Eine schlafende Frau

August, 1920

Eines Sommernachmittags sagt Willoughby: »Das war früher das Schlafzimmer meiner Mutter. Damals sah es völlig anders aus.«

»Und zwar wie?« Rosalind blickt von den Stoffmustern auf, die sie gerade durchblättert. Sie ist im siebten Monat und liegt mit einem geblümten Nachthemd und dazu passenden Bettjäckchen im Bett.

Willoughby hat seinen langen Körper auf dem zerbrechlichen Stuhl drapiert, der neben ihrem Frisiertisch steht. Betty ist im angrenzenden Badezimmer und putzt das neue Waschbecken. Ein Geschenkkarton liegt auf dem Boden, mit halb offenem Deckel, und aus einer Ecke ergießt sich etwas Hellgrünes, Seidiges, wie eine Flüssigkeit.

Er sagt: »Mama hatte eine Schwäche für eine begräbnisartige Einrichtung. Die Fenster waren geschlossen gegen mögliche Infektionen. Die Vorhänge vorgezogen, um die Möbel zu schützen. Ich musste hier neben ihrem Bett im Zwielicht sitzen, während sie mir aus der Bibel vorlas.«

»Die einzigen Bücher, die meine Mutter für akzeptabel hält, sind die Bibel und Debrett’s. Die feine englische Art «, erwidert Rosalind. »Sie ist der Meinung, dass Lesen für Frauen eine nicht zuträgliche Tätigkeit sei, und hat mir geraten, nie einen Geschmack für Romane zu entwickeln.«

»Sie sind ein Fan von Zeitschriften«, sagt Willoughby und streicht sich glättend über den Schnurrbart.

»Ich mag Bilder lieber als die Geschichten.«

»Ich auch.«

»Ich bin meiner Mutter selbstverständlich dankbar«, sagt Rosalind nach einer Pause.

»Ich nicht. Ich konnte gar nicht richtig atmen neben ihr. Neben meiner Mutter, meine ich natürlich.« Willoughby fährt sich durchs Haar, schaut sich im Zimmer um. »So gefällt es mir viel besser. Auch mit dieser schönen geblümten Tapete.«

Rosalind zwinkert ihm zu. »Rosendamast. Von Haynes in Paddington. Freut mich, dass sie Ihnen gefällt. Sie gefällt Ihnen doch, oder?«

Willoughby lacht, und sein Lachen hat einen vollen, dunklen Klang. »Ja. Die Bewohnerin dieses Zimmers ist auch eine wesentliche Verbesserung. Obwohl ich sie außerhalb dieses Zimmers kaum zu sehen bekomme.«

»Ich hoffe, ich bin bald wieder auf den Beinen. Dr. Rutledge hat gesagt, ich soll mich ausruhen«, erklärt Rosalind. »Aber eigentlich ist es gar nicht so unangenehm. Ziemlich schlaffördernd. Ich liege hier und stell mir die Partys vor, die ich im Herbst und zu Weihnachten hier geben werde. Ich liege hier und stelle mir die Partys vor und was ich anziehe, und alles andere, was damit zu tun hat. Danach mache ich die Augen zu und denke an gar nichts. Ich halte einfach eine Weile ganz still, und alles geht ohne mich weiter, fast so, als wäre ich überhaupt nicht hier. Komisch, oder?« Während dieser kleinen Rede werden ihre Hände rastlos, und sie wickelt sich ihre Haare um die Finger.

Willoughby setzt sich zurecht. »Ich freu mich schon auf diese imaginären Partys.«

Im Badezimmer dreht Betty jetzt die Hähne im neuen Waschbecken auf. Die Rohre geben ein dröhnendes Rauschen von sich.

Willoughby wirft Rosalind ein Lächeln zu, als er aufsteht. »Ich sollte Sie jetzt ruhen lassen.«

Rosalind sieht ihm nach, wie er das Zimmer verlässt.

Willoughby stattet Rosalind in ihren letzten Schwangerschaftswochen weiterhin Besuche ab, um ihr die gewünschten Artikel aus den Geschäften in Mayfair zu bringen. Nachdem sie die Einkäufe begutachtet hat, schläft Rosalind oft ein. Dabei fällt Willoughby auf, dass er noch nie zuvor eine Frau so hat schlafen sehen. Wenn er sonst neben einer schlafenden Frau liegt, dann schläft auch er tief und fest. Oder er sammelt gerade seine Sachen zusammen, während er auf Zehenspitzen zur Tür geht. Nun bleibt er auf seinem Stuhl am Frisiertisch sitzen und murmelt Betty zu: »Ich bleibe noch ein bisschen hier sitzen, vielleicht wacht sie ja wieder auf. Vielleicht könnten Sie ihr ein paar frische Blumen besorgen?«

Er betrachtet gerne Rosalinds Gesicht, das im Schlaf aussieht wie das eines Kindes, unschuldig und wütend zugleich. Manchmal runzelt sie die Stirn, als würde sie sich konzentrieren, manchmal zucken kurz hintereinander ihre Mundwinkel, als würde sie eine Reihe von Menschen grüßen. Manchmal – und das ist das Allerseltsamste – kann er sehen, wie sich das Baby in ihrem Bauch bewegt, wenn ihr Nachthemd kurz von einem Miniaturfuß oder einer Miniaturfaust nach außen gedehnt wird.

Mrs Hardcastle hat ihn böse angeschaut, als sie ihn eines Nachmittags sah, wie er aus Rosalinds Zimmer kam und die Tür behutsam hinter sich zumachte. »Mrs Seagrave braucht ihren Schlaf, Mr Willoughby.«

»Und genau den kriegt sie jetzt«, antwortete er und hob die Hände, um seine Unschuld zu beteuern.

Selbstverständlich ist er sich des Körpers unter dem Nachthemd sehr wohl bewusst, immer noch schlank, trotz des vorstehenden Bauches. Eine schlafende Frau ist sich nicht bewusst, wie ihre Knöpfe offen stehen können oder wie sich ihr Bettzeug um ihre Beine wickeln kann.

Aber da ist noch etwas anderes: Er genießt diese Momente, weil sie jeder anderen Zeit, die er mit einer Frau verbracht hat, so unähnlich sind. Er ist ein Mann, dem sich Türen und Nachthemden immer leicht geöffnet haben. Die Welt ist für Willoughby gänzlich zugänglich, sie liegt offen herum wie Kriegsbeute, die nur darauf wartet, dass er sie sich nimmt. Doch seine Wortwechsel mit Rosalind sind durch Einschränkungen und Besitzverhältnisse geregelt. Sie fühlen sich schicklich, vornehm und wohltuend an. Das Vorlegen von Geschenken in einem stillen Zimmer. Das Aufziehen eines Geschenkbandes von einem Paket. Mehr nicht.

Hinter dem Schleier ihrer Augenlider durchstreift Rosalind die Dunkelheit. Ihr ist etwas ganz Besonderes aufgefallen. Sie spürt Willoughbys Gegenwart am intensivsten, wenn sie die Augen zumacht. Sie spürt, dass er irgendwo in der Dunkelheit neben ihr ist, und sie schweben umeinander herum wie Luftballons. Sie hat das Gefühl, dass sie sich nur vorwärtsbewegen müsste, um auf ihm zu landen, auf dem Lehnstuhl neben dem Frisiertisch, wo er das Bein hin- und herpendeln lässt und in einem Zimmer wartet, das fast so aussieht wie das, in dem sie jetzt ist.

Sie kann immer schlechter einschlafen, wenn er im Zimmer ist, obwohl sie es pflichtschuldigst versucht. Sie konzentriert sich auf die Schwärze hinter ihren Augen und versucht mit Willenskraft, durch sie hindurchzukommen, wobei sie darauf achtet, sich möglichst wenig zu bewegen, und ihre Atmung kontrolliert. Manchmal driftet sie weg, kommt dann aber wieder zurück, driftet weg und kommt wieder zurück, wie ein festgemachtes Boot, das sich mit den Gezeiten bewegt.

Draußen brennt der Sommer vor sich hin. Das Sonnenlicht, das durch die geblümten Gardinen fällt, taucht das Zimmer in ein warmes Rosa, wie das Innere einer Muschel oder das fleischige Glühen der Welt, wie es von einem Kind gesehen wird, das seine Finger an die Augen drückt.

Eines Tages in der letzten Augustwoche liegt Rosalind auf ihrem hohen Bett, elegant in eine Maskerade von Schlaf gehüllt. Betty ist in die Küche gegangen, weil Willoughby ihr aufgetragen hat, eine Karaffe Wasser zu holen. Plötzlich hört Rosalind seinen Stuhl knarzen. Er bewegt sich. Und sie weiß, dass er weiß, dass sie nicht schläft, und bei diesem Gedanken wird ihr die Kehle eng. Seine Stimme ertönt, ganz weich und nah an ihrem Ohr. »Bleib genau so, wie du jetzt bist.«

Sie hört, wie ein Stuhl über den Holzboden gezogen wird, dann das Geräusch, als er sich neben sie setzt. Sie bleibt mucksmäuschenstill liegen, unfähig zuzugeben, dass sie ihm etwas vorspielt, obwohl er ja schon mit ihr gesprochen hat. Die Dunkelheit hinter ihren Augen ist zu nichts zusammengeschrumpft. Sie existiert nur noch in ihrer Kehle, in ihrer Nasenspitze. Sie könnte für immer in diesem einen Moment leben – dann wird der Stuhl wieder zurückgezogen, und sie hört, wie er das Zimmer verlässt.

Am nächsten Tag kommt er wieder. Betty wird wieder weggeschickt. Der Stuhl neben dem Bett.

Ein paar Tage später kommt er wieder. Betty geht hinaus. Der Stuhl wird näher herangezogen.

Er kommt wieder, und es ist der erste Septembertag, und er legt ihr die Hand auf den Oberkörper, an die Stelle, wo ihr Bauch anfängt vorzustehen. Er lässt sie ganz kurz dort liegen, als würde er irgendetwas überwachen, denn streckt er kurz die Finger aus, wie ein Pianist, der eine Oktave greifen will, sodass sein Daumen die Unterseite ihrer Brust berührt. So bleiben sie eine Weile und rühren sich nicht, bevor er seine Hand wieder wegnimmt. Doch einen Augenblick später kommt sie wieder, landet auf ihrer Seite, dann bewegt sie sich weiter zu ihrem Handgelenk, ihrer Taille, ihrer Kehle.

Rosalind, die mit geschlossenen Augen daliegt, wird sich der Bewegungen seiner Hand erst dann bewusst, wenn sie kurz auf ihrem Körper verweilt. Als wäre sie ein großer Berg und seine Hände die winzigen, federstrichartigen Berührungen von Forschern mit ihren Karten und Kompassen, die sich langsam ihren Weg über die schlummernde Erde bahnen und ihre Seile um sie werfen.

(Aber wo ist Jasper? Der ist im Stall, beim Pferderennen, auf einer Auktion, in der Kirche, im einzigen anständigen Restaurant in Sherborne, im Gentlemen’s Club in Marylebone: Er ist ein paar Wochen vor dem Geburtstermin überall da, wo er nicht in der Nähe seiner Frau ist. Er lebt in einem dünnen Rand von üblichen Stätten, die ihm den Luxus gestatten, weder hinauf noch hinunter, weder nach rechts noch nach links zu schauen, sondern einfach nur geradeaus, meistens durch den Boden eines Brandyglases, weil er nirgendwo anders hinschauen kann.)

Und als ihr Fruchtwasser abgeht, während Willoughby gerade über ihr ist in ihrem stickigen Schlafzimmer an einem warmen Septemberabend, ist es, als wäre Rosalind geschmolzen, von Fleisch in Flüssigkeit verwandelt, und hätte ihren eigenen Körper hinter sich gelassen.