Willkommen auf Chilcombe

April 1928

Es ist zu warm, um drinnen zu bleiben. Mademoiselle Aubert hat ihren freien Nachmittag und schreibt Briefe, wahrscheinlich Beschwerdebriefe, deswegen steigen Cristabel und Veggie auf den Ceal Head, der die östliche Grenze der ihnen bekannten Welt markiert. Es ist ein ungefähr hundertfünfzig Meter hoher, nackter Kreidefelsen am äußersten Ende ihres Strandes, der sich in den Ozean hinausstreckt, fast wie das langnasige Profil eines schlafenden Drachen. Die abfallenden Flanken des Drachen sind bedeckt mit grüner und brauner Vegetation, durch die hie und da Fleckchen von weißem Kalkstein hindurchschimmern wie alte Knochen.

Manchmal besuchen Gruppen von Schuljungen Ceal Head, um mit Hämmern auf den Felsen zu schlagen, auf der Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Gesteinsformationen hier sind für Leute interessant, die Interesse an Gesteinsformationen haben – und für Digbys Hauslehrer. Jetzt gerade wühlt er – also der Hauslehrer – auf der Suche nach Fossilien am Fuß der Klippe herum, eine gebückte Streichholzfigur unter dem Kalksteingesicht der Geschichte. Digby steht lustlos mit einem Eimer hinter ihm.

Die Seagrave-Mädchen folgen dem gewundenen Pfad, der auf den Ceal Head hinaufführt. Sie bleiben am Rand stehen und schauen hinunter auf den unteren Teil der Klippe, einen Wust aus Wildwuchs, der am Fundament der Landzunge entlang verläuft. Dort hört man Ringeltauben, die sich mit ihrem unermüdlichen Guu-guu-guu verständigen, und geschäftige Steinschmätzer mit ihrem Schnipp-schnipp- pieep! Schnipp-schnipp-piep! Manchmal erspähen sie auch Hänflinge, Singvögel, die riskant auf den obersten Zweigen der Ginsterbüsche schaukeln und dabei ihre trällernden Lieder singen.

Während Cristabel und Veggie höher klettern, wachsen am Wegesrand immer weniger Bäume, und die, die da noch stehen, sind knorrig und vom Wind gekrümmt. Bäume in exponierten Lagen tun gut daran, ihre Segel nicht zu weit aufzuspannen, denkt Cristabel. Sie hält viel von zweckmäßigen Dingen. Wenn sie hinter sich schaut, sieht sie eine Gruppe von Erwachsenen an ihrem Strand picknicken, in sicherem Abstand zu ihrem Wal. Ihr Strand ist im Ort bekannt als Chilcombe Mell Beach, doch die Seagrave-Kinder kennen gar keine anderen Strände, also brauchen sie ihm auch keinen Namen zu geben. Cristabel erkennt Willoughby und Perry. Um die anderen kümmert sie sich nicht, die sind ihr nicht wichtig. Sie will einfach immer weitergehen, bis sie zu einem Nichts zusammengeschrumpft sind.

»Schneller Marschschritt, Veggie«, sagt sie. »Als ich so alt war wie du, bin ich diesen Hügel ganz alleine hochgerannt.«

»Dieser Hauslehrer ist schon ein ziemlich pfiffiges Kerlchen«, verkündet Myrtle, die amerikanische Dichterin, während sie träge ihren Drink im Glas kreisen lässt und den Strand hinunterspäht, wo der Hauslehrer herumkrabbelt. »Steine sehen für mich alle gleich aus.«

Man hat einen Picknick-Lunch eingenommen – wobei vor allem die männlichen Teilnehmer des Ausflugs zugegriffen haben – und dabei mehrere Flaschen Champagner konsumiert. Weitere Flaschen liegen am Wasserrand, halb im Kies vergraben. Es ist ein feuchter Tag und die See so glatt wie Glas. Der Himmel und das Meer sind durchscheinend grau, zerfließen am Horizont ineinander und erschaffen eine Art flache Wand – man kann nirgends hingelangen.

Willoughby, der in einem gestreiften Badeanzug auf dem Rücken liegt, sagt: »Sag mal, Myrtle, trägst du eigentlich Herrenpyjamas? Hast du Perrys Garderobe geplündert?«

»Sie ist doch viel größer als ich«, sagt Perry und schlägt nach den Sandfliegen. Er ist asketisch dünn, rotblond und blass, hat das daunige Haar eines Entenkükens und spricht mit einem leichten Lispeln.

Myrtle lacht. »Willoughby, du musst einen aber auch immer aufziehen. Das ist doch ein seidener Strandpyjama. Den habe ich mir in Nizza gekauft.«

»Wann warst du in Nizza?«, will Rosalind wissen, eine sanfte Stimme, die unter einem Sonnenschirm erklingt.

»Ich habe eine Villa an der Küste, da fahre ich immer hin, wenn ich Sehnsucht nach diesem ganz besonderen Licht bekomme«, sagt Myrtle und streckt ihre langen Arme seitwärts aus. »Aber neuerdings wird es immer voller. Ich überlege mir, ob ich als Nächstes nach Italien gehen soll. Irgendwohin, wo es weniger en vogue ist.«

Rosalind nickt. »In Cowes waren letztes Jahr fast die Hälfte der Leute Ausländer. Wo in Italien würdest du denn hingehen?«

»Venedig, Rom, Verona. Mein Herz führt mich, und ich folge ihm wie ein Hündchen.«

»Du musst uns unbedingt mehr von deinen Gedichten vorlesen, Myrtle. Vielleicht heute Abend.«

»Du bist zu freundlich, Rosalind. Es wäre mir eine Ehre, euch meine Worte vorzulesen.«

Willoughby dreht sich auf den Bauch und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen.

Als sie den Gipfel von Ceal Head erreichen, schauen Cristabel und Veggie aufs Meer hinaus. Es ist so still wie ein Mühlenteich. Wenn sie über die Kante spähen, können sie auf einen Falken hinuntersehen, der regungslos am Felsen hängt.

Das ist wirklich mal etwas – höher zu kommen als ein Falke. Sie können kilometerweit schauen. Im Osten verschwindet die gezackte Küstenlinie in der Ferne, wo es einsame Buchten und Felsformationen gibt. Cristabel hat sich geschworen, dass sie sie alle erobern wird, sobald sie weiter gehen darf als bis zu Ceal Head. Im Westen ist der Ausblick nicht ganz so spektakulär, aber vertrauter. Sie erkennen die Schornsteine von Chilcombe und Digby, der gerade seinem Hauslehrer entkommen ist und zu ihnen hochklettert.

Hinter Chilcombe erstreckt sich jede Menge unerforschtes Gelände. In der Ferne am Horizont liegen die Küstenstadt Weymouth und die Isle of Portland, die mit dem Festland durch einen erhöhten Kiessteig verbunden ist und komplett aus Stein besteht (wie die Mädchen fälschlicherweise glauben, nachdem sie ein Gespräch über die berühmten Steinbrüche der Insel belauscht haben), ein karger, mondähnlicher Ort.

Da sie keinerlei systematische Bildung genossen haben, mussten die Seagrave-Kinder ihr Wissen über die Welt aus den verschiedensten Quellen zu einem einigermaßen brauchbaren Informationsgebäude zusammensetzen. Sie kennen die Namen der meisten Schmetterlinge (Perry), wissen, wie man ein Kaninchen abbalgt (Maudie), dass man im Oktober keine Brombeeren mehr essen darf, weil dann der Teufel draufgespuckt hat (Betty), und den schnellsten Weg zum Dorfpub (Willoughby). Aber sie kennen niemanden im Dorf (Rosalind hielte das für ungehörig) und wissen auch nicht, wie es ist, im Dorf zu leben (sie durchqueren es immer nur, um Willoughby aus dem Pub zu holen), oder was hinter dem Hügelkamm liegt, außer London, dem König und einem Teezimmer in Dorchester, wohin Willoughby sie an ihrem Geburtstag immer auf klebrige Teilchen einlädt.

Was den Rest der Welt angeht, könnten sie einem sagen, dass Frankreich jenseits des Ärmelkanals liegt, ebenso wie die Eiswüsten der Antarktis, der Wilde Westen und die Hängenden Gärten von Babylon, aber sie haben keine rechte Vorstellung, was dort los ist. Digby gibt ab und zu gekürzte Versionen der Lektionen weiter, die er von seinen Hauslehrern bekommt, aber diese isolierten Bildungsinseln sind genauso schnell wieder vergessen: nebelverhangene Felszungen von Latein oder Algebra, unbewohnt und den Vögeln überlassen.

Jedoch hat ihre knappe Kenntnis von Fakten eine umso üppigere Glasur von Fiktion. Ihre bestgehüteten Schätze sind ihre Bücher. Die meisten wurden von Cristabel in den wunderbar freien Monaten nach dem Tod ihres Vaters aus dem Arbeitszimmer befreit, als alle mit anderen Dingen beschäftigt waren und sie freien Zugang zum gesamten Haus hatte.

Abgesehen von ihren geliebten griechischen Sagen und den Abenteuergeschichten von Henty haben sie eine Ausgabe von Alice im Wunderland , hinterlassen von einer scheidenden Gouvernante, und die Mädchen sind zu Mitbesitzerinnen der Shakespeare-Erzählungen von Charles und Mary Lamb und einer illustrierten Ausgabe von Der Sturm ernannt worden, das Digby einmal zu Weihnachten von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Sie benutzen sie, um zum einen Theaterstücke in ihrem Kartontheater zu inszenieren, mit einer Besetzung aus Handpuppen, aber auch, um Szenen auf dem Dachboden nachzuspielen, wobei ihnen ein Bettlaken als Bühnenvorhang dient, das sie an eine Wäscheleine geklammert haben. Wenn sie den Sturm aufführen, übernimmt Digby immer die Rolle des Geistes Ariel, und Veggie spielt Miranda, die romantische Hauptrolle. Cristabel legt einen beeindruckenden Auftritt als Sklave Caliban hin und erhöht die groteske Wirkung, indem sie sich die Backentaschen mit Walnüssen ausstopft.

»Zügelt eure Pferde, ihr gemeinen Herren«, ruft Digby, als er den Hügel hochkeucht, um sich ihnen anzuschließen.

»Ihr tätet gut daran, eine höfliche Zunge in Eurem Kopf zu wahren, Ihr unverschämter Kehlendurchtrenner«, erwidert Cristabel, hebt eine große Karde vom Boden auf und fuchtelt damit in der Luft herum.

Digby bleibt stehen, um sich das Geschirrtuch fester um den Hals zu binden. »Wie könnt Ihr es wagen, den wackeren Robin Hood solcherart anzureden?« Er rennt zu Veggie und packt ihre Hand. »Schöne Marion! Komm hinüber zum Schmugglerpfad! Wir fliehen in die Freiheit!«

Ihre Lieblingsbücher haben sie so oft gelesen, dass sie nur die Umschläge anschauen müssen, um zu wissen, wie es sich anfühlt, sich darin zu befinden. Doch die Welten in diesen Büchern bleiben nicht zwischen den Buchdeckeln. Sie sickern heraus und überlagern die alltägliche Geografie ihrer Leben. Die Kinder sind fest davon überzeugt, dass ein Pfad auf der Klippe früher von Schmugglern in Hentys Buch Moonfleet benutzt wurde. (Er beginnt, wo das Erdrutschgebiet wieder in den Kreidefelsen hineingeht, und klettert in engen Windungen und Haarnadelkurven bis auf den Gipfel. Die Schäfer nennen ihn den Zickzack und … )

»›Sogar Schafe rutschen darauf aus, und ich habe erst von einem einzigen Menschen gehört, der ihn erklettert hat‹«, sagt Digby im Flüsterton und zieht Veggie hinter sich her.

»Ich will aber nicht, Digby«, protestiert Veggie. »Der ist immer so rutschig.«

»So halte denn Wache auf dem Gipfel und benutze deine Muskete klug, mein Mädchen«, sagt Digby.

Hentys Moonfleet mit seinen Erzählungen von wilden Meeren und Schiffen, die an Kiesbänken zerschellen, ist auch verantwortlich für Cristabels Vorstellung, dass der erhöhte Kiesweg, der sich zwischen Weymouth und Portland erstreckt, das Einzige ist, was den stürmischen Ozean davon abhält, auch auf der anderen Seite zu wüten. Sie stellt sich nur zu gern vor, was passieren könnte, wenn dieser Kiesdamm brechen würde, wie die Wellen brüllend über die Bucht laufen würden, gleich einer tausend Mann starken Armee.

In wilden Nächten tritt sie manchmal ans Dachbodenfenster und sagt mit Unheil verkündender Stimme zu Veggie und Digby: »Ich kann heut Nacht die Wellen hören. Wir können nur hoffen, dass der Kiesdamm hält.« Wenn sie das sagt, glaubt sie fast selbst daran, und dann durchläuft sie ein schrecklicher Schauder, der sich noch verstärkt, als sie Veggie anblickt, die die Augen zumacht und ihre Hände zum Beten aneinanderlegt.

»Ihr solltet versuchen zu schlafen«, sagt Cristabel dann immer. »Ich werde Wache halten.«

Dann nickt Digby feierlich und knöpft seinen Pyjama bis oben hin zu. »Ich übernehme die nächste Wache, Captain.«

Der Schmugglerpfad auf Ceal Head verläuft in der Nähe von einigen Backsteinhäuschen, die der Küstenwache gehören. Sie erheben sich hoch über den Meeresspiegel und stellen sich entschlossen jeder Wetterfront, die vom Ärmelkanal herangeweht wird. Der pensionierte Mitarbeiter der Küstenwache, der in einem der Häuschen wohnt, steht mit einem Fernglas in der Hand im Garten. Cristabel und er nicken sich zu.

»Ich habe etwas entdeckt, was für Sie interessant sein könnte, Miss Cristabel«, sagt er, während Digby und Veggie angerannt kommen, um sich ihnen anzuschließen. Digby hat sich den Umhang inzwischen um den Kopf gebunden.

»Was denn, Jim?«, fragt Cristabel.

»Mann mit ausländisch wirkendem Bart, der auf euer Haus zugeht. Sah nicht aus wie ein normaler fahrender Händler, und ich habe ihn auch noch nie hier gesehen. Er hatte auch ein paar Frauen dabei. In Hosen. Guten Tag, Master Digby und Miss Florence.«

»Guten Tag, Jim«, sagt Digby. »Wie geht es Ihrer Frau?«

»Täglich besser, Master Digby, und dafür können wir wirklich dankbar sein. Was haben Sie denn da auf dem Kopf? Spielt ihr wieder Kreuzritter?«

»Es ist eine meisterliche Verkleidung«, flüstert Digby.

»Wann haben Sie diesen Mann gesehen, Jim?«, fragt Cristabel.

»Noch keine fünf Minuten her, würde ich sagen.«

Cristabel blickt auf den Strand hinab. Die Erwachsenen sind noch immer dort unten, sie liegen ausgestreckt da wie gefallene Körper. »Ich bin Ihnen sehr verbunden, Jim.«

»Kein Problem, Miss. Ich wollte Ihnen eigentlich den Kreuzknoten beibringen, aber wenn Sie jetzt gehen wollen, will ich Sie nicht weiter belästigen.«

»Es tut mir leid, Jim, aber das scheint doch eine wichtige Angelegenheit zu sein«, sagt Cristabel. »Na los, Veggie, keine Müdigkeit vorschützen.«

»Warum müssen wir immer rennen?«, fragt Veggie. »Warum können wir uns nie mal hinsetzen? Da drüben wäre ein wunderbarer Platz zum Sitzen.«

»Keine Zeit für Simulantentum«, sagt Cristabel. »Das ist Monsieur Kovalsky. Er kommt nach Chilcombe.«

»Dann nichts wie hin!«, ruft Digby. Er sprintet voraus, und jeder dritte Schritt ist ein Sprung oder ein Hopser oder ein wilder Satz über einen Busch.

Unten am Strand fragt Perry: »Sind das da oben deine Kinder?«

Rosalind späht unter ihrem Sonnenschirm hervor die Klippe hoch. »Schwer zu sagen.«

»Die kommen diesen Pfad ja in einem ganz schönen Tempo herunter. Ich glaube, das sind die drei.«

Willoughby sagt, ohne das Gesicht aus dem Kies zu heben: »Komm schon, Perry – du weißt, dass Rosalind nur ein Kind hat. Einen Jungen namens Digby. Diese Mädchen haben nichts mit ihr zu tun.«

»Ich muss gestehen, ich komme manchmal durcheinander, welches Kind jetzt zu wem gehört«, sagt Myrtle. »Ist das jüngere Mädchen deins, Willoughby? Das immer so lächelt? Sie ist wirklich goldig.«

Willoughby steht auf und watet ins Meer. »Na, eine Runde baden, Perry?«

»Zu gerne, alter Junge«, sagt Perry. »Unerträglich schwül heute.«

»Ich glaube, das waren wirklich die Kinder«, sagt Perry, der aufgestanden ist und sich die Steinchen von den Beinen streift. »Aber jetzt kann ich sie nicht mehr sehen.«

Willoughby verschwindet unter der Wasseroberfläche.

Als sie den Klippenpfad zur Hälfte hinter sich gebracht haben, biegen Cristabel, Digby und Veggie scharf nach rechts ab, um eine Abkürzung zu nehmen. Sie klettern über eine Steinmauer und schießen durch den Wald, der Chilcombe umgibt, als sie plötzlich ein charakteristisches Lachen hören.

»Der Rasen im Vorgarten«, ruft Cristabel und galoppiert los. »Monsieur Kovalsky ist auf dem Rasen im Vorgarten.«

Und da ist er tatsächlich: flach auf dem Rücken ausgestreckt. Die beiden kurzhaarigen Frauen sitzen am Gartentisch und trinken und rauchen. Sie tragen zueinander passende, männlich wirkende Kleidung: gestreifte Oberteile und weite Hosen. Blythe steht mit Maudie in der Nähe, mit einem Soda-Siphon in der Hand, und auf seinem Gesicht spiegeln sich zugleich milde Besorgnis und intensives Interesse.

»Hurra, die Kinder sind hier. Die können für uns bürgen«, sagt eine der Frauen.

»Master Digby, Miss Cristabel, Miss Florence, die Gäste sind gekommen, um Mrs Seagrave zu besuchen. Sie behaupten, sie hätten bereits Ihre Bekanntschaft gemacht«, sagt Blythe.

»Großartig«, sagt Cristabel. »Ja, wir haben sie schon kennengelernt. Danke, Blythe.«

Als er Cristabels Stimme hört, richtet sich Monsieur Kovalsky in eine sitzende Position auf. Er trägt ein offenes Hemd und eine locker sitzende Cordhose. Seine nackten Füße sind übersät mit Farbspritzern. »Das Kind ist hier«, sagt er. »Die Hüterin des Wals mit dem Achmatowa-Gesicht.«

Cristabel hebt das Kinn und geht quer über den Rasen auf ihn zu. Sie streckt die Hand aus, und als er seine breite Hand in ihre legt, schüttelt sie sie mit festem Griff. »Cristabel Seagrave«, sagt sie. »Willkommen auf Chilcombe.« Sie hat diesen Moment so oft im Geiste durchgespielt, und es ist genau so, wie es sein sollte. Das Ganze wird auch kaum durch die Ankunft von Rosalind und Myrtle beeinträchtigt, denn in dem Moment, als sie erscheinen, hält Monsieur Kovalsky Cristabels Hand, und das bedeutet, dass Cristabel – bis in alle Ewigkeit – ihn immer zuerst gekannt haben wird.

»Rosalind«, sagt sie, »das ist Monsieur Kovalsky. Er ist ein Künstler aus Russland, der einige Zeit in Paris verbracht hat, im Lande Frankreich.«

Rosalind, die nach dem Spaziergang vom Strand nach Hause ein untypisch gerötetes Gesicht hat, bleibt im ersten Moment stumm. Dann ruft eine der blonden Frauen: »Ros! Hu-hu, Schätzchen! Überraschung!«

»Philly? Philly Fenwick? Bist du das?«

»Ebendie«, sagt Philly und hebt ihr Glas. »Warum setzt du dich nicht zu uns? Ich glaube, du wohnst hier, stimmt’s?«

Rosalind geht auf den Tisch zu und drückt Maudie ihren Sonnenschirm in die Hand. »Philly, du liebe Güte, wie lang ist das jetzt her?«

Philly steht halb auf, um sie zu umarmen. »Absolute Äonen. Oh, was trägst du denn da für einen Duft? Mitsouko? Ach, das versetzt mich gleich in die Vergangenheit zurück. Hilly kennst du doch auch. Hillary Vaughan. Wir haben uns auf der Kunstschule kennengelernt und sind seitdem unzertrennlich. Philly und Hilly – das musste einfach sein.«

»Uns könnte man nicht mal mit Gewalt trennen. Ich bin auch sehr erfreut«, sagt Hilly.

»Was führt euch nach Chilcombe?«, fragt Rosalind.

Mit den zwei Fingern, zwischen denen sie ihre Zigarette hält, als würde sie mit einem rauchenden Colt wedeln, deutet Philly auf den Rasen. »Wir sind mit diesem unehrenhaften Halunken hier. Haben uns in Paris getroffen. Hilly hat ihm Modell gesessen, ich habe Kunstkurse besucht. Wir hatten beide das Debütantinnenleben von Herzen satt.«

»Widerlich«, stimmt Hilly ihr zu. »Endlose Lunches, auf denen nichts passiert, außer dass man sich über Lunches unterhält. Alle unsere Liebhaber und Brüder sind tot. Was interessieren uns Lunches?«

»Er hat uns in Montmartre in einem Nachtclub aufgegabelt, wo wir gerade den Ki-Ki-Kari getanzt haben, und er wollte, dass wir ihm als Zwillinge Modell stehen. Wir haben Unmengen von Absinth getrunken und sind noch in derselben apokalyptischen Nacht in sein Studio eingezogen. Ziemliches Abenteuer.«

»Wir sind Dionysos gefolgt«, sagt Hilly und lässt ihre Augen auf Taras ruhen.

»Wir sind einem großen Künstler gefolgt«, sagt Philly. »Er ist ein echtes Original, Ros. Seine Gemälde erinnern an nichts, was du schon mal gesehen hast. Wir sind gerade unterwegs nach Cornwall. Dachten uns, wir schauen mal kurz vorbei.«

»Taras wollte den berühmten Wal malen«, fügt Hilly hinzu.

»Ich muss schon sagen, es ist ganz schön schrullig, dass du immer noch einen Butler hast. Einen uralten Bediensteten«, sagt Philly. »Hast du auch eine künstliche ausgemalte Grotte?«

»Taras? Taras Kovalsky?«, ruft Myrtle. »Oh mein Gott! Das ist dieser russische Künstler, von dem ich dir erzählt habe, Rosalind. Monsieur Kovalsky, was für ein glücklicher Zufall, dass wir uns wiedersehen. Myrtle van der Werff. Wir haben uns in Antibes kennengelernt.«

Taras Kovalsky, der die ganze Zeit auf dem Rasen sitzt und Cristabel anlächelt, dreht sich zu Myrtle um. »Wir sind uns noch nie begegnet.«

»Es war eine Poolparty bei einem Paar aus Florida. Sie hatten eine ganze Schar von Verehrerinnen, aber wir haben uns intensiv über Bildhauerei unterhalten. Die elastischen Eigenschaften von Skulpturen.«

Taras gibt ein brummendes Geräusch von sich. »Nein«, beharrt er dann. »Aber wir lernen uns jetzt ja hier kennen, auf diesem grünen Rasen.«

»Ich habe eine Lesung gehalten«, sagt Myrtle. »Ein Gedicht über ein Fischernetz.«

»Myrtle ist Dichterin«, erklärt Rosalind. »Eine gefeierte Dichterin. Wir haben uns beim Skifahren in der Schweiz kennengelernt. Sie wird uns auch heute Abend etwas aus ihrem Werk vorlesen. Vielleicht möchten Sie sich uns anschließen, Mr Kovalsky? Für ein Abendessen und Gedichte? Ihr auch, Philly und Hillary. Nichts Großes. Hummersalat. Jakobsmuscheln. Eine leichte Mousse au café

Taras steht auf, geht auf Rosalind zu und ergreift ihre Hand mit seinen farbbespritzten Pranken. »Nennen Sie mich Taras. Ich bin dankbar für Ihre Freundlichkeit. Heute bin ich müde. Ich male und male, aber es will nichts werden.«

»Ein gutes Essen kann Ihre künstlerischen Kräfte vielleicht wiederbeleben, Mr Taras«, sagt Rosalind. »Mögen Sie Hummer?«

»Was auch immer Sie mit mir teilen wollen.«

»Maudie, bitte geben Sie Betty Bescheid, dass wir zusätzliche Gäste zum Dinner haben. Wo übernachtet ihr denn?«

Philly lacht. »Wir sind Bohemiens, meine Liebe. Zigeuner. Wir haben uns auch schon auf schäbigen Bauernhöfen verkrochen.«

»Wir klopfen an Türen und bitten um Zimmer für die Nacht«, sagt Hilly.

»Macht das deiner Mutter nichts aus?«, fragte Rosalind. »Ihr werdet hier wohnen, darauf bestehe ich. Zumindest für ein paar Nächte.«

»Es ist großartig, Ros, glaub mir«, sagt Philly. »Sobald man einmal gelernt hat, das Leben zu genießen, ohne sich ständig Gedanken über Geld zu machen, öffnet man sich dem Schicksal.«

»Noch im allerkleinsten Dorf finden wir eine Unterkunft und eine einheimische Frau, die für uns kocht. Uns fehlt kaum etwas«, erzählt Hilly.

»Es gibt immer wieder Menschen, die an die Kunst glauben«, sagt Taras und hebt Rosalinds Hand an seinen Mund. »Sie sind großzügig. Ich bringe noch weitere Personen mit. Wir haben ein paar Kinder dabei.«

»Wir haben jede Menge Platz«, versichert Rosalind.

In diesem Moment erscheinen Willoughby und Perry im Garten, die sich ihre Handtücher um den Hals gehängt haben. Ihnen folgt Digbys Hauslehrer mit einem Eimer voll Steine in der Hand.

Rosalind winkt ihrem Mann zu. »Schön geschwommen, Liebling? Wir haben Gäste.«

»Ich sehe es«, sagt Willoughby.

Rosalind wendet sich wieder ihren Gästen zu. »Wollen wir acht Uhr sagen fürs Dinner? Mit Gedichten hinterher. Was für ein charmant spontaner Salon. Sagen Sie, Mr Taras, malen Sie auch Porträts?«

»Meine Motive wählen mich«, sagt er.

»Wir haben wunderbare Kunstwerke hier auf Chilcombe. Vielleicht möchten Sie ja, dass ich Ihnen einmal das Haus zeige?« Rosalind deutet aufs Haus, und Taras geht hinein. Sie huscht ihm hinterher und sagt: »Wenn Sie nach links gehen wollen, sehen Sie …«

Doch Taras hat schon die Empfangshalle durchquert und ist barfuß die Haupttreppe hochgelaufen, wobei er an den Gemälden vorbeigegangen ist, die er kaum eines Blickes gewürdigt hat. »Pferde, Pferde, Hunde. Was ist das, ein Eber? Die Engländer mit ihren Tieren. Es ist unnatürlich.«

»Die moderneren Bilder habe ich im Erdgeschoss aufhängen lassen, Mr Taras«, sagt Rosalind, die ihm folgt, »obwohl man von der Galerie auch einen schönen Blick auf die Glaskuppel hat. Die habe ich einbauen lassen. Mit Sternzeichenmotiven.«

Taras nimmt sich einen Moment Zeit, um über das Geländer hinunter in die Empfangshalle zu schauen, wo sich die Kinder, Digbys Hauslehrer, Myrtle und Perry versammelt haben. Willoughby hat sich für einen Drink in den Salon gestohlen, gefolgt von Hilly und Philly. Taras deutet auf Cristabel, wobei seine nach unten weisende Hand genauso schicksalhaft aussieht wie die von Michelangelos Gott am Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle. »Wo haben sie dich untergebracht, Kind? Wo schläfst du und deine französische Dienstbotin?«

»Auf dem Dachboden«, erwidert Cristabel.

»Da liegt bei uns traditionellerweise das Kinderzimmer«, beeilt sich Rosalind zu erklären. »Sagen Sie, Mr Taras, woher wissen Sie, dass wir eine französische Dienstbotin haben?«

»Kinder und Dienstboten immer unterm Dach. Vieles verrät sich durch das, was oben im Haus versteckt wird«, sagt Taras. »Cristabella, zeig mir den Weg zu deinem Dachboden.«

Cristabel rennt die Treppe hoch und führt Taras über die ganze Galerie, an den Schlafzimmern der Erwachsenen und an Digbys Zimmer vorbei bis zu einer Holztür, hinter der sich ein fensterloser Korridor verbirgt, durch den man zu einer schmalen Treppe gelangt, die noch weiter nach oben führt. Den beiden folgen Perry, Myrtle, Digby mit seiner Geschirrtuch-Kopfbedeckung, sein Hauslehrer, Veggie und eine steif lächelnde Rosalind, alle in einer langen Reihe, wie die Bergsteiger.

Oben im beengten Dachboden muss Taras sich ducken. Mit seinen breiten Schultern und den nackten Füßen sieht er aus wie ein Riese am oberen Ende einer Bohnenstange. Er lässt jeden Raum, den er betritt, sofort kleiner aussehen. Das Schlafzimmer der Mädchen, mit seinen gestreiften Tapeten und dem Kartontheater, wirkt wie ein Puppenhaus, während sich Maudies Zimmer unterhalb der Regenrinne befindet und nicht viel mehr ist als eine Abstellkammer. Ein zerbrochener Teekessel steht neben ihrem Bett, der die Tropfen vom undichten Dach auffängt.

Die Kinder sind Besucher gewohnt, die so langsam und respektvoll durchs Haus kreisen wie Taucher, deswegen ist es höchst erheiternd, wie Taras alle Räume betritt, die Gäste sonst nie betreten, und Türen aufschleudert, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.

Die Tür am Ende des Dachbodens, die zu Mademoiselle Auberts Zimmer führt, ist abgeschlossen, und der Raum dahinter ist durchdrungen von der Art von Schweigen, die von jemandem ausgeht, der hinter der Tür steht und lauscht. Taras rüttelt an der Klinke, dann geht er weiter zu einer angrenzenden kleineren Tür, die in einen Lagerraum mit niedriger Decke führt, in der Kisten, Truhen, Koffer und das Elfenbeinmodell eines indischen Palasts stehen.

Eine Kiste ist auf die Seite gefallen und hat dabei ihren Inhalt – ein Offiziersstock, mehrere orientalische Krummsäbel und Speere – auf den Boden verteilt. An den Wänden stapeln sich Gemälde und Wandteppiche in wildem Durcheinander, neben Vitrinen mit gesprungenen Glasscheiben, die ausgestopfte Wildgänse und Wachteln enthalten, während die präparierten Antilopenköpfe auf dem Boden liegen und mit leeren Augen nach oben starren. Ganz hinten lehnt ein ausgestopftes Elefantenbaby auf Rädern etwas waghalsig an einer viktorianischen Wiege, und in einer spinnwebenverhangenen Ecke hinter der Wiege befindet sich ein Bücherturm, auf dem ein Apfelbutzen und ein Notizbuch liegen und noch etwas, was auf den ersten Blick aussieht wie eine handgemalte Landkarte, die von einer Statuette aus Türkis beschwert wird.

»Was ist das alles?«, will Taras wissen.

»Ich komme nicht oft hier rauf«, sagt Rosalind, die sich ein Taschentuch vors Gesicht hält. »Ich glaube, viele von diesen Objekten wurden vom Vater meines Mannes gesammelt, Robert Seagrave, der ein großer Reisender war.«

»Gesammelt?«, fragte Taras. »Als hätten sie alle herumgelegen wie Gepäckstücke und nur darauf gewartet, dass er sie mit nach Hause nimmt. Ich schätze, die haben niemandem gehört, bis der Großvater gekommen ist und sie entdeckt hat.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann«, sagt Rosalind. »Viele von diesen Objekten sind antik. Sie haben sicher nicht irgendwo herumgelegen.«

Taras klettert in den Dachraum, wobei er einen Antilopenkopf umwirft, als er die Türkisstatuette hinter der Wiege hervorholt. Er hat nicht genug Platz, sich umzudrehen, deswegen kommt er rückwärts heraus, wie ein großer Bus im Rückwärtsgang, und schwenkt dabei die Statue. »Diese … diese Schöpfung … ist eine ägyptische Göttin, die angebetet wurde. Wer betet sie hier an?«

»Das ist eine Göttin?«, staunt Cristabel.

»Sollen wir sie zurückgeben?«, schlägt Digby vor.

»Ist sie wertvoll?«, fragt Rosalind. »Wir könnten ja ein paar von den wertvolleren Objekten mit nach unten nehmen.«

»Jetzt, wo es einen Preis hat, wollen Sie es haben«, bemerkt Taras.

»Ich weiß nichts über seinen Preis«, entgegnet Rosalind und lacht trocken und etwas gezwungen.

»Wenn Sie so erpicht darauf sind, warum machen Sie dann kein Angebot?«, fragt Perry. »Sie müssen ja auch Ihre Bilder verkaufen.«

»Geld ist der große Zerstörer der Kunst«, sagt Taras.

»Tatsächlich?«, fragt Rosalind. »Viele Künstler, die ich kenne, betrachten Geld als ein großes Geschenk.«

»Ein Geschenk, das immer schwerer und schwerer wird«, entgegnet Taras, der jetzt zärtlich den Staub von der Türkisstatuette wischt, eine sitzende Figur mit einem Löwenkopf.

»Ich bin mir sicher, jede Familie hat Kisten auf dem Dachboden. Familienschätze, die für Regentage weggepackt wurden«, trällert Rosalind.

»In England ist das Wetter doch immer schlecht, oder?«, gibt Taras zurück.

»Das ist alles unheimlich faszinierend«, sagt Rosalind, »aber ich muss jetzt runter und mit Betty über die Jakobsmuscheln sprechen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen? Den Kindern wird es sicher Spaß machen, Sie weiter herumzuführen.« Ihre eleganten Schritte entfernen sich über den Holzboden. Die Menge auf dem Dachboden weicht zurück, um sie vorbeizulassen, dann scharen sie sich wieder um Mr Taras.

»Also wirklich, Mr Taras«, mischt sich Digbys Hauslehrer ein, »sagten Sie, dieses Objekt ist eine Göttin?«

»Die Ägypter kannten sie als Sachmet«, sagt Taras. »Göttin des Feuers und des Krieges. Sie beschützte die Pharaonen in der Schlacht und auf ihrer Reise ins Nachleben.«

Myrtle beäugt Sachmet. »Ich habe ein ähnliches Objekt aus Holländisch-Neuguinea. Primitive Kunst ist ja so fesselnd.«

»Ich wusste nicht, dass das eine Göttin ist«, sagt Cristabel.

Taras dreht sich zu ihr um. »Aber sie hat dich angezogen, oder? Du hast sie an deinem Platz aufbewahrt. Das ist doch dein Platz da drin, oder?«

»Was hast du da drin gemacht, Crista?«, will Veggie wissen.

»Nichts. Da geh ich halt rein, wenn ich will«, antwortet Cristabel.

Taras nickt. »Das Unbewusste führt uns zu mystischen Symbolen, und wir müssen sie deuten. Kinder haben eine starke Verbindung zu diesem Instinkt. Was machst du sonst noch da drinnen, Cristabella?«

»Nichts. Karten zeichnen. Stücke schreiben. Geschichten.«

»Wie lange machst du diese Arbeit schon?«, fragt Taras.

Cristabel runzelt die Stirn. »Das sind doch keine Unterrichtsstunden.«

»Du hast mit der Arbeit eines Künstlers begonnen. So fängt es an. Dachböden. Geheime Ecken«, sagt Taras. »Das ist die Arbeit deiner Seele.«

»Ich bin keine Künstlerin«, sagt Cristabel.

»Du zweifelst an dir?«, fragt Taras.

»Nein«, erwidert sie.

»Gut.« Taras wischt den Staub von der Göttin, dann reicht er sie Cristabel. »Behalt sie. Sie hat dich gerufen.« Dann zieht er sich hoch und verkündet, als brächte er Neuigkeiten aus einem fernen Königreich: »Ich habe Hunger.«

Es gibt ein großes Füßescharren unter den Leuten, die sich auf dem Dachboden drängen, und sie fangen an, sich auf die Treppe zuzubewegen – außer Veggie, die sich in den Lagerraum quetscht –, da dreht sich Taras noch einmal zu Cristabel um. »Wessen Kind bist du, Hüterin des Wals? Du bist nicht von dieser Rosalind. Das kann ich nicht glauben. Und du bist auch nicht von diesem rothaarigen Mann mit dem weiblichen Mund.«

»Mr Willoughby Seagrave«, souffliert Perry. »Ihr Gastgeber.«

»Meine Eltern sind tot«, antwortet Cristabel.

»Ich habe auf den Porträts auch niemanden wie dich gesehen«, fährt Taras fort. »Außer vielleicht auf dem mit dem Rhinozeros.«

»Das ist Großvater Robert«, sagt Cristabel. »Ich hab sein Jagdmesser.«

»Aber er hat nicht deine Wildheit. Vielleicht kann nur eine Frau eine solche Wildheit haben. Wo sind die Bilder von deiner Mutter?«

»Es gibt keine«, antwortet Cristabel.

Perry mischt sich elegant ein. »Vielleicht kann ich hier helfen. Ich glaube, dass die Porträts von Annabel, Cristabels verstorbener Mutter, nach ihrem Tod an ihr Familienanwesen zurückgegeben wurden.«

»Und wo ist ihr Familienanwesen?«

»Das gibt es nicht mehr«, sagt Perry. »Cristabels Mutter hatte zwei Brüder, die beide im Krieg gefallen sind, und eine hübsche jüngere Schwester, die nach Indien geheiratet hat, also fiel das Erbe der Agnews an irgendeinen entfernten Cousin in Suffolk, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Ich habe gehört, dass er das Haus mitsamt Inhalt verkaufen musste, um die beträchtliche Erbschaftssteuer zahlen zu können. Eine traurige Geschichte, aber nicht ganz ungewöhnlich.«

»Also ist nichts übrig geblieben für die Tochter einer toten Tochter«, bemerkt Taras.

Cristabel starrt Perry an. »Das hier ist mein Familienerbe«, sagt sie. »Chilcombe.«

»Selbstverständlich«, sagt Perry, dann klatscht er die Hände zusammen, das Geräusch, mit dem ein Engländer die Ordnung wiederherstellt. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich könnte jetzt einen Drink vertragen. Wollen wir?« Er bietet Myrtle den Arm.

»Hier oben ist es höllisch heiß«, bemerkt die Dichterin. Die Gesellschaft zieht wieder ab und lässt die Kinder allein auf dem Dachboden zurück.

Veggie, verschwitzt und voller Spinnweben, kommt wieder aus dem Lagerraum hervor, wobei sie das ausgestopfte Elefantenbaby hinter sich herzieht. Digby hilft ihr dabei, es herauszumanövrieren, dann wendet er sich an Cristabel. »Hat Mr Taras gesagt, dass die Göttin sich um die Menschen im Jenseits kümmerte? Vielleicht stammt sie ja aus einem Grab.«

»Wahrscheinlich, Digs. Könnte gut sein, dass ein Fluch auf ihr liegt«, meint Cristabel.

Veggie, die gerade dem kleinen Elefanten zärtlich den Kopf getätschelt hat, schaut auf. »Ich fühle mich mystisch hingezogen zu diesem Elefanten. Hat der nicht ein nettes Gesicht? Ich werde ihn Edgar nennen.«

Digby tritt näher an seine Cousine heran. »Crista, hat es dir was ausgemacht, als Onkel Perry …«

»Onkel Perry weiß, dass das hier mein Familienanwesen ist«, sagt Cristabel. »Er hat über ein anderes Anwesen gesprochen, über das ich nie genauer nachgedacht habe. Ich denke nie daran.«

»Stimmt, das tust du nicht«, bestätigt Digby.

»Ihr armen Unseligen habt eure Mutter ganz vergessen«, sagt Cristabel. »Sie wird sich vor Monsieur Taras zum Narren machen. Ihr wisst doch, dass sie für Künstler schwärmt.«

Veggie nickt. »Sie wollte sich schon immer porträtieren lassen.«

»Wir haben ihn zuerst gefunden, Veggie«, sagt Cristabel.

»Er hat dich definitiv gern, Crista«, sagt Digby. »Er will deinen Wal malen.«

Auf einmal geht die Tür hinter ihnen auf, und Mademoiselle Aubert kommt aus ihrem Zimmer. Schnell sagen die Kinder ihr übliches Bonjour, und sie antwortet in ihrer kurz angebundenen Art. Dann fügt sie mit verschlagener Miene hinzu: »Wisst ihr, mes enfants , Monsieur Taras spricht ein gutes Französisch. Vielleicht wollt ihr die Unterrichtsstunden selbst ausarbeiten, non ? Dann könnten wir uns alle unterhalten. Als Konversationsübung.«

Cristabel wahrt ihr Pokerface, bis Mademoiselle Aubert den Dachboden verlassen hat, dann wendet sie sich zu den anderen. »Versteht deine Mutter Französisch?«

»Non« , sagt Veggie und wischt den Staub von ihrem Elefanten.

»Wenn wir also Französisch lernen würden, um mit Monsieur Taras zu sprechen, könnte sie nicht verstehen, was wir sagen?«

»Die kennt nur die Namen von französischen Parfüms«, sagt Digby.

»Formidable« , meint Cristabel. »Eine Geheimsprache.«

»Wann hast du diese kleine Kammer gefunden, Crista?«, fragt Veggie und späht in den Lagerraum.

»Nachdem Onkel Willoughby deine Mutter geheiratet hat. Sie hat immer meine Sachen weggeworfen. Ich brauchte ein sicheres Geheimversteck.«

»Warum hast du uns nichts davon erzählt?«, fragt Digby.

»Ihr wart klein. Und Kleinen kann man nicht vertrauen. Außerdem braucht jeder Schiffskapitän seine eigenen Räume«, sagt Cristabel, bevor sie in ihr Zimmer geht, um die Göttin Sachmet auf ihren Nachttisch zu stellen.