Alles ab

September 1920

Cristabel wacht vor Sonnenaufgang auf und weiß nicht, warum. Dann hört sie es: den Schrei eines Babys. Sie krabbelt aus dem Bett, zieht sich eine Strickjacke übers Nachthemd und will gerade die Dachbodentreppe hinunterrennen, als sie Maudie sieht, die bereits ihre Dienstmädchenuniform anhat. Das krisselige Haar rutscht unter der weißen Haube hervor, als sie ihr mit einer Öllampe entgegenkommt.

»Mein Bruder …«, beginnt Cristabel, doch Maudie unterbricht sie mit einem Kopfschütteln.

»Es ist ein Mädchen. Ein großes.«

Cristabel setzt sich mit gerunzelter Stirn auf die Holzstufen. »Steht das fest?«

»Das Gesicht sieht aus wie das von deinem Vater, aber es ist ein Mädchen. Mrs Seagrave war nicht begeistert von dem Baby. Sie sagt, es sieht aus wie ein Gemüse.«

»Du hast gesagt, dass sie weiterprobieren, wenn es kein Junge wird.«

»Werden sie auch. Dazu ist sie ja hier.«

Cristabel seufzt. Das hatte sie sich nicht erhofft. Die Buchstaben für ihren Bruder müssen jetzt wieder unter seinem Kissen hervorgeholt werden. Die Steingesichter ebenso. Es ist ein schwerer Schlag, aber trotzdem empfindet sie ein gewisses Mitleid mit dem Gemüsebaby, das von der neuen Mutter nicht gemocht wird. Schwestern hatten doch sicher irgendeinen Nutzen. Sie wissen, wie man webt und wie man eine schlichte, wärmende Kost zubereitet. Manchmal kümmern sie sich um alte Eltern, wenn alle anderen schon aus dem Haus sind. Manchmal werden sie an Felsen gekettet und geopfert. Bestimmt fällt ihr eine Verwendung ein.

Maudie schaut sie nachdenklich an. »Ich weiß, dass du einen Bruder wolltest.«

Cristabel nickt. »Aber jetzt hab ich eine Schwester.«

»Halbschwester«, korrigiert Maudie. »Die Neue ist nicht deine Mutter. Ich glaub, es ist ganz schlau, wenn du das nicht vergisst.«

Rosalind ist froh, wieder nach Chilcombe zu kommen, wo sie sich ins Heiligtum ihres Schlafzimmers zurückziehen und die Würdelosigkeit dieser unseligen Episode im Automobil hinter sich lassen kann. Sie wird versorgt von der ergebenen Betty, die ihr Mahlzeiten bringt, die Rosalinds Leber und Herz stärken sollen. Betty hilft ihr, in duftendem Wasser zu baden, das heiß genug ist, um wieder zu sich selbst zu finden, und danach bindet sie Rosalinds Bauch mit einem langen Leinentuch ein, damit sie ihre Figur zurückbekommt.

Während sie im Bett liegt, fährt Rosalind mit den Fingern über die stramm gewickelten Stoffbahnen. Sie fühlt sich ziemlich verwundet, ziemlich auseinandergenommen, und die Stoffbahnen geben ihr eine Schutzhülle, einen Trost. Draußen wird es langsam Herbst, und der Wind geht durch die Bäume wie ein Gerücht. Der Jahreszeitenwechsel steht kurz bevor.

Manchmal fragt Betty, ob Rosalind ihr Baby sehen will, aber dann lehnt Rosalind ab, das Kind sei besser aufgehoben, wo es jetzt sei. Betty nickt verständnisvoll. Sie hat gesehen, wie ihre Schwestern halb verrückt wurden, wenn sie versuchten, sich um schreiende Babys zu kümmern. Das ist keine Arbeit für eine zerbrechliche Lady wie Rosalind. Ein Kindermädchen wird eingestellt. Rosalinds Mutter schreibt, um ihrer Befriedigung darüber Ausdruck zu verleihen, dass Rosalind ihre wichtigste und wonnevollste Ehefrauenpflicht erfüllt hat .

Eines Spätnachmittags wacht Rosalind auf und sieht Jasper an ihrem Schlafzimmerfenster stehen, wo er sich laut in ein zerknittertes Taschentuch schnäuzt. Sein Profil mit dem Mehrfachkinn erinnert sie fatal an das Baby, das sie auf den Dachboden geschickt hat. Ein Baby, das in einem Auto zur Welt gekommen ist. Wie déclassé . Auf einmal spürt sie, wie ihre Gefühle zu ihrem Ehemann sich klären, als hätte sich alles bis heute zusammengeballt und verhärtet.

Er spricht, ohne sie anzuschauen. »Betty hat mir erzählt, dass dir Florence als Name für das Kind gefallen würde. Nach der berühmten Krankenschwester, nehme ich mal an. Ich wäre glücklich mit dieser Wahl.«

»Ich könnte es auch Gemüse nennen«, sagt sie. »Es sieht nämlich aus wie ein Gemüse.«

Jasper dreht sich verblüfft zu ihr um. »Was redest du denn da? Gefällt es dir etwa nicht?«

Rosalind gibt keine Antwort. Sie starrt ihn nur an. Er hat das alles verursacht, und er musste keine dieser grässlichen Folgen ausbaden. Sie spürt diese ohnmächtige Wut, die sie als Kind immer empfand.

Jasper fährt fort: »Harold Rutledge hat gesagt, du könntest es übel aufnehmen, dass es kein Junge geworden ist. Nächstes Mal wird es bestimmt einer.«

Rosalind schweigt weiter. Ihr Schweigen ist für sie wie eine kleine Waffe. Sie streicht behutsam ihre Decke glatt. Sie muss anfangen, ein paar Listen zu schreiben. Sie will im November eine Geburtstagsfeier für Willoughby organisieren.

Jasper macht eine düstere Miene. »Ich wurde aufgehalten. Ausgerechnet an diesem Tag. Ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Ich war nicht beunruhigt«, gibt sie zurück.

»Willoughby hat gesagt, du warst unglaublich tapfer.«

»Ja?«

»Du kannst das Kind nennen, wie du willst. Ich bin nur froh, dass du gesund bist«, sagt er und kommt mit ausgestreckten Händen auf sie zu, in einer seltsam bittenden Geste, als würde er ein sperriges Gewicht vor sich hertragen: einen aufgerollten Teppich, den Mantel einer anderen Person, einen alten, kranken Hund.

»Es geht mir hervorragend«, sagt Rosalind und schiebt ihre Hände unters Laken. Der Gedanke, er könnte sie berühren, lässt sie erschaudern. »Könntest du bitte klingeln?«

»Kann ich dir was bringen?«

»Ich will Betty.«

»Selbstverständlich.« Gehorsam drückt Jasper auf den Knopf an der Wand, mit dem man die Dienstmädchen ruft.

»Der Name Florence … das ist nicht wegen der Krankenschwester«, sagt Rosalind nach einer Pause. Unter der Decke fährt sie mit den Händen über die Stoffbahnen und zieht sie wieder straff, wo sie sich locker anfühlen. »Warum sollte ich mich um eine vertrocknete, dürre Krankenschwester scheren? Nein. Ich habe mal einen Film gesehen. Als ich in London war. Die Frau in Weiß . Er handelte von einer schönen Frau namens Laura, die sich in einen Zeichenlehrer verliebt, aber ein böser alter Mann namens Sir Percival spinnt eine so böse Intrige, dass sie stattdessen ihn heiraten muss. Was er aber nicht weiß, ist, dass es noch eine andere Frau gibt, die genauso aussieht wie Laura. Und dann – na ja, das ist jetzt alles ein bisschen kompliziert, aber Sir Percival kommt zum Schluss bei einem Feuer ums Leben, sodass Laura und der Lehrer heiraten können, wie sie es von Anfang an gesollt hätten. Oh, Betty, kommen Sie doch rein. Ich habe Jasper gerade von einem Film erzählt. Betty hört so gerne was über Filme. Sie will unbedingt mal in ein Kino, nicht wahr, Betty?«

Betty nickt. »Ja, Ma’am.«

»Und es war die Schauspielerin in diesem Film, Jasper. Sie hieß Florence La Badie. Ich werde sie nie vergessen.«

»Verstehe«, sagt Jasper.

»Wenn mein Kind schon wie ein Gemüse aussehen muss, dann hat es zumindest den Namen eines Filmstars«, sagt Rosalind. »Oder macht das die Sache noch schlimmer, was meinen Sie? Ein unansehnliches Mädchen mit einem glamourösen Namen zu sein?«

»Keine Tochter von Ihnen könnte jemals unansehnlich sein, Ma’am.«

»Sie sind so lieb, Betty. Ich würde am liebsten selbst mit Ihnen ins Kino gehen«, sagt Rosalind. »Wolltest du sonst noch etwas, Jasper?«

Jasper schnäuzt sich nochmals die Nase. »Ich wollte dir nur herzlich gratulieren«, antwortet er so würdevoll wie ein pensionierter Richter.

Rosalind beobachtet ihren Mann, während er das Zimmer verlässt. Sobald die Tür hinter ihm zugegangen ist, atmet sie aus. Dann steht sie im Nachthemd auf und geht barfuß zu ihrem Frisiertisch, wo sie sich auf den Stuhl setzt und sich so vor dem Dreifachspiegel positioniert, dass sie sich selbst und ihre zwei angenehmen Profilansichten sehen kann: ein Triptychon der Selbstvergewisserung. Betty steht hinter ihr, streicht mit der Hand übers lange Haar ihrer Herrin, das im Schein der leise seufzenden Öllampen glänzt.

Rosalind sagt: »Sie werden sich einen Film anschauen, Betty. Ich nehme Sie mit nach London und gebe Ihnen einen Nachmittag frei.«

»Das wäre wirklich ein Vergnügen, Ma’am.«

Rosalind nickt, dann zieht sie an ihrem Frisiertisch eine Schublade auf und nimmt ein Foto aus einer Zeitschrift heraus, das sie ihrer Kammerzofe nach hinten über den Kopf reicht. »Und während Sie im Kino sitzen, Betty, werde ich mir die Haare zu dieser modernen Frisur schneiden lassen«, sagt sie. »In einem Londoner Friseursalon.«

Rosalind wartet darauf, dass sie Bettys Blick im Spiegel begegnet, dann hebt sie mit beiden Händen ihre Haare hoch und hält sie sich zusammengefaltet an den Hinterkopf, sodass es kürzer aussieht, wie ein kinnlanger Bob. »So«, sagt sie. »Alles ab.«