Die Seine

Februar 1915

Fünf Jahre früher

»Natürlich bricht es meiner Schwester das Herz«, hatte Annabel gesagt, als sie sich auf einen Lehnstuhl im Salon gleiten ließ. »Seit sie gehört hat, dass der berühmt-berüchtigte Willoughby nach Ägypten gereist ist, liest sie auf einmal Zeitung, und nachdem jetzt die Ottomanen einmarschiert sind, ist sie ganz außer sich.«

»Sie braucht sich keine Sorgen zu machen«, sagte Jasper, der gerade Brandy in zwei Gläser schenkte. »Mein Bruder hat ein Talent dafür, allem aus dem Weg zu gehen, was Ähnlichkeit mit harter Arbeit hat. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er Kamelreiten gelernt hat.«

Annabel lachte. »Gott sei Dank sind Sie ihm überhaupt nicht ähnlich.«

Jasper blieb kurz vor dem Likörschrank stehen. Von dort konnte er aus einem Fenster auf den Rasen blicken, bis zu der Stelle, wo eine Krähe auf und ab ging. Sie erinnerte in ihrer Art an einen Mann, der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte und die Zeit totschlug, während er auf Neuigkeiten wartete. Das Februarwetter war grau und düster, dicker Nebel war vom Meer herangezogen. Es gab nur die Krähe, den Rasen, den Nebel und das Zimmer, in dem Jasper stand.

Was er sagen wollte, als er sich umdrehte, um ihr ein Glas anzubieten, war: »Wollen Sie auch einen Drink?« Doch Jasper Seagrave hatte sich schon immer schwergetan, in der Öffentlichkeit zu reden, deshalb kamen völlig andere Worte aus seinem Mund. Was er sagte, war: »Wollen Sie mich heiraten?«

Annabel nahm ihm den Drink aus der Hand und sagte: »Lassen Sie mich erst mal den hier trinken.«

Jasper wandte sich ab, um hin und her zu laufen, das Gesagte zu bereuen, im eigenen Saft zu schmoren, doch Annabel hatte den Brandy in einem einzigen Schluck ausgetrunken. Dann stellte sie das Glas auf einen Beistelltisch und sagte: »Ich glaube, das würde ich gern. Ja, das würde ich wirklich gerne tun.«

Als sie einen Monat später in der Dorfkirche heirateten, fiel die Feier bescheiden aus, weil so viele im Krieg waren. Sie verbrachten ihre Flitterwochen im Lake District, im schönen Cumberland. Hinterher würde Jasper sich an diesen Tag, diese ersten Wochen, in hell aufblitzenden Bildern erinnern, wie an Szenen, die man aus einem fahrenden Zug beobachtet hat. Es kam ihm bemerkenswert vor, so glücklich zu sein, während die Nachrichten aus dem Ausland immer düsterer und besorgniserregender wurden. Doch Annabel Agnew – Annabel Seagrave – machte alles bemerkenswert.

Als sie nach Dorset zurückkehrten, fühlte er sich irgendwie größer. Er war davon überzeugt, dass die Dienerschaft ihn jetzt ganz anders ansah. Annabel war so praktisch veranlagt, so fröhlich: Ihre starken Hände blätterten die Haushaltsbücher durch oder strickten dicke Schals für die Truppen oder befestigten einen Steigbügel an Guinevere oder prüften die Zähne bei einem ihrer neuen Hunde. Sie erwies sich als rundum kompetent.

Sie waren sich nicht sicher, ob sie jemals ein Kind bekommen könnten. Der Reitunfall, der sie gezwungen hatte, immer wie ein Mann auf dem Pferd zu sitzen, statt im Damensattel zu reiten, hatte ihr Becken beschädigt. Es gab berechtigte Befürchtungen. Annabel war über dreißig und Jasper Mitte vierzig. Manchmal glaubte er, auch ohne Erben glücklich sein zu können, einfach weil er jeden Morgen neben ihr aufwachte. Dann saß sie mit gerunzelter Stirn da, während sie mit einem Bleistift hinterm Ohr durch ihre Lesebrille in ihr Notizbuch schaute, bevor sie sich mit einem Lächeln zu ihm umdrehte. Sie war manchmal vergnügt, aber immer bei der Sache, wenn er sprach. »Verstanden«, sagte sie dann, und sie hatte ihn wirklich jedes Mal verstanden.

Sie bildeten ihre Pferde gemeinsam aus und redeten darüber, einige davon für Rennen anzumelden. In dem Jahr fuhren sie sogar hoch nach Ascot und dachten, es hätte an dem neuen Korsett unter ihrem Kleid gelegen, dass sie nach dem ersten Rennen ohnmächtig wurde. Sie war es nicht gewohnt, etwas anderes anzuhaben als ihre Reithose, und als sie nach Hause kamen, verkündete sie, sie wolle nirgendwo mehr hingehen, wo sie Korsetts tragen müsse. Sie wussten nicht, dass sie ohnmächtig geworden war, weil sie ein Kind erwartete. Einen Monat später, als klar war, dass Mrs Seagrave schwanger war, hatten sie gelacht und geweint, bis Annabel darauf bestand, dass sie aufhörten, weil sie sonst die Hunde nervös machten.

Sie litt während der gesamten Schwangerschaft. Ihr beschädigtes Becken verursachte ihr schlimme Schmerzen. »Ich hoffe, es ist ein Junge«, sagte Jasper, als er einen der neuen Welpen zu ihr hereinbrachte. »Ich kann dir nicht zumuten, das noch einmal durchzustehen.«

Willoughby reagierte überraschenderweise mit Bewunderung. Sein Telegramm aus Kairo lautete:

GROSSARTIGE NEUIGKEITEN STOP GROSSARTIGE FRAU STOP BIN ÜBERGLÜCKLICH FÜR EUCH BEIDE STOP W

Jasper hegte den Verdacht, dass Willoughby sich Gedanken machte, was geschehen würde, wenn Jasper nie einen Erben zeugte, denn dann würde sich das schwere Gewicht des Familiennamens verlagern und zu Willoughby hinübergleiten, und kein Kamel in Persien konnte so schnell galoppieren, dass er hätte verhindern können, unter dem Gewicht begraben zu werden.

Aber was machte es schon, denn Chilcombe gehörte jetzt wirklich Jasper, auf eine Art, wie er es noch nie empfunden hatte. Wenn Annabel, seine Frau (seine Frau!), und er Arm in Arm über den Rasen gingen, spürte er, dass er an den Ort zurückkehrte, auf den er schon immer ein Recht gehabt hatte. Er folgte ihr, wenn sie durchs Haus ging, schaute ihr zu, wie sie die Türen aufmachte, die Fenster aufmachte, die Schränke aufmachte und die absurdesten Dinge fand: eine Harfe (die sie – fast – spielen konnte), ein ausgestopftes Elefantenbaby (das sie auf Räder montiert hatte, damit ihr Kind darauf reiten konnte) und Jaspers alte Ausgabe der Ilias , die sie gemeinsam dem Baby in ihrem Bauch vorlasen.

Annabel war erfrischend, sie war der Wind, der einem ins Gesicht schlug, wenn man sein Pferd angaloppieren ließ, und sie war der wärmende Brandy, der zu Hause am Kamin auf einen wartete. Sie würden im Frühjahr ein Kind bekommen. Einen Sohn, davon war er überzeugt. Alles lief so, wie er es sich gewünscht hatte.