Jägermond

November 1920

Jasper nimmt allein ein spätes Mittagessen ein. Dazu schüttet er eine Flasche Bordeaux in sich hinein. Bricht eine zweite an. Er hat Rosalind seit Monaten nicht mehr am Esstisch gesehen, und Willoughby zeigt sich auch nicht besonders oft, nicht mal zum Dessert. Grimmig löffelt Jasper Zitronencreme durch seinen Bart, während er sich fragt – freilich ohne echte Hoffnungen oder Erwartungen –, ob Willoughby und er jemals zu einem freundschaftlichen, brüderlichen Verhältnis finden werden. Er bedauert es sehr, dass sie immer noch in die eingefahrenen Muster alter Streitereien und kleinlicher Kabbeleien verfallen. Willoughby ist ein leichtfertiger Pfau, der mehr Haare als Verstand hat, aber er ist tapfer. Furchtlos. Jasper hat gehört, wie Willoughbys Offizierskollegen bewundernd von ihm gesprochen haben. Jasper würde seinen Bruder gerne seinen Freund nennen können. Das wäre was.

Als er vom Tisch aufsteht, nach einem schweigsamen Vier-Gänge-Menü an einem Tisch, der für drei gedeckt war, ist es Abend, und draußen ist es dunkel geworden. Jasper geht durchs Erdgeschoss seines Hauses, wo immer noch Dienstboten hin und her laufen und alles für die Gäste vorbereiten, die bald kommen sollen, um Willoughbys Geburtstag zu feiern. Als Jasper die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufmacht, sieht er das Mondlicht durchs Fenster fallen wie eine Einladung.

Mittlerweile neigt er dazu, die Vorhänge zuzuziehen und das einsame Licht der Schreibtischlampe mit einer Karaffe Brandy zu teilen, doch als junger Mann konnte er einer Nacht im Mondlicht nie widerstehen. Dann stahl er sich hinunter zum Strand, in der einen Tasche ein Buch, in der anderen ein Stück Schweinefleischpastete, als einziger Zeuge einer Welt, die in gespenstischem Weiß erleuchtet war.

Sogar in jener grässlichen Nacht, als er sich den Knöchel gebrochen hatte und weinend auf dem Rücken lag, hatte er trotzdem weiter das Mondlicht auf dem Meer betrachtet. Und natürlich auch manchmal mit Annabel – er war mit ihr im glitzernden Meer geschwommen, und sie war so leicht im Wasser gewesen, dass er sie hochheben konnte, wie eine Braut. Was für ein Wunder das gewesen war, was für ein Geschenk. Wie er sie vermisst. Seine Liebe. Seine Frau.

Von irgendwo oben im Haus hört er ein Krachen. Wahrscheinlich hat Willoughby mal wieder eine Flasche Wein fallen lassen, die er nicht bezahlt hat. Jasper zieht eine Schublade an seinem Schreibtisch auf, entnimmt ihr einen Flachmann, den er sich in die Jackentasche schiebt, geht durch die Eichenhalle und tritt hinaus in die Nachtluft. Er geht am Rasen entlang, wobei er den Kopf hebt, um den Mond anschauen zu können.

Immer, wenn er an den vergangenen Abenden hinausgegangen war, um noch mal mit den Pferden zu reden, war er wie gebannt vom Anblick dieses riesigen Mondes gewesen, der über den Bäumen aufging, die das Haus umstanden. Eine riesige Scheibe, zehennagelgelb, die sich langsam auf den Nachthimmel schob. Völlig unverfroren in ihrer gesichtslosen Leere. Ein Jägermond, so nennen ihn die Dorfbewohner. Nachdem die Ernte im Herbst eingebracht worden ist und nichts mehr auf dem Feld steht als die Stoppeln, kommt im November ein Vollmond, der all die kleinen dahinhuschenden Tiere beleuchtet, die sich dann nirgends mehr verstecken können. Dann haben die Raubvögel die Nacht für sich. Das letzte große Töten des Jahres.

Es hat überhaupt zu viel Töten gegeben. Jedes Mal, wenn Jasper den Rasen betrachtet, fällt ihm wieder der Sommer 1914 ein, als gerade der Krieg erklärt worden war. Die Männer von Chilcombe Mell, die sich zur Armee gemeldet hatten, versammelten sich vor dem Haus, bevor sie nach Frankreich abreisten. Es gab ein kostenloses Mittagessen. Ingwerbier. Dekoration mit bunten Wimpeln. Alles sehr vergnügt.

Sein Vater hätte gewusst, wie er mit ihnen reden sollte, diesem halb stolzen, halb scheuen Haufen von Männern, die sich in ihren steifen neuen Uniformen auf der Rasenfläche herumdrückten. Doch jedes Mal, wenn Jasper sie anschaute, blieb sein Blick an vertrauten Gesichtern hängen, die ihn ablenkten: der kleine Albert, der die Post brachte, Tom Hardcastle, Stallmeister und ergebener Ehemann der Haushälterin Ada, Frank und Clive aus den Ställen, die mit ihrem Vater Sidney zusammenstanden, der picklige Reg, der Sohn des Schmieds, und Peter, der jüngste Bedienstete, der immer noch seine Brille mit dem Drahtgestell trug. Am nächsten Tag würden sie alle in den Zug von Dorchester nach London steigen und dann in den Kampf ziehen.

Jasper, der zu alt und zu lahm war, um sich für die große Schau zu melden, war geradezu neidisch. Es konnte einen krank machen, wenn man so gar nicht dazugehörte, wenn man in Kriegszeiten Zivilist war. Es nagte an ihm, diese statische Nutzlosigkeit. Wenn er doch nur etwas hätte tun können, was zählte, um zu beweisen, dass er nicht das war, was sein Vater einen »jämmerlichen Feigling« nannte.

Er wollte den Männern Mut zusprechen, deswegen hatte er seine abgegriffene Ausgabe der Ilias gereinigt, um nach einer Art zu suchen, wie er die aufgewühlten Gefühle entzünden konnte, die er empfand, wenn er vom edlen Hektor las, der vor die Mauern von Troja trat, um sich dem Krieger Achilles zu stellen, trotz der Bitten seiner Familie. Jasper suchte ab diesem Moment nach einer passenden Rede, stellte aber fest, dass ziemlich viel von »Verderben« die Rede war, was ihm weniger geeignet schien. Es gab jedoch noch andere wunderbare Abschnitte, die er leise auf der Toilette probte.

Dann stand Jasper auf der Schwelle von Chilcombe, flankiert von Dienern, den Soldaten gegenüber. (Auf einmal durchfuhr ihn ein jäher Gedanke: Hatte er sich nicht schon immer einen Moment wie diesen gewünscht? Hatte er nicht schon immer auf diesen Moment zugesteuert?) Er begann. »›Ein Wahrzeichen nur gilt: das Vaterland zu erretten!‹ So hat es schon Homer gesagt, und so sage es auch ich.«

Er hörte Krähen auf den Bäumen krächzen, sah, wie Peter, der junge Diener, vorsichtig seine Brille abnahm, um sie zu polieren, er beobachtete, wie sich Reg an Clive wandte und sagte: »Wovon redet der denn da?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, murmelte Clive.

Jasper räusperte sich. »Wie gerne würde man sich anschließen.« (Immer diese enttäuschend schwache Stimme – die Männer mussten sich vorbeugen und sich anstrengen, um ihn zu verstehen.) Er versuchte es erneut: »Selbstverständlich würde man sich nur zu gerne anschließen.«

Aber sie wollten nichts von ihm wissen, dies war ihr Tag. Und das wusste er auch, verdammt noch mal, er hatte es sich auf der Toilette noch einmal vor Augen geführt. Dann hörte man von hinten eine klare Stimme ertönen, wie eine Gabel, die gegen ein Champagnerglas schlägt. »Natürlich würde mein Bruder Jasper auch gerne seinen Teil zu unserem Erfolg beitragen, aber wir werden keine Hilfe brauchen. Die Einzigen, die Hilfe brauchen, werden die armen Teufel sein, die uns gegenüberstehen!«

Gelächter, Jubelschreie!

»Bei Gott, ich bin sicher, dass jeder von euch neben mir, Willoughby Seagrave, stehen wird, um seine Pflicht zu tun, für König und Vaterland und für Dorset, diese schöne Grafschaft und ihre schönen Frauen.«

Wissendes Lachen, Jubelschreie!

»Ihr kennt mich, Jungs, und während wir dort drüben einen guten Kampf kämpfen, wird meine Familie dafür sorgen, dass eure Familien gut versorgt sind, wie wir es immer gehalten haben.«

Gemurmelte Zustimmung, Schniefen von der weiblichen Dienerschaft im Publikum.

»Wenn wir siegreich heimkehren, treffen wir uns genau auf diesem Fleck wieder, und Jasper wird hier sein, um uns wieder willkommen zu heißen.«

Jubelschreie, zustimmende Rufe!

»Wird nicht lange dauern, Jungs – diese Barbaren haben doch keine Chance gegen uns!«

Die roten und weiße Wimpel flatterten in den Bäumen, die Sonne schien auf den Rasen, die freudigen Gesichter riefen Hurra, Willoughby stand da in seiner Offiziersuniform und breitete die Arme vor ihnen allen aus, und Jasper stand vor den Toren Trojas und wusste, dass er sich freiwillig für eine zum Scheitern verurteilte Auseinandersetzung gemeldet hatte, weil er zu viel Angst hatte, für einen Feigling gehalten zu werden.

»Was meint ihr, Kumpels, noch einen kurzen Drink, bevor wir gehen?«, rief Willoughby und rannte über den Rasen, um sich den anderen Männern anzuschließen.

Jasper zog sich ins Haus zurück. Er hoffte, dass noch ein bisschen Apfelkuchen in der Küche war. Er wünschte, er hätte das zeremonielle Schwert nicht angelegt. Es klirrte ganz grässlich.

Albert. Frank. Clive. Tom. Sidney. Reg. Peter. Willoughby. Nur Frank, Reg und Willoughby sollten aus dem Krieg zurückkommen.

Jasper läuft weiter ziellos über den Rasen und trinkt aus seinem Flachmann. Er hört das Rauschen des Meeres, den ängstlichen Schrei einer gelbbraunen Eule, ansonsten herrscht totale Stille. Er schaut zurück auf Chilcombe, sieht hinter den Fenstern die Schatten der Bediensteten umherflitzen, die zweifellos Rosalinds Anordnungen ausführen.

Im Erdgeschoss hat man Lampen angezündet, doch das restliche Haus liegt im Dunkeln. Jasper hört das Heulen eines Babys ganz oben auf dem Dachboden. Ihm bereitet das Weinen von Kindern körperliche Schmerzen. Er wünschte, er müsste es niemals hören. Hinter dem Haus verläuft der Hügelkamm, unerbittlich und unbeleuchtet. Dahinter kommen weitere Hügel und weitere Dunkelheit und Städte und Kathedralen und England und so weiter, das stapelt sich alles dahinter.

Er ist müde. Hat weiche Knie. Leck unter der Wasserlinie. In den Zeitungen heißt es, die »Kriegsmüdigkeit« habe die kollektive Nervenstärke der Nation ausgelaugt und so der Spanischen Grippe erlaubt, sich auszubreiten. Natürlich ist es erschreckend, dass so viele daran sterben, aber der Gedanke an einen fiebrigen Abgang ist ziemlich attraktiv – ein plötzliches, heftiges Ende, das den Körper so schnell und unwiderruflich packt wie die Liebe. Er empfindet sich selbst als schwere Last. Als einen Sandsack von Mann. Er nimmt einen Schluck aus seinem Flachmann, spaziert um die Ecke des Hauses Richtung Stallungen, wobei er am Rand des Rasens leicht stolpert.

Der üppige Heuduft in den Ställen ist ihm ein Trost. Das Schnauben und verhaltene Wiehern der Pferde. Er geht zur Box seiner treuen Guinevere und reibt ihr über die samtige Nase. Sie hat ihn durch jeden Jagdritt getragen. Auf ihrem breiten Rücken hatte er zum ersten Mal Annabel Agnew erblickt. Wann ist er zum letzten Mal mit einer Meute losgeritten? Warum kann er sich dazu nicht mehr aufraffen? Noch so etwas, was er niedergelegt und vergessen hat.

Er öffnet die Box und führt das Pferd hinaus. Sucht Sattel und Zaumzeug hervor, das er ungeschickt anlegt, wobei er unablässig alkoholgeschwängerte Entschuldigungen in Guineveres zuckende Ohren murmelt. Er zieht sich einen Schemel heran, balanciert einen Moment lang riskant darauf herum, bevor er sich in den Sattel hievt und die Füße in die verdrehten Steigbügel schiebt. Jetzt aber Mühe geben. Noch einmal vorwärtsmarschiert. Und losgetrabt.

Tier und Mensch bewegen sich schwerfällig aus dem Stall, umrunden das Haus, dann geht es durch die Bäume und den Weg hinunter, der zum Strand führt. Die Nacht ist frostig und still. Der Mond hängt tief überm Meer: eine riesige, pockennarbige Kugel. Jasper macht ein Auge zu und blinzelt ihn an. Der Mond hat das matte Licht von altem Metall, von gefallenen Schilden und zerbrochenen Schwertern. Der Mond starrt zurück und zwingt ihn, den Blick abzuwenden.

Unter dem Sattel wirft ihn die Bewegung von Guineveres Knochen von einer Seite auf die andere, während das alte Pferd sich vorsichtig seinen Weg über den harten Boden sucht. Guinevere kennt diese Strecke gut, also lässt Jasper die Zügel los und gestattet es seinem massigen Körper, unelegant hin und her zu schaukeln. Er schließt die Augen, lässt seinen Kopf nach vorne kippen, während sein Körper immer noch hin und her geworfen wird, als würde er von beiden Seiten von unsichtbaren Feinden angegriffen. Schlafen wäre eine Wonne. Seine Hände suchen nach seinem Flachmann, und während er wie ein Kind seinen Bauch abklopft, bleibt Guinevere mit einem Huf in einem Kaninchenloch hängen und taumelt nach vorn, wobei sie Jasper aus dem Sattel wirft.

Eigentlich wäre alles gut gewesen, wenn er die Zügel in der Hand gehabt hätte. Eigentlich wäre alles gut gewesen, wenn er nicht mit seinem schwachen Fuß im Steigbügel hängen geblieben wäre, doch so schwang sein Körper in einem Kreisbogen nach unten. Mit der Stirn zuerst schlug er auf den Boden auf und prallte dabei mit beträchtlicher Wucht gegen einen großen Stein. Er hatte ohnehin schon eine schwere Gehirnerschütterung, und die dringlichen Signale, die durch seine Synapsen liefen, erreichten nicht ihr Ziel, vielmehr starben die zerquetschten Gehirnzellen massenweise ab und verloschen wie Sterne, die vom Nachthimmel verschwinden. Also war sein letzter Gedanke gar kein richtiger Gedanke mehr, eher die Empfindung, dass irgendetwas an ihm vorbeiraste, und dazu ein Bild, das er im Kopf gehabt hatte, bevor er fiel, von einer Frau im Meer, deren Silhouette sich vor einem silbernen Mond abzeichnete.

Die loyale Guinevere fängt sich wieder. Schnaubt. Wartet auf Anweisungen. Als keine kommen, setzt sie ihre gewohnte Strecke fort und folgt den Pfaden, die sie schon seit Ewigkeiten kennt. Jaspers Körper schleift sie hinter sich her.