Die Ankunft des Gottes Poseidon
März 1928
Die Dachschrägen geben Cristabel das Gefühl, Alice im Wunderland zu sein, als wäre sie zu groß für diesen Raum. Wenn sie auf ihrem schmalen Bett liegt, stellt sie sich vor, wie ihre Beine immer weiter wachsen, bis sie aus dem Fenster schauen. Draußen scheint die Sonne, die Krähen schwatzen in den Bäumen vor sich hin. Sie wünschte, sie wäre am Strand bei ihrem Wal. Sie fragt sich, was für ein blöder König diese Walregeln erfunden hat. Sie fragt sich, wer der Mann war, der Alice im Wunderland geschrieben hat. Der kann auch nicht ganz klar im Kopf gewesen sein.
»Still liegen, Miss Cristabel, um Himmels willen«, sagt Maudie, die am Fuß von Cristabels Bett kauert und versucht, ihr die Stiefel zuzuschnüren.
Wenn ihr Kopf auf dem Kissen liegt, kann Cristabel den Arm nach oben strecken und ihre Hand an die Decke legen, die an dieser Stelle schräg zum Boden verläuft. Sowohl die Wände als auch die Decke sind vor Kurzem mit einer kühn rot-weiß gestreiften Tapete beklebt worden, ein Muster wie von einem Zirkuszelt. Nach Aussage von Rosalind ist das gerade äußerst angesagt.
Viele Dinge sind jetzt äußerst angesagt. Nur dass Cristabel sich nichts aus ihnen macht. Die verchromte Badewanne. Der Cocktailschrank mit den Glastüren. Der Billardtisch mit der blauen Bespannung. Der mit Giraffenfell bespannte Schemel. Diese ganzen äußerst angesagten Gegenstände werden auf Paletten nach Chilcombe geliefert, die von schwitzenden Lieferanten geschleppt werden, und es wird ein großer Aufstand gemacht, als würde dieser äußerst angesagte Gegenstand jetzt alles anders machen. Doch jedes Objekt hört ziemlich schnell auf, seine Versprechungen zu erfüllen, sobald es erst mal an Ort und Stelle gebracht und ins Alltagsleben integriert wurde. Diese ganzen äußerst angesagten Gegenstände bleiben nicht lange angesagt. Ob sie nun zu modern sind, um in das altertümliche Haus zu passen, oder nicht modern genug, um nicht schnell ersetzt zu werden – früher oder später sorgen sie für Unzufriedenheit, treten in den Hintergrund oder scheinen von selbst ihren Weg nach draußen zu finden.
»Hoch mit dir«, kommandiert Maudie, die jetzt eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren ist, mit starken Gliedmaßen, dicken Augenbrauen und krisseligen braunen Locken, die kaum von ihrer Dienstmädchenhaube gebändigt werden können.
Cristabel wird auf die Füße gezogen, damit sie in Ordnung gebracht werden und man ihr die Haare bürsten kann. Ihr schwarzes Haar wird mit Wasser befeuchtet und energisch zu seinem üblichen stumpf geschnittenen Bob gekämmt: eine Reihe von harten Grenzen um ihr nicht lächelndes Gesicht. Dann zwingt man sie, eine Schüssel glibberiges Porridge zu essen, bevor sie und Veggie über den Flur ins Schulzimmer geschickt werden, wo sie Französischunterricht von ihrer neuesten Gouvernante bekommen, Mademoiselle Aubert.
Mademoiselle Aubert ist die sechste französische Gouvernante der Mädchen. Rosalind besteht darauf, dass sie französische Gouvernanten brauchen, obwohl sie eine nach der anderen wirkungsvoll wieder zurückschicken. Obwohl Cristabel jederzeit zugeben würde, dass sie ihre Abreise durchaus beschleunigt, ist sie doch der Meinung, dass der schnelle Personalwechsel auf Chilcombe größtenteils Rosalinds seltsamem Benehmen geschuldet ist. Cristabel hat die Dienerschaft von betrunkenen Auftritten und empörenden Forderungen reden hören. Die Diener behaupten, Rosalind gebe den letzten Penny von Jaspers Lebensversicherung für Möbel und Unterhaltung aus, aber denke selten daran, ihnen ihre Gehälter zu zahlen. Cristabel hat etwas in der Richtung auch schon Onkel Willoughby mitgeteilt: »Rosalind genießt nicht genug Respekt beim Personal.«
»Cristabel, Schätzchen, du weißt genau, dass es ihr lieber wäre, wenn du sie nicht Rosalind nennen würdest.«
»Du kannst nicht wirklich von mir erwarten, dass ich sie Mutter nenne.«
»Wahrscheinlich nicht. Tante? Jetzt schau mich doch nicht so böse an.«
Von ihrem Schreibtisch im Schulzimmer kann Cristabel das gleichmäßige Schnurren von Onkel Willoughbys neuestem Fahrzeug hören, einem sportlichen Daimler, der gerade die Auffahrt hinunterfährt. Er wird den ganzen schönen Tag unterwegs sein, über die Straßen brausen, während die Welt unter ihm hindurchzieht wie eine sich drehende Kugel.
»Attention , Miss Cristabel, s’il vous plaît« , sagt Mademoiselle Aubert, eine mürrische junge Frau, deren Gesicht übersät ist mit dunklen Muttermalen. »Lassen Sie den Globus in Ruhe. Der ist für Master Digbys Geographiestunde.«
Cristabel versetzt dem Schulzimmerglobus einen letzten Schubser und schaut zu, wie die Länder sich zu einer vielfarbigen Masse vermischen, dominiert vom weit ausgebreiteten Rosa des britischen Empire, welches Eingeborene und Teeplantagen und alte Zivilisationen umfasst, in denen Großvater Robert Aufstände unterdrückt und Gräber geöffnet und Löwen getötet hat. Niemand hat jemals versucht, ihn davon abzuhalten, sich große Schätze sichern. Sie fragt sich, ob er sich wohl jemals mit einem König rumstreiten musste. Außerdem: Wäre es überhaupt möglich, einen Wal auszustopfen? Cristabel macht sich eine Notiz im Hinterkopf: Digbys neuesten Hauslehrer fragen, der zwar eine ziemliche Memme ist, aber nützlich, was das Liefern wissenschaftlicher Informationen angeht.
Im stickigen Schulzimmer hört man nur die Kreide von Mademoiselle Aubert auf der Tafel quietschen, während sie die Formen des Verbs être aufschreibt, das Summen einer Schmeißfliege, die sich immer wieder gegen das Fenster wirft, und das regelmäßige Bumm-bumm-bumm von Veggies Stiefel, der gegen ihr Stuhlbein schlägt. Ganz weit unten kann Cristabel das Öffnen und Schließen von Türen hören, während die Dienstmädchen ihren Pflichten nachgehen. Irgendwo im Haus befinden sich auch Digby und sein Hauslehrer, die versuchen, die Lücken in Digbys Ausbildung zu schließen, bevor er im September aufs Internat kommt.
Es ist stickig auf dem Dachboden. Immer entweder zu heiß oder zu kalt. Es gibt nur einen kleinen Kamin im Schlafzimmer der Mädchen, abgeschirmt durch ein hölzernes Kleidergestell, auf dem früher die feuchten Sachen der Kinder zum Trocknen hingen. Davor stand ein Schaukelstuhl, auf dem Kindermädchen schon ganze Generationen von zerbrechlichen Seagrave-Kleinkindern beruhigt hatten, während die Kufen auf den Holzdielen quietschten.
»Meinst du, wir sollten diese Fliege retten?«, fragt Veggie.
»Non« , sagt Mademoiselle Aubert. »Wir machen jetzt weiter mit den Verben, bis ihr sie ordentlich aufsagen könnt.«
»Verben? Alors! «, ruft Cristabel und wirft die Hände in dramatischer Geste hoch wie ein Franzose. »Pourquoi? Ich Arme, für mo i ?«
Veggie kichert.
»Sehr schlau, Mademoiselle Cristabel«, erwidert Mademoiselle Aubert, während sie ihre Nagelhäute mustert. »Ein schlaues Mädchen, das über seine Lektionen lacht.« Die phlegmatische Mademoiselle Aubert erweist sich als ausgezeichnete Gegnerin. Sie hat schon sämtliche Vorgängerinnen überdauert, vor allem deswegen, weil sie keinerlei Bedürfnis hat, gemocht zu werden. Sie hält Zeichen von Nettigkeit für eine Schwäche von Menschen, die dumm genug sind, freundlich auf sie zuzugehen. Willoughby hat beobachtet, dass Rosalind das einzige unangenehme französische Mädchen eingestellt hat, das ihm jemals begegnet ist.
Cristabel sagt: »Sie müssen Verben doch auch schon hassen.«
Mademoiselle Aubert verschränkt die Arme. »Französische Verben sind ganz einfach. Englische Verben sind schwierig. Wenn Sie englische Verben lernen müssten, dann hätten Sie vielleicht Grund, sich zu beklagen.«
»Warum haben Sie sich dann die Mühe gemacht?«
»Weil ich nicht so ein fauler Dummkopf bin. Sie, Mademoiselle Cristabel, werden wie die englischen Damen sein, die nach Paris fahren, um sich schicke Hüte zu kaufen, und die Verkäuferinnen auf Englisch anschreien, ohne zu hören, dass die Verkäuferinnen ihnen auf Französisch erklären, dass sie ihnen das Doppelte für ihre schicken Hüte berechnen werden. Sie verstehen es nicht, weil sie zu faul waren, ihre Verben zu lernen.«
»Ich hasse schicke Hüte.«
»Aber wenn Ihnen jemand sagt, dass Sie das Gesicht eines Esels haben, wollen Sie es vielleicht wissen.« Mademoiselle Aubert klopft auf die Tafel. »Être.«
»Was heißt Esel auf Französisch? Baudet? Wie sagt man: Du hast das Gesicht eines Esels?«
»Être.«
» Vous visage de baudet?«
»Ohne die richtigen Verben werden Ihre Eselsbeleidigungen immer schwach auf der Brust bleiben.«
Cristabel legt ihren Kopf kurz auf den Schreibtisch. »Gut. Ich werde die Verben lernen«, sagt sie dann mürrisch. »Aber nur, damit ich die Leute korrekt beleidigen kann.«
Die undurchschaubare Mademoiselle Aubert schaut aus dem Fenster und öffnet langsam ein Übungsheft. »Être« , sagt sie, und dann tötet sie die summende Schmeißfliege mit einem effizienten Schlag.
Nach vielen langweiligen Stunden ist endlich Zeit zum Mittagessen. Bei einem lauwarmen Mahl aus geschmorter Ochsenbrust und Salzkartoffeln, gefolgt von Milchpudding, versucht Cristabel, Veggie in eine Diskussion über Zeitreisen zu verwickeln. Könnte ein erfinderischer Wissenschaftler eine Maschine bauen, die einen mithilfe von Hebeln und einem Uhrwerk ins Gestern befördert?
»Den Tag gestern mochte ich nicht«, sagt Veggie, »da gab’s Backpflaumen.« Ihr rundes, ernstes Gesicht verfinstert sich.
»Ich mochte ihn auch nicht, aber der Tag lag doch im Interesse der Wissensvermehrung«, sagt Cristabel. »Stell dir vor, wenn du nach gestern zurückreisen könntest, würdest du dir am Ende selbst begegnen.«
»Mir selbst begegnen?« Veggie wirkt alarmiert.
»Oder du könntest in die Zeit der Sachsen zurückreisen und verlangen, dass die Regeln über Wale geändert werden, weil sie ungerecht sind«, fährt Cristabel fort.
»Genug jetzt mit euren Nonsensgeschichten«, sagt Mademoiselle Aubert, in deren Augen die meisten Geschichten Nonsens sind.
»Was heißt Wal auf Französisch?«, will Cristabel wissen.
»Baleine.«
»Und was heißt Ungerechtigkeit auf Französisch?«
»Iss deinen Pudding.«
Nach dem Mittagessen machen die Mädchen ihren Nachmittagsspaziergang. Sie folgen Mademoiselle Aubert die Treppe hinunter und durch die Eichenhalle, wo sich jetzt, da Rosalind das Zepter in der Hand hat, lauter teure Fellteppiche befinden, außerdem geschwungene Sessel mit cremefarbenen Bezügen und hellen Intarsien sowie runde Beistelltischchen, auf denen dekorative Lampen und Aschenbecher stehen. Die altertümlichen Messingleuchter sind von den Wänden abmontiert und durch kugelförmige elektrische Lampen mit Glasschirmen ersetzt worden. Wo früher Gobelins von Schlachten hingen, stehen jetzt ausgeklügelte Spiegel. Der Flügel ist in die Mitte des Raums geschoben worden, und auf ihm stehen gerahmte Fotos von Leuten in Tenniskleidung, neben einer gerillten Glasvase mit Pflanzen, die so aussehen, als könnten sie einen fressen.
Doch während der Raum im Erdgeschoss keine Ähnlichkeit mehr mit einer mittelalterlichen Empfangshalle hat, herrscht in den oberen Bereichen durch die dunkle Holztäfelung immer noch ein strenges Flair. Das Tageslicht, das durch die neue Glaskuppel hereinfällt, scheint Ewigkeiten zu brauchen, bis es die modernen Möbel erreicht, genauso wie das Sonnenlicht verlangsamt wird, wenn es durch die Tiefen des Ozeans fällt und wie eine Gesetzesänderung meistens durch das Oberhaus ausgebremst wird.
Draußen ist ein wunderschöner Tag. Mademoiselle Aubert rückt Veggies Hut zurecht, dann überqueren sie den Rasen. Cristabel führt die Kolonne im Marschtritt an, Veggie zockelt hinterher und singt vor sich hin, und Mademoiselle Aubert bildet die Nachhut. Sie schlagen eine Strecke ein, die einmal im Kreis führt, denn Mademoiselle Aubert besteht darauf, dass sie den Weg meiden, der sie zum Strand gegenüber vom verrottenden Wal bringen würde, weil der Anblick sie krankö mache.
Der Aufenthalt des Wals in Dorset war nicht ganz einfach. Ein paar Tage nachdem er angespült worden war, kam ein sehr uniformierter Mitarbeiter der Königlichen Küstenwache aus Portland, stellte sich neben den Kopf des Wals und verkündete, dass er den Wal für den König beanspruchte. Doch es stellte sich bald heraus – nach lapidaren Telegrammen, die mit dem Personal des Palastes getauscht wurden –, dass der König seinen neuesten Besitz nicht abholen würde.
Woraufhin der uniformierte Mitarbeiter verkündete, er werde den Wal im Namen des Königs versteigern. Es folgte lautstarker Protest von Cristabel, woraufhin sie von Mademoiselle Aubert ins Haus zurückgebracht wurde. Dort verfasste sie Briefe an den König, in denen sie sich mit Englands größtem Forscher, Captain Scott, verglich, der sich heroisch seinen Weg zum Südpol erkämpft hatte, nur um festzustellen, dass die hinterhältigen Norweger dort schon ihre eigene Flagge aufgestellt hatten. Sie bekam keine Antwort.
Cristabel war empört, als sie von Mr Brewer hörte, dass die Versteigerung nur schleppend vonstattengegangen sei und man den Wal schließlich für schlappe dreißig Pfund an einen pensionierten Schulmeister aus Affpuddle verkauft habe. Der Schulmeister erklärte gegenüber der Lokalzeitung, er werde das Skelett in seinem Garten ausstellen und Vorträge über die gewaltigsten Geschöpfe Gottes halten. Dann wurden Zimmerleute mit riesigen Scheren und Sägen geholt, um das Geschöpf zu entbeinen, und die Seagrave-Kinder gesellten sich zu der Menge, die sich am Strand versammelt hatte, um die grausige Prozedur zu beobachten.
Es war ein nervenaufreibendes Schauspiel. Männer in Gummistiefeln krochen oben auf dem Wal herum und sägten sich ihren Weg durch seinen seidig glänzenden Körper, als wäre er ein riesiger Schinken. Das Blut lief auf den Strand und hinterließ große Flecken auf den Kieseln. Doch bald stellte sich heraus, dass der pensionierte Schulmeister vergessen hatte, seine ehrgeizigen Pläne mit seiner Gattin zu besprechen, und am Ende fand der Wal doch kein neues Zuhause in Affpuddle. Die Obduktion wurde eingestellt, und die Männer in den Gummistiefeln zogen sich murrend zurück in den Pub. Jungs aus dem Dorf wurden bezahlt, damit sie die losen Stücke des Wals mit Schubkarren ins Dorf hochbrachten, von wo der Walspeck in Karren auf den Markt in Dorchester transportiert wurde, damit er zum Seifensieden verkauft werden konnte. Die Organe gingen an die Jagdreviere der Gegend, damit sie ihre Hunde damit füttern konnten.
Trotz eines zunehmend gasigen Geruchs blieben die Überreste des teilweise zerlegten Wals ein Magnet für Neugierige. Zoologiestudenten kamen vorbei und identifizierten den Wal als Balaenoptera physalus , einen Finnwal, und zwar ein älteres männliches Exemplar, weit weg von seinen üblichen Jagdgründen. Sie staunten über seine unorthodoxe Strandung, aber stellten die Hypothese auf, dass er von einem Schiff gerammt worden sei. Die anhaltenden Verwesungsprozesse hatten den Walkopf zusammensacken und seine Kiefer aufklappen lassen, wodurch die borstigen Ränder freigelegt wurden. Die Studenten behaupteten, dass dieses Material, das große Ähnlichkeit mit dicht gepackten Federkielen hatte, als »Fischbein« bezeichnet werde und als Filter für Seewasser diene, so wie der Schnurrbart eines Gentleman als Sieb für Suppe diente.
Die Studenten erzählten, dass man in der Viktorianischen Zeit aus Fischbein Korsettstangen gefertigt habe, ein Konzept, das die Kinder köstlich fanden: Ein Suppensieb aus dem Maul eines Wals wurde verwendet, um die Taillen von Frauen enger zu schnüren. Alte Fotos von Vorfahrinnen der Familie Seagrave wurden jetzt in einem ganz anderen Licht gesehen: Unter ihren hochgeschlossenen Kleidern trugen sie um ihre Körpermitte Teile von Köpfen – wie die Kannibalen.
Während die Studenten ihre Ausführungen zu den Nebenprodukten des Wals fortsetzten und erklärten, wie sie im Laufe der Zeiten bedeutenden Einfluss auf den Fortschritt der Menschheit genommen hatten, legte Cristabel still eine Hand auf die Seite ihres kaputten Tieres. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie der Wal mit seinem kleinen Auge, das so überflüssig seitlich an seinem Riesenschädel saß, jemals hatte sehen können, wo er hinschwamm. Sein Auge war wie ein Bullauge an einem Ozeandampfer, durch das ein Passagier die Dinge erspähen konnte, an denen er vorbeifuhr.
Sie träumte fast jede Nacht von ihrem Wal. In ihren Träumen war sie wieder die triumphierende Entdeckerin – der Wal war noch heil und lag in all seiner Schönheit reglos unter ihren Füßen. Manchmal träumte sie, dass ihr Wal lebte, und dann ritt sie auf seinem Rücken, während er als rechtmäßig auferweckter Herrscher der Weltmeere den Ozean durchpflügte.
Cristabel hat Gedanken in dieser Richtung, über Wale und Träume, als Veggie, Mademoiselle Aubert und sie schließlich das Ufer erreichen. Sie können die Überreste des Tiers hinter einer niedrigen Landzunge ausmachen, einen knappen Kilometer entfernt.
Mademoiselle Aubert, der die Nachmittagssonne dunkle Linien ins Gesicht ätzt, setzt sich auf den Strand, lehnt sich gegen einen großen Felsen und schließt die Augen. »Sucht Sachen, die ihr in einen Eimer tun könnt, Mädchen. Sammelt Muscheln für Madame Rosalind.«
Das ist ihre Chance. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Mademoiselle Aubert innerhalb von Sekunden einschlafen kann, wenn sie erst mal die Augen zugemacht hat. Wenn sie sich also beeilen, können sie es bis zum Wal schaffen, bevor sie wieder aufwacht. »Komm, schnell«, zischt Cristabel, wirft den Eimer weg und packt Veggie bei der Hand. Sie rennen schneller, während die Steine unter ihren Stiefeln knirschen.
Doch als sie die Landzunge umrunden, hält Veggie Cristabel zurück, denn da sind Kinder, die auf ihrem Wal herumklettern. Vier oder fünf Kinder, die über seinen Kadaver krabbeln wie kleine Krebse, und sie sind nackt wie Wilde, ihre nackte Haut glänzt im Sonnenlicht. Cristabel starrt sie wütend an. Es schmerzt sie, ihren Wal solcherart beschlagnahmt zu sehen – ganz so, als müsse man Piraten an Bord eines britischen Schiffs sehen. Eines von ihnen geht in die Hocke, balanciert auf dem Brustkorb des Wals und erwidert ihren bösen Blick. Sie sind alle pitschnass, die dunklen Haare hängen ihnen strähnig auf die Schultern, und sie klettern so flink wie die berühmten Affen auf den Felsen von Gibraltar.
Veggie, die ganz rot im Gesicht geworden ist, flüstert erstaunt: »Was machen die da?«
Doch es kommt noch erstaunlicher. Denn in diesem Moment hören sie eine dröhnende Stimme vom Meer. Ein bärtiger Mann steht in der Brandung, und auch er hat keine Sachen an. Er ruft: »Dieses Wasser ist göttlich!«
Einen Augenblick lang meint Cristabel, dass es der Gott Poseidon ist, der aus den salzigen Tiefen emporgestiegen ist, um sie in seinem Wagen mitzunehmen, doch dann hört sie andere Stimmen antworten, und als sie sich umdreht, sieht sie zwei Frauen in Shorts und Hemden, die auf den Strand gelaufen kommen. Sie haben Handtücher dabei, und eine von ihnen trägt einen Korb. Sie lässt ihn krachend fallen und ruft: »Nicht so göttlich wie Champagner, da bin ich sicher!«
»Ha!«, schreit Poseidon zurück, und seine tiefe Stimme wird von den Wellen weitergetragen. »Sehr gut!« Er lässt sich mit ausgestreckten Armen rückwärts fallen und treibt auf dem klaren Wasser.
Eine von den Frauen kommt auf Cristabel und Veggie zu und winkt ihnen. »Hallo«, sagt sie. »Ich bin nicht sicher, ob wir schon das Vergnügen hatten.«
Da Veggie nur quieken kann wie eine Maus, muss Cristabel verkünden, dass sie die Seagrave-Kinder sind.
»Wohnt ihr hier?«, fragt die Frau und bürstet sich die Haare zurück, die so kurz geschnitten sind wie die eines Jungen.
»Wir wohnen in unserem Haus, Chilcombe«, erklärt Cristabel.
Die andere Frau ruft herüber: »Hat das Kind gerade Chilcombe gesagt? Das ist doch da, wo Rosalind Elliot ihr Lager aufgeschlagen hat, oder? Mutter hat es mir erzählt, ich bin mir ganz sicher.«
»Rosalind Elliot? So weit weg von London?«, staunt die erste Frau. »Unbegreiflich.«
»Meine Liebe, haargenau dasselbe habe ich mir auch gedacht.«
»Was um Himmels willen macht sie hier draußen? Basare eröffnen?«
Als sie hört, wie ihre Mutter erwähnt wird, fasst Veggie neuen Mut, und sie verkündet: »Rosalind ist meine Mutter.«
»Den Tag müssen wir uns im Kalender rot anstreichen«, sagt die Erste. »Wir müssen Ros einen Besuch abstatten. Und herausfinden, warum sie sich hier niedergelassen hat. Die einzige Möglichkeit, die mir einfällt, ist die, dass sie keine große Auswahl mehr hatte.«
»Du bist eklig, Hilly«, antwortet die andere. »Genauso wie der Gestank von diesem verwesenden Wal. Mein Gott.«
»Steh nicht gegen den Wind, meine Liebe. Komm hier rüber.«
Jetzt, wo die Frauen näher gekommen sind, erkennt Cristabel, dass sie fast gleich aussehen. Beide sind schlank und flachbrüstig, nichts als Ecken und Schlüsselbeine, mit kurz geschnittenem blonden Haar, das sie sich aus den kantigen Gesichtern geschoben haben. Frauen, die aus Linien bestehen, wie die Illustrationen in Rosalinds Zeitschriften.
Es kracht, als Poseidon dem Meer entsteigt und über die Schiefersteine stolpert. Das meiste von seinem breiten Körper ist mit lockigem Haar bedeckt, und ein schmaler dunkler Pelzstreifen verläuft an seinem Bauch hinab.
»Hallo!«, ruft er und winkt in Richtung der Seagrave-Kinder. »Was haben wir denn hier?«
Cristabel ist verblüfft, denn sie weiß nicht, welche Etikette man bei der Begrüßung eines stark behaarten, nackten Mannes beachten muss. Veggie löst das Dilemma, indem sie sich die Hände vors Gesicht hält und sagt: »Wir sind Florence und Cristabel. Freut uns sehr, Sie kennenzulernen.«
Cristabel, die es ein wenig stört, dass Veggie vor ihr geantwortet hat, beschließt, einfach nur den Bart des Mannes anzuschauen, sonst nichts. Als sie aufschaut, um den Bart zu lokalisieren, stellt sie fest, dass er gerade auf sie zukommt.
»Dieses Kind hat ein ganz besonderes Gesicht«, sagt der Mann. »Im ersten Moment habe ich schon gedacht, Anna Achmatova hat mich bis hierher verfolgt.« Er streckt die Hand aus, die noch feucht ist vom Meer, und greift Cristabel unters Kinn, wobei er seine Hand um ihr Gesicht legt wie einen Verband gegen Zahnschmerzen. »Ich sollte dich malen«, sagt er, und im ersten Augenblick glaubt sie, er will sie anstreichen, sie mit zähflüssiger Farbe bemalen, bis sie eine augenlose Statue ist. In der Ferne hört sie die klagenden, moskitoähnlichen Rufe von Mademoiselle Aubert.
»Wir müssen jetzt gehen«, sagt Veggie unter ihren Händen und beginnt rückwärtszugehen. »Das ist unsere Gouvernante. Sie hat gemerkt, dass wir weg sind, also dürfen Sie nicht versuchen, uns zu fangen.«
Der nackte Mann lächelt wohlwollend und hebt die Hände zu einer weit ausholenden Geste. »So ist es doch immer, oder? Sobald wir uns treffen, trennen wir uns auch schon wieder.« Sein schwarzes Haar ist ebenfalls zurückgestrichen, aber sein Haaransatz ist auch schon etwas nach oben gerutscht, sodass seine vorgewölbte Stirn und die dunklen Augen, die tief in seinem Schädel sitzen, umso mehr hervortreten. Er hat die Wangenknochen eines Boxers und einen Stiernacken.
»Ich bitte um Verzeihung, aber das hier ist unser Strand«, sagt Cristabel. »Das ist unser Strand, und diese Kinder stehen auf meinem Wal.«
»Das ist dein Wal?«, staunt eine der Frauen. »Könntest du nicht was gegen diesen Gestank unternehmen?«
Die andere Frau sagt: »Keine Sorge, Mädchen, wir kennen eure Mutter. Wir schauen kurz bei ihr rein. Ros wird aus den Latschen kippen.«
»Allerdings«, erwidert die erste Frau und legt ihrer Begleitung den Arm um die Taille. Hinter ihnen springen die wilden Kinder auf dem Wal herum. Eines von ihnen streckt ihnen die Zunge heraus.
»Rosalind ist nicht meine Mutter«, sagt Cristabel und ignoriert, dass Flossie sie am Ärmel zieht.
Mittlerweile hat Mademoiselle Aubert die Landzunge umrundet und kommt schnell näher. Ihre stämmigen Beine tragen sie über die Steine. »Alors! Criiistabel! Flooorence! Weg da von diesem stinkenden Fisch!«
Der Mann, der jetzt ein Handtuch aufgehoben hat, das er sich um die Taille wickelt, schaut interessiert auf. »Bonjour!« , ruft er und fügt auf Französisch mit heftigem Akzent hinzu: »Was für eine Spottsumme zahlen die Ihnen, damit Sie ihren Kindern hinterherlaufen?«
Mademoiselle Aubert giftet in ihrer Muttersprache zurück: »Mit Verlaub, das geht Sie nichts an, Monsieur.«
»So viel, hm?«, sagt der Mann, immer noch auf Französisch. »Ah, aber es ist ein Privileg, oder? Als Dienerin den Kindern reicher Leute an einem so schönen Tag wie diesem hinterherzujagen.«
Mademoiselle Aubert kommt näher, sie ist ganz außer Atem. »Ich bin keine Dienerin, Monsieur. Ich komme aus einer guten Familie.«
»Das bezweifle ich nicht, Mademoiselle. Ich komme auch aus einer guten Familie, mit einem hübschen Haus in der schönsten Stadt Russlands, und letztes Jahr hat mein Bruder ein Taxi durch Paris gelenkt, während ich am Seine-Ufer saß und Porträts von den Frauen reicher Männer anfertigte, und keiner von uns könnte Ihnen sagen, ob unsere Eltern noch leben oder tot sind. So ist das in diesen modernen Zeiten, oder? Auf einmal sind wir hier gelandet, angespült an den Stränden der Engländer.«
Mademoiselle Aubert runzelt die Stirn über diesen seltsamen Fremden, der ihre Sprache spricht, und kehrt zu ihrem langsamen Englisch zurück. »Sie kennen Paris?«
»So wie ich die Körper meiner Liebhaberinnen kenne«, antwortet er, ebenfalls auf Englisch.
Mademoiselle Auberts Stirnrunzeln vertieft sich. »Es war mein Zuhause.«
»Dann müssen wir uns über Paris unterhalten. Es ist die einzige Stadt auf der Welt, nicht wahr?«
Mademoiselle Aubert verschränkt die Arme. »Für Sie vielleicht. Für mich nicht mehr.«
»Aber warum denn nicht?«
Mademoiselle Aubert schaut finster drein.
Der Mann mustert sie aufmerksam. »Lassen Sie mich raten. Ihre Familie ist nicht mehr, was sie früher einmal war. Es waren harte Zeiten.«
Sie nickt.
Er fährt fort: »Davor ein Leben voller Vergnügungen. Ein schönes Haus.«
Mademoiselle Aubert lacht bitter auf. »In Faubourg Saint-Germain. Frische Blumen an jedem Tag des Jahres.«
»Faubourg Saint-Germain? Und jetzt Kindern hinterherlaufen. Ach, und welchem schrecklichen Schicksal ist das Haus der Blumen anheimgefallen?«
»Das, Monsieur, geht Sie überhaupt nichts an.«
»In der Tat nicht«, pflichtet er ihr herzlich bei.
Mademoiselle Auberts Unterkiefer bewegt sich nach rechts und links. »Verkaufen Sie mich nicht für dumm.«
»Das mache ich sicher nicht.«
»Das Haus ist nicht durch Leichtsinn verloren gegangen.«
»Wer würde so etwas auch denken!«
»Mein Vater ist in der Schlacht an der Marne gefallen. Er hat nie geglaubt, dass er sterben würde.«
»Das glauben Helden nie.«
»Jetzt wohnt meine Mutter über einem Laden in der Rue des Rosiers. Sie nimmt Näharbeiten an und hofft die ganze Zeit, dass ein wohlhabender Mann sie heiraten wird, damit unsere Familie zu neuer Größe ersteht. Aber meine Mutter ist alt und finanziell ruiniert.«
Cristabel und Veggie starren Mademoiselle Aubert an. So viel haben sie sie noch nie erzählen hören. Früher haben sie sie immer als ein festes Hindernis in einem unvorteilhaften schwarzen Kleid gesehen, nicht als richtige Person, und ganz sicher nicht als Person mit einer Geschichte. Wie interessant, von Leuten zu hören, die in vornehmen Häusern in Paris wohnen, und verarmten Müttern, die Näharbeiten annehmen. Frankreich kennen sie nur als das Land, in dem Soldaten des britischen Empire tapfer ihr Leben im großen Krieg gelassen haben. Und Rosalind und Willoughby fahren immer nach Frankreich, wenn sie sich von den Kindern erholen wollen. Beides legt nicht die Vermutung nahe, dass dort Menschen wohnen, die irgendetwas Interessantes machen.
»Die Uhr bewegt sich langsam für die Menschen, die darauf warten, dass die Vergangenheit zurückkehrt«, sagt der Mann und streckt seine Hand aus. »Ich bin Taras Grigorewitsch Kovalsky. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
Mademoiselle Aubert, deren Augen sich zu abschätzenden Schlitzen verengt haben, streicht sich nachdenklich über das Muttermal an ihrer Oberlippe, dann gibt sie Taras Grigorewitsch Kovalsky die Hand und scheint nicht im Geringsten überrascht, als er sich vorbeugt, um sie zu küssen. »Ich bin Mademoiselle Aubert«, verkündet sie über seinen gebeugten Kopf. »Ernestine Aubert.«
Eine der blonden Frauen, die den Ausdruck in Veggies weit aufgerissenen Augen sieht, sagt laut vor sich hin: »Alle erzählen Taras am Ende ihre Lebensgeschichte, meine Liebe. Normalerweise bevor sie sich bereit erklären, sich für ihn auszuziehen. Er ist ein geschicktes Biest, du wirst schon sehen.«
Mademoiselle Aubert starrt die Frau giftig an, dann packt sie Veggies Hand und marschiert zurück über den Strand, wobei sie sagt: »Au revoir, Monsieur Kovalsky.«
Monsieur Kovalsky, der Gott Poseidon, der Porträtmaler, das geschickte Biest, winkt Mademoiselle Aubert und Veggie nach, bevor er sich wieder zu Cristabel dreht, um sie freundlich anzulächeln. Sein Lächeln sieht ganz normal aus, wie die Fortsetzung einer Reihe von vorherigen Lächeln. Er bückt sich zu ihr herunter und deutet mit dem Kopf auf den Wal. »Ich bin wegen dieses Tiers gekommen. Ich will ein Bild von ihm malen. Du sagst, es gehört dir.« Seine schwarzen Augen glänzen.
»Ich habe es entdeckt, Monsieur«, sagt Cristabel.
»Dann hast du auch einen Anspruch darauf.«
»Genau.«
»Bekomme ich deine Erlaubnis, ein Porträt von ihm zu malen?«
Sie überlegt kurz, dann sagt sie: »Na gut. Oui . Ich gebe Ihnen meine Erlaubnis. Aber sorgen Sie dafür, dass diese Kinder da runtergehen. Sie sollten ihn mit Respekt behandeln.«
»Dein Wille geschehe.« Er legt die Hände flach aufeinander. »Merci.«
»De rien« , sagt Cristabel. »Ich hoffe, es wird ein ausgezeichnetes Porträt.«
Monsieur Kovalsky wendet sich schon ab, als er sagt: »Ich hoffe, dass unsere Wege sich wieder kreuzen, Hüterin de s Wals.«
Cristabel rennt Veggie und Mademoiselle Aubert hinterher. Sie schaut nur zurück, um zu sehen, wie Monsieur Kovalsky mit dem Kopf im Nacken aus der Champagnerflasche trinkt und die zwei Frauen sich gegenseitig die Hemden ausziehen. Dann bellt Monsieur Kovalsky die wilden Kinder an, und sie verschwinden vom Wal, als wären sie von der Kraft seiner Stimme weggeblasen worden.
Während der ganzen Unterrichtsstunden am Nachmittag sieht Cristabel immer noch Monsieur Kovalsky vor ihrem geistigen Auge. Sie bewahrt sich sein Bild wie eine Muschel, die sie vom Strand mitgenommen hat. Mademoiselle Aubert – Ernestine! – ist ähnlich abgelenkt. Cristabel und Veggie erwischen sie mehrmals, wie sie aus dem Fenster schaut und ganz leise eine unbekannte Melodie summt. Sie fordert sie auf, Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: Wie weit ist es bis zur nächsten Metro-Haltestelle? , und: Wie viel kosten diese schönen Tulpen?
Die blonden Frauen hatten von Rosalind gesprochen und darüber geredet, dass sie Chilcombe besuchen wollten. Doch Cristabel will dieses Wissen nicht teilen, denn die Elster Rosalind wird eine Begegnung mit Monsieur Kovalsky und seinen seltsamen Begleiterinnen für sich allein haben wollen. Rosalind mit ihrem schräg gelegten Kopf, ihren Klauen. Nein, Cristabel wird sich diesen Schatz, diese glänzende Entdeckung bewahren, solange sie kann. Es ist eine Muschel, die sie vorsichtig zwischen ihren Handflächen versteckt, während ihre Hände so aussehen wie bei jemandem, der darauf wartet, applaudieren zu können.