Die Jagd am zweiten Weihnachtsfeiertag

Dezember 1914

Sechs Jahre früher

Willoughby. Willoughby! Jasper tat sein Bestes, um seinen Bruder zu ignorieren. Es war das erste und, so Gott wollte, letzte Kriegsweihnachten, und der jüngere Seagrave-Sohn war auf Heimaturlaub. Da er eine Pause vom Soldatendasein machte, lief Willoughby mit weißen Jodhpurhosen, scharlachroter Jacke und Zylinder über die Wiese vorm Haus, während er ein Glas Portwein kippte und das tänzelnde Pferd einer vollbusigen blonden Erbin hielt. Jasper hörte, wie die Erbin rief: »Wie tapfer! Wir denken alle an Sie!« Und er wusste, es waren nicht die gesammelten britischen Truppen, die sie und die anderen englischen Frauen im Sinn hatten, wenn sie in Dorfkirchen knieten, um zu beten, oder über das Meer blickten zu dem von Schlachten gezeichneten Frankreich – es war der verdammte Willoughby.

Willoughby Seagrave war eine gesellschaftliche Berühmtheit und, was Jasper besonders aufstieß, vor allem berühmt unter den Frauen. Jasper hatte beobachtet, wie sogar die schäbigsten alten Jungfern lustvoll seinem langbeinigen Bruder hinterherschauten. Die schielenden Übriggebliebenen, die Jasper auf die Bezirksbälle begleiten durfte, schauten ihn nie so an. Wenn sein Blick zufällig auf sein Spiegelbild fiel, wusste er auch, warum. Er war ein gesetzter Mittvierziger, dessen Gesicht aussah wie mit Innereien gefüllter Schafsmagen, und er schaute sich ständig um, als versuchte er, die Antwort auf etwas zu finden, was alle anderen wussten.

Jasper hatte gehofft, dass sich die Dinge ändern würden, wenn er erst mal das Familienoberhaupt war. Dass man ihm dann mehr Respekt entgegenbringen würde. In der Tat sah es hoffnungsvoller aus, nachdem sein Vater endlich die Freundlichkeit besessen hatte, sein Leben auszuhauchen – er fiel nach dem sonntäglichen Mittagessen um wie ein gefällter Baum, als wollte er zeigen, wie ein Engländer zu sterben habe.

Das gesamte Dorf säumte den Weg zur Kirche an dem verschneiten Tag, an dem das Begräbnis stattfand, kurz vor Weihnachten 1913, und Jasper ging hinter den Männern her, die den Sarg trugen, wobei ihm bewusst war, dass ihm die Blicke der Dorfbewohner folgten. Als er hinter der Leiche seines Vaters herging, hörte er im Geiste das Lied vom guten König Wenzeslaus. Er trat in die Fußspuren seines Herrn, wo der Schnee zerdrückt war .

Es wäre falsch gewesen, zu behaupten, dass er auf der Beerdigung froh gewesen wäre. Er empfand die Abwesenheit seines Vaters als einen riesigen, pfeifenden Raum. Doch als die Trauergäste den Friedhof verließen, nachdem sie Robert in die Krypta gelegt hatten, neben seine Frau und ihre ganzen Babys, ertappte sich Jasper dabei, wie er anfing, die Melodie zu summen – Bringt mir Fleisch und bringt mir Wein  –, und als er schließlich wieder im Haus war (in dem Haus, das jetzt ihm gehörte), goss er sich einen Brandy ein und sang leise: Du sollst den Zorn des Winters sehn, dein Blut gefriert nicht zu Eeeis .

Doch bald wurde klar, dass sich nichts geändert hatte. Wenn Jasper Ortsansässige traf, wollten sie nur über seinen Vater reden, und sie meinten, dass es nie wieder so einen geben würde wie ihn. Robert war mit der Gabe der Vergesslichkeit gesegnet gewesen, wofür ihn die Dorfbewohner zu bewundern schienen. Jedes Mal, wenn Robert auf seinem Pferd vorbeigaloppiert war, hatte er ihnen so vage zugewinkt, als wäre er blind und mache lediglich eine Geste in die Richtung, in der angeblich Leute standen. Wenn er jemals zu Fuß erschien, gab es ein hastiges An-den-Hut-Tippen und Knicksen, das er durchquerte wie ein Forscher das Unterholz im Dschungel. Und wenn Robert ausnahmsweise ein Individuum in der Masse erkannte – ein besonders niedliches Kind, einen erfreulich tüchtigen Stallburschen –, dann hatte dieser Mensch das Gefühl, als hätte sich das Auge Gottes auf ihn gerichtet.

Jasper war nicht und ist nicht Gott und wird es auch nie sein.

»Alles in Ordnung, Sir?«, erkundigte sich der Stalljunge, der Jaspers Pferd hielt.

»Hmpf«, erwiderte Jasper und sah zu, wie die begeisterte Erbin sich von ihrem Pferd abstieß, um ein Schlückchen aus Willoughbys Glas zu nehmen. Ihr Vater hatte nie erlaubt, dass Frauen bei der Jagd mitritten, weil er der Meinung war, dass sie einem mit ihren unberechenbaren Reaktionen den ganzen Spaß verdarben, doch Willoughby hieß sie mit offenen Armen willkommen.

Jasper stellte seinen Fuß im Reitstiefel in die starken Hände des Stallknechts und ließ sich in den Sattel heben, um sein Pferd Guinevere sofort vom Rest der Jagdgesellschaft wegzutreiben.

Glücklicherweise hielt Willoughby nicht lange durch. Nach einer Stunde im Sattel erklärte er, der Fuchs, den sie jagten, sei ein unerträgliches Tier, bellte: »Einen Portwein, einen Portwein, ein Königreich für einen Portwein!«, und führte sein Gefolge und die hechelnden Hunde über die Felder zum Haus zurück.

Jasper brauchte eine weitere Stunde entschlossenen Reitens, bevor er Trost auf dem Land fand: das uhrwerkartige Knattern eines aus einer Hecke aufflatternden Fasans, das Meer in der Ferne, das vom selben ausgewaschenen Weiß war wie der Himmel.

Seine treue Stute Guinevere trug ihn weiter, bis sie ganz allein waren. Er begann sich fast schon gelassen zu fühlen, als eine Frau auf ihrem Pferd neben ihn galoppierte. Sie trug eine schwarze Reitjacke und einen Hut mit Schleier, und sie ritt nicht im Damensattel, sondern mit gespreizten Beinen, wie die Männer.

»Na, versuchen Sie zu entkommen?«, fragte sie und zügelte ihr Pferd zu einem gleichmäßigen Trab.

Jasper brummte vor sich hin.

»Ganz schön frühreif, Ihr Bruder, was?«, sagte sie. »Man hat mich schon gewarnt.«

»Der wird sein verdammtes Pferd noch in Grund und Boden reiten, verdammt noch mal«, meinte Jasper.

»Schade, dass wir das Pferd nicht warnen konnten. Aber ist das nicht ein wunderbares Feld für einen Galopp? Kommen Sie!«

Und schon war sie weg. Guinevere machte einen begeisterten Hüpfer, und Jasper merkte, dass er der Reiterin folgte. Sie donnerten über die harte Wintererde wie die Jockeys.

Am anderen Ende des Feldes brachte die Frau ihr Pferd zum Stehen. Ihre Hände waren fest, aber sanft mit dem Gebiss, fiel Jasper auf. Sie hatte nicht viel mit dem Zügelgezerre am Hut, zu dem Willoughby und seine rüpelhaften Freunde neigten.

»Hier in der Nähe gibt es ein ziemlich anständiges Gasthaus«, sagte sie. »Wir könnten diesen wunderbaren Tieren hier eine wohlverdiente Pause gönnen.«

Sie führte ihn dorthin und schwang sich dann mit einem jungenhaften Sprung aus dem Sattel. Jasper stieg ab und spürte wie jedes Mal den Statusverlust, sobald er auf der Erde stand. Sein schwacher Knöchel gab unter ihm nach, sowie seine Füße auf den Boden auftrafen.

Die Frau, die sich gerade den Dreck von den Stiefeln kratzte, schaute auf. »Reitunfall?«

Jasper ging seine übliche Liste mit passenden männlichen Ausreden für sein Hinken durch, aber ihr gerötetes Gesicht, das so freundlich wirkte wie das eines Labradors, ermunterte ihn ganz unvermutet, die Wahrheit zu sagen. »Kiesstrand. Whisky.«

»So ein Pech!«, rief sie, während sie ihre Pferde festbanden. »Stört es Sie?«

»Ist nervig auf der Pirsch. Und ab und zu gibt das Ding unter mir nach.«

»Ich habe ein Pferd mit einem lahmen Bein«, sagte sie, während sie die Tür zum Pub aufstieß, der sich unter einem Reetdach duckte. »Hat mich früher immer an den unglaublichsten Orten abgeworfen, aber dann hat er gelernt, zu schauen, wo er hintritt. Sie wissen ja, wie nützlich das bei einem Jagdpferd sein kann. Ich würde ihn gerne nächstes Jahr in der Zucht einsetzen.«

»Tatsächlich? Ich suche nämlich noch einen Deckhengst für Guinevere.«

Jasper konnte kaum schnell genug zur Bar hinken. Nach zwei Gläsern Brandy saßen sie bald am Kamin in einem Nebenraum und arbeiteten sich in leichtem Galopp durch alle seine Lieblingsthemen: Pferde, Jagd, Pferdezucht, Blutlinien. Sie hieß Annabel Agnew. Ihr schwarzes Haar stahl sich in drahtigen Locken aus ihrem Haarnetz, und sie hatte eine Schlammspur an der einen Wange. Er hätte ihr sagen müssen, dass sie sie abwischen sollte, aber … vielleicht doch noch nicht.

»Hätte nicht gedacht, dass sich das schöne Geschlecht so für Pferde interessiert«, sagte Jasper in einem, wie er hoffte, scherzhaften Ton.

»Ich habe sie schon immer geliebt. Jetzt komme ich öfter zum Reiten, weil ich meinem Vater helfen muss, unser Gut zu führen. Mein großer Bruder ist in Frankreich gefallen, also muss ich ran, bis mein kleiner Bruder gelernt hat, wie alles läuft. Er ist gerade in Harrow. Hoffe, da bleibt er auch, bis der Krieg vorüber ist.«

»Schreckliche Geschichte. Aber die Deutschen werden nicht lange durchhalten. England wird immer seinen Erwartungen gerecht werden. Was führt Sie nach Chilcombe?«

»Ich habe auch noch eine kleine Schwester. Das war die, die vorhin vom Pferd gefallen ist, bevor sie auch nur aufgestiegen ist. Ich habe den strengen Auftrag, sie von Ihrem Bruder fernzuhalten. Was ich – wie mir gerade auffällt – total vernachlässige. Sie ist hin und weg, sobald sie einen Mann in Uniform sieht.«

»Dann sind Sie also die Anstandsdame, was?«

»Die altjüngferliche Schwester wird oft gebraucht, um ihre Geschwister davon abzuhalten, allzu viel zu unseren Kriegsbemühungen beizutragen.«

Jasper lachte schallend. »Dann sollten wir wohl mal zurück nach Hause.«

Annabel verzog das Gesicht und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Wie schnell kann Ihr ruinöser Bruder schon sein?«

»Tja. Ich schätze, heute sind mehrere junge Frauen im Hause.«

»Die er alle wahrscheinlich bezirzen muss.«

»Ganz genau.«

»Dafür könnte er ungefähr so lange brauchen, wie wir benötigen, um noch ein Glas zu trinken.«

»Da könnten Sie recht haben.«

»Also, Ihre Guinevere – erzählen Sie mal, wo Sie die gefunden haben. Wirklich ein ganz beeindruckendes Tier.«

Drei Gläser Brandy später, als sie im Trab zurück nach Chilcombe ritten, fiel Jasper auf, dass sie auf dem Pferd gar nicht so groß aussah. Im Pub, als sie an der Kaminecke gestanden hatten, hatte sie ihn um ein gutes Stück überragt, aber im Sattel war er – dank Guinevere – zumindest eine halbe Handbreit größer als sie.

Jasper und Annabel stiegen vor dem Haus ab und übergaben ihre Pferde dem Stalljungen. Jasper hinkte schnell zum Eingang, um sie hineinzugeleiten, doch kaum hatte er die Tür aufgestoßen, dröhnte ihm ausgelassenes Gelächter entgegen.

Als er die Eichenhalle betrat, sah er Willoughby in einem Lehnstuhl am Kamin sitzen – einem Lehnstuhl, den er höchstwahrscheinlich aus dem Salon hereingeschleift hatte –, umgeben von seinen Gefolgsleuten, die Portwein tranken und unbekümmert Holz auf ein wildes Feuer warfen. Eine Frau saß neben Willoughby auf dem Boden, trug die untere Hälfte einer Ritterrüstung und blies – eindeutig ohne Vorkenntnisse – in ein Horn. Die anderen Teile der Rüstung waren auf dem Boden verstreut wie abgehackte Gliedmaßen.

»Ha! Diesmal hättest du fast einen Ton rausgekriegt, Schätzchen«, sagte Willoughby.

»Diese Rüstung ist kein Kostüm«, schnauzte Jasper ihn an. Als sie seine Stimme hörten, verschwanden die Bediensteten, die auf der Galerie herumgelungert hatten, schnell in die Schlafzimmer.

»Jetzt erst zurückgekommen, Jasper? Muss ja ein ziemlich raffinierter Fuchs gewesen sein«, sagte Willoughby, ohne sich umzuschauen.

Die Frau versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, und hickste laut. Es war die blonde Erbin.

»Diese Frau sollte auf ihr Zimmer gebracht werden«, sagte Jasper, der merkte, wie sich sein Gesicht rötete. »Wir haben Gästezimmer für unsere Gäste. Sie sollte sich in einem davon hinlegen.«

Willoughby stieß mit dem Speer, der zur Rüstung gehörte, ein Holzscheit aufs Feuer. »Machen wir das so, Bruderherz? Bitten wir unsere Gäste, in ihren Zimmern zu bleiben?«

»Das habe ich nicht gesagt, Willoughby.«

»Jasper, wir sind für kurze Zeit von einer ziemlich blutigen Angelegenheit zurückgekehrt, und wir haben alle einen guten Kampf gekämpft. Da wirst du uns doch ein paar Gläschen nicht missgönnen?«

Jasper wollte ihm gerade gehörig die Meinung sagen, da hörte er ein seltsames Geräusch. Annabel musste unbändig lachen. Er hätte gleich wissen müssen, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war. Sie musste eine von diesen wahnsinnigen alten Jungfern sein. Er fragte sich schon, ob sie überhaupt jemals aufhören würde, als sie sich mit den Händen auf die Flanken schlug und sagte: »Ihr werdet es nicht glauben, aber genau das hat Jasper vorhergesagt.«

»Was habe ich gesagt?«, wollte Jasper wissen.

»Ich habe darauf bestanden, dass Jasper euch unverschämte Lümmel rauswirft, sollten wir bei unserer Rückkehr ein solches Flirtszenario vorfinden«, sagte Annabel. »Aber er sagte, ich könnte euch Jungs, die gerade erst von der Front zurück sind, doch ein paar Drinks nicht missgönnen.«

Jasper blickte zu Willoughby, der sich umgedreht hatte, um Annabel anzuschauen.

»Er hat sogar ein bisschen Geld in einer Bar im Dorfpub gelassen, damit ihr Jungs vor dem Dinner ein, zwei Gläser heben könnt«, fuhr sie fort. »Stimmt doch, Jasper?«

Jasper machte den Mund auf, und Annabel lieferte den Text: »Was haltet ihr davon, Kameraden – noch ein paar Drinks in der örtlichen Gastronomie?«

Die Männer schauten sich an, dann rief der eine, der Perry hieß: »Großartige Idee, Jasper, alter Junge.« Wenig später setzten alle ihre Hüte auf und marschierten hinaus, während sie die Erbin den helfenden Händen von Mrs Hardcastle überließen.

Willoughby, der die Nachhut bildete, blieb vor Annabel stehen. »Ich glaube, ich hatte noch nicht das Vergnügen«, murmelte er, während er vorsichtig die Knöpfe seiner Jacke schloss.

»Annabel Agnew«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Von der Seite konnte Jasper sehen, dass sie das Profil eines römischen Kaisers hatte.

»Kannte mal ein Mädchen in Hampshire, das so hieß«, sagte Willoughby, als er ihre Hand nahm. »Sie wollte aber immer lieber Belle genannt werden.«

»Annabel«, sagte Annabel.

»Eine Freundin von Jasper, richtig?«

»Allerdings«, antwortete sie, und ihre Stimme war wie ein Peitschenschlag. »Ich glaube, ich habe Ihren Namen auch nicht mitbekommen.«

Willoughby lächelte. »Willoughby Seagrave, zu Ihren Diensten.«

»Wunderbar«, sagte sie.

Jasper fing den Blick auf, der zwischen den beiden hin- und herging, den einer strengen Lehrerin vor ihrem mutwilligen Schüler: ein gleichmäßiges Kräftemessen.

Nachdem Willoughby gegangen war, wandte sich Annabel zu Jasper: »Es gibt hier doch einen Dorfpub, oder?«

»Ja. Das ›Schiffswrack‹.«

»Gott sei Dank. Ich hatte das einfach so ins Blaue gesagt und mich darauf verlassen, dass es einen gibt. Schicken Sie am besten einen Botenjungen runter mit Anweisungen für den Wirt – nicht, dass dieses zusammengewürfelte Gesindel da hinkommt, und dann gibt es nichts zu trinken.«

»Verdammt. Ja, Sie haben recht.«

»Nur keine Eile. Keiner von denen sah so aus, als wäre er noch in der Lage, schnell zu gehen.«

Jasper rief den jüngsten Diener zu sich und schickte ihn hinunter zum »Schiffswrack«, mit der Anweisung, Willoughby und seinen Gästen alles zu geben, was sie wollten. Dieser Akt der Großzügigkeit befriedigte ihn auf eine unerwartete Art. Er fragte sich, ob er bei besonderen Gelegenheiten dasselbe für sein Personal tun sollte. Er überlegte, ob er vor Annabel Agnew laut über diesen Einfall nachdenken sollte. Er beschloss, es zu machen, während er ihr das Haus zeigte.

Es brauchte einen Gang durchs Arbeitszimmer, das Esszimmer, den Garten und die Ställe, bis er den Mut beisammenhatte, aber irgendwann, als sie wieder im Salon standen, sagte er: »Könnte sein, dass ich mir diese Idee von Ihnen borge. Drinks im Schiffswrack. Fürs Personal, meine ich. Zu Silvester. Vielleicht ein bisschen Feuerwerk für die Dorfkinder.«

»Famose Idee.«

»Danke fürs Einschreiten vorhin«, murmelte er. »Ich bin da vorhin völlig unvorbereitet losgeprescht.«

»Gern geschehen.«

»Willoughby bringt mich furchtbar in Rage.«

»Dann halten Sie ihn am besten vom Haus fern«, sagte sie, und wenn diese Aussage von irgendjemand anders gekommen wäre als von der direkten Annabel, hätte Jasper sich gefragt, ob es als Flirt gemeint war, aber bei ihr schien es einfach nur eine aufrichtige Einschätzung der Situation zu sein. Obwohl er nicht hätte schwören können, nicht doch ein kleines Funkeln in ihren Augen gesehen zu haben. Dann merkte er, dass er ihr Gesicht schon eine ganze Weile gemustert hatte, während er an seinem Schnurrbart kaute.

»Ich kau immer drauf rum, wenn ich nachdenke«, sagte er und glättete seinen Schnurrbart wieder.

Annabel hielt eine der losen Strähnen hoch, die aus dem Haarnetz geglitten waren – die Spitzen waren gebrochen und voller Spliss. »Geht mir genauso.«

Eine von Jaspers Händen beschäftigte sich immer noch mit seinem Bart, die andere fühlte sich plötzlich aufgeregt und leer an. Man hörte nur das Geräusch der brennenden Holzscheite im Kamin, ihr Knistern und Seufzen, und seine eigenen Atemzüge.

Annabel hielt immer noch ihre Haarsträhne in der Hand. »Habe Hunde immer beneidet. Die können auf Knochen rumkauen.«

»Ja«, antwortete Jasper. Er konnte jetzt ihren Atem hören, genauso wie seinen eigenen, und die Stille erschien gleich noch umfassender.

»Ich habe mir schon immer viele Hunde gewünscht«, sagte sie und sah ihn mit einer Freimütigkeit an, die absolut erstaunlich war.

»Ich mag sie auch sehr«, sagte er und spürte in diesem Moment, dass jeder seiner Atemzüge sie näher zu ihm zog, obwohl er sich nicht erinnern konnte, dass einer von ihnen beiden sich bewegt hatte.

Dann kam ein Dienstmädchen mit einer Kohlenschaufel herein. »Bitte um Verzeihung, Mr Seagrave«, sagte sie. »Ich dachte, es wären alle weg.«

»Nicht alle«, sagte Jasper und schluckte. »Könnten Sie uns etwas Tee bringen?«

»Und Kuchen«, fügte Annabel hinzu.

Jasper merkte, wie er die bemerkenswerte Miss Agnew anstrahlte. »Ja. Ja, genau. Ganz viel Kuchen.«

Jasper und Annabel verbrachten den Nachmittag am Feuer im Salon. Es war ein ruhiges Zimmer, nach Norden gelegen, mit kühlem Licht und blassgrünen Wänden, an denen Landschaftsgemälde hingen: Rinder im Schnee, Rinder, die durch einen Fluss waten, Rinder, die im Zwielicht an einen Fluss kommen. Sie tranken Tee und aßen Kuchen und unterhielten sich über Pferde und Hunde und danach noch einmal über Hunde und Pferde. Er gab ein paar seiner liebsten geschichtlichen Fakten über die Gegend zum Besten, und wie sich herausstellte, hatte sie auch ein paar auf Lager.

Die Zeit schien außergewöhnliche Sachen zu machen. Einmal schaute Jasper auf die Uhr am Kaminsims, da war es vier, doch als er eine Sekunde später wieder hinschaute, war es schon kurz nach sechs. Dann, als er zuschaute, wie Annabel höchst effizient eine Scheibe Früchtekuchen vernichtete, wobei ihre Wangen in der Hitze des Kaminfeuers rosarot glühten und sie aufsah und seinen Blick auffing, da merkte er, dass er sich jeder verstreichenden Sekunde bewusst war. Als Willoughbys lärmende Gesellschaft vom Gasthaus zurückkam und Annabel aufstand und verkündete, sie müsse vor dem Dinner noch einmal kurz nach ihrer Schwester sehen, war Jasper auf einmal untröstlich.

Im Hinausgehen drehte sich Annabel zu ihm um: »Lust auf einen Ausritt morgen?«

Jasper nickte. Annabel winkte ihm mit einer Haarsträhne und verschwand.

Das Dinner war nicht so schrecklich, wie er befürchtet hatte, obwohl zwei von Willoughbys hirnlosen Freunden neben ihm saßen. Er konnte ihr dummes Geschwätz ertragen, weil er jedes Mal, wenn er aufblickte, Annabel in einem blauseidenen Abendkleid am anderen Ende des Tisches sah. Im Kerzenlicht glänzte ihr Haar so schwarz wie Öl.

Die Männer um ihn herum redeten über den Krieg. Sie konnten es gar nicht erwarten, nach Frankreich zurückzukehren und gegen die Boches zu kämpfen. Im Frühling würden sie wieder da sein. Willoughby prahlte vor der blonden Erbin damit, dass er nach Ägypten abkommandiert worden war, und versprach, ihr eine Pyramide mitzubringen.

Das ist mein Haus, dachte Jasper. Morgen werden diese ganzen Leute abreisen, und es wird immer noch mein Haus sein. Annabel Agnew wohnt in Wiltshire. Wiltshire ist nicht so weit weg.

Mitten im Schlachtenlärm des Esszimmers hob er sein Glas und prostete ihr über den Tisch zu.