass die Münzen, die er auf den Tisch gelegt hatte, nicht mehr da liegen.

»Es kommt, wie es kommt«, sagt sie in einem ungerührten Ton, der einen auf die Palme bringen könnte.

Vom Korridor ist ein tiefes, männliches Husten zu hören.

Jasper schießt wütend aus dem Zimmer, vorbei an dem Jungen, der ihn eingelassen hat und neben dem jetzt ein großer Mann steht. Er trägt ein Unterhemd und Hosenträger und hat Oberarme so groß wie Schinken. Jasper rennt die Treppe wieder hinunter, hinaus ins Tageslicht, und der jähe Schock von grellem Strandleben verursacht ihm Übelkeit: die ganzen Australier mit ihren amputierten Gliedmaßen, das dissonante Tingeln einer Pfeifenorgel im Lustgarten und die nasalen Schreie vom Kasperl, der mit seiner Frau rauft. Dusch-dusch-dusch. So wird’s gemacht .

Jasper eilt über die Strandpromenade, wobei sich sein Gesicht mehrfach gequält verzieht. Wie dumm von ihm, zu denken, er könnte tatsächlich mit Annabel reden. Wie idiotisch, zu dieser betrügerischen Zigeunerin zu gehen. Er zieht ein Taschentuch aus seiner Tasche. Schnäuzt sich geräuschvoll. Lässt sich auf eine Holzbank plumpsen. Schaut die Küste entlang.

Er hat Dorset von Herzen satt. Jeden Morgen, wenn er die Zeitung liest, sucht er Anzeigen raus, in denen Grundstücke in Cumberland zum Verkauf angeboten werden, im Norden von England, wo Annabel und er ihre Flitterwochen verbracht hatten. Mit Rosalind ist er nicht in die Flitterwochen gefahren. Er hatte keinen Sinn darin gesehen.

In Cumberland konnte man hinschauen, wo man wollte, man sah überall großartige Landschaft, die in einem den Wunsch weckte, sich der Religion oder der Aquarellmalerei zuzuwenden. Doch Jasper ist gefangen am bröckelnden unteren Rand von England, ständig belästigt von unzufriedenen Pächtern und Dienstboten, die alle mehr von ihm wollen, obwohl er immer weniger geben kann. Er denkt an das Haushaltsbuch in seiner Tasche, in dem Annabels sauber geschriebene Zahlen in sein eigenes chaotisches Gekritzel übergingen, hie und da mit einem Fragezeichen garniert.

Die steigenden Steuern haben ihn gezwungen, zwei Pachthöfe zu verkaufen, und er klammert sich an den letzten, nachdem er zugestimmt hat, die Pacht auf Vorkriegsniveau einzufrieren. Seine eigene Familie ist dabei eher ein Hindernis als eine Hilfe. Rosalind hat einen derart teuren Geschmack, dass ihm die Augen tränen, und obwohl sie einen ordentlichen Batzen erben wird, wenn ihre Mutter stirbt, weigert sich besagte Mutter hartnäckig, das Zeitliche zu segnen. In der Zwischenzeit bringt Willoughby seine Unterhaltszahlungen in unglaublichem Tempo durch. Jedes Mal, wenn ihm Mr Bill Brewer, sein neuer Buchhalter, das Haushaltsbuch vorlegt, sieht Jasper – zum ersten Mal in seinem Leben – die Lücken, Schulden, Leerstellen. Erst vorige Woche ist sein letzter verbliebener Gärtner gegangen, um in einem Hotel in Torquay zu arbeiten.

Es sind überhaupt nur noch wenige von Jaspers ursprünglichem Personalstamm übrig geblieben. Kaum eine Handvoll war aus dem Krieg zurückgekommen, und die meisten hatten Teile von sich auf dem Schlachtfeld zurückgelassen, und wenn es kein Fuß oder Arm war, dann war es der Teil des Kopfes, der früher die Gefühle kontrolliert hatte. Jasper erkannte es an ihrem Blick, der genauso war wie bei einem Pferd nach einem Gewitter. Es war unmöglich, vernünftig mit ihnen zu reden. Sie mussten sich von selbst wieder fangen, falls sie sich überhaupt wieder fingen.

In einem Versuch, die Bücher auszugleichen, hatte er ein paar von den Familienporträts verkauft. Es versetzte ihm einen Stich, als Großtante Sylvia hinausgetragen wurde, doch es versiegte allmählich, als würde ihr feierliches Gesicht ihn aus einem Zug anschauen, der sich langsam von ihm entfernte. Als sie noch in Chilcombe an den Wänden hingen, waren diese Porträts Teil eines beruhigenden Kontinuums gewesen, aber nachdem sie erst mal einen Preis bekommen hatten, verschwand etwas von ihnen. Der Zug, in dem sich Großtante Sylvia befand, verschwand um eine Kurve, der Rauch aus seinem Schornstein stieg nach oben und vermischte sich mit den Wolken.

Jasper schnäuzt sich noch einmal. Das Meer ist immer noch grau, der Wind immer noch kalt. Irgendwo an dieser Küstenlinie liegt sein Zuhause. Sein altes Zuhause mit einer Frau, die er nicht liebt, und einem Kind, das er nicht zu lieben weiß, und einem leeren Raum, wo früher einmal seine Liebe gewesen ist.

Manchmal, wenn Cristabel in der Nacht aufwacht, schreit sie: »Ich bin hier oben!«, als hätte sie irgendjemand gefragt, wo sie ist. Doch niemand im Haus hat diese Frage gestellt, niemand im Haus hat sie gerufen. Aus ihrem winzigen Schlafzimmer jenseits des Dachbodens hört Maudie Cristabel einmal, zweimal rufen, dann noch einmal murmeln und dann nichts mehr, nur das Schweigen von Kindern, oben auf dem pechschwarzen Dachboden, lauschend, wartend.

Jeden Morgen nach dem Frühstück geht Rosalind an ihren Schreibtisch und verfasst charmante Einladungen, in der Hoffnung, endlich das Leben zu beginnen, das sie sich vorgestellt hat, als sie ihr Ehegelübde ablegte. Bei jeder Sendung stellt sie sich vor, wie eine mutige Brieftaube über die große Mauer des Hügelkamms fliegt. In jedes Schreiben flicht sie eine lockende Erwähnung von Jaspers Bruder Willoughby – ein Kriegsheld! ein, und wenn sie ihren Brief zusammenfaltet, um ihn ins Kuvert zu stecken, empfindet sie ein seltsames Vergnügen, als würde sie Willoughby in ihre Zukunftspläne mit hineinnehmen. Kommt!, schreibt sie. Kommt!

Doch es kommen nur wenige Antworten auf ihre flehentlichen Bitten.

Eines Abends sagt sie plötzlich: »Jasper, könnten wir uns vielleicht ein Haus in London nehmen während der Saison?«

»Ich schlafe im Club, wenn ich ein Bett brauche«, erwidert er.

»Und was, wenn deine Tochter debütiert? Dann wäre es doch sehr nützlich.«

Jasper hustet. »Ist noch lange hin.« Er schiebt seinen Stuhl zurück und verlässt das Zimmer.

Als sie allein an dem langen Esstisch sitzt, spürt Rosalind, wie sich die Dienstboten trippelnd nähern, und setzt ein Lächeln auf.

»Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Ma’am?«

»Perfekt. Danke.«

Später, als sie in ihrer neu installierten Badewanne liegt, ruft Rosalind Betty zu: »Dieses Mädchen, Jaspers Kind, wie alt ist es eigentlich?«

Bettys sommersprossiges Gesicht erscheint an der Tür. »Gerade vier geworden, Ma’am. Hatte letzte Woche Geburtstag, um genau zu sein.«

»Entwickelt sie sich gut, wissen Sie das?«

»Ich glaube schon, Ma’am. Hat schon alle Buchstaben gelernt. Cristabel ist wirklich lustig. Gestern …«

»Könnten Sie mir ein Handtuch bringen, Betty?«

»Sofort, Ma’am.«

Rosalind lässt sich in ihrer neuen Wanne genießerisch vor und zurück gleiten, bis Betty mit dem Handtuch kommt, dann hievt sie sich geräuschvoll aus dem Wasser und ist wieder der Schwerkraft unterworfen.

Als sie am Frisiertisch sitzt, spielt sie zerstreut mit dem Inhalt ihres Schmuckkästchens, während Betty ihr die Haare bürstet. »Betty, sieht Cristabel eigentlich ihrer Mutter ähnlich? Ich habe nie ein Foto von ihr gesehen.«

Betty verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. »Schwer zu sagen, Ma’am. Mrs Annabel, Gott sei ihrer Seele gnädig, hatte das, was man vielleicht ausgeprägte Gesichtszüge nennen könnte.«

»Aha«, sagt Rosalind und betrachtet sich selbst im Spiegel, um sich ihres eigenen Gesichts zu vergewissern. Seiner schönen Flächen. Und seiner Sicherheit.

Betty sagt: »Ich habe Ihr rotes Gewand ausgelassen, wie Sie gewünscht haben, Ma’am. Es wurde an der Taille zu eng, nicht wahr? Freut mich, dass Sie Ihren Appetit wiederhaben.«