Mai 1928
Es ist ein milder Abend, voll weicher Grau- und Grüntöne. Nebel ist vom Meer herübergezogen und hat sich auf die Gipfel der Hügel gelegt, wodurch Chilcombe vom Rest der Welt abgeschnitten wird. Es ist schon nach neun, als Cristabel sich vom Dachboden schleicht. Die Erwachsenen sind auf eine Party in Somerset gefahren und haben das Haus denen überlassen, die daran gebunden sind: den Dienstboten und den Kindern. Niemand isst oder trinkt oder verlangt irgendetwas, deswegen liegen die meisten Dienstboten schlafend im Bett oder spielen unten in der Küche bei Kerzenlicht Karten.
Cristabel schleicht die Haupttreppe hinunter in die Eichenhalle, die so leblos ist wie eine Krypta. Durch die Glaskuppel fällt schwaches Licht auf den Flügel. Das Instrument wird selten aufgeklappt. Trotz Rosalinds vielfach geäußertem Wunsch, dass die Kinder mehr »musikalisch tätig« werden sollen, ist nichts unternommen worden, um dieses Ziel zu erreichen. Eine der Gouvernanten hat Klavierstunden angeboten, aber nur Veggie hat lange genug durchgehalten, um das Klavierspiel zu lernen, und nur Veggie setzt sich zum Üben an den Flügel. Entschlossen klimpert sie sich durch die Melodien, bis sie sie gemeistert hat – sie ändert einfach bei jedem falschen Ton die Richtung, wie jemand, der gegen ein Möbelstück geprallt ist, weil man ihm die Augen verbunden hat.
Cristabel prallt gegen gar nichts. Sie durchquert flink die Halle und schlüpft aus der Haustür in die neblige Nacht hinaus, wo sie die schmale Gestalt von Maudie erspäht, die seitlich am Haus entlanghuscht. Einen Moment lang starren sie sich gegenseitig durch die Dunkelheit an wie streunende Katzen, dann nickt Maudie kurz und verschwindet. Cristabel weiß, dass sie jetzt frei ist. Und sie weiß, dass auch das, was Maudie vorhat, nichts ist, wonach man fragen sollte.
Heimlich wie ein Wilddieb huscht Cristabel durch den Garten. Sie hat ihre Schnürstiefel an und den Mantel über ihrem Nachthemd zugeknöpft. An einen Stock hat sie ein schwarz gefärbtes Taschentuch gebunden, eine schwarze Flagge – das internationale Symbol für Verhandlungen. Sogar Piraten wissen, was die schwarze Flagge bedeutet. Sie bedeutet, dass sie eine Chance bekommen, von Mann zu Mann zu reden, nachdem sie ihre Waffen abgelegt haben. Sie hat auch ein Stück Sandkuchen dabei und ein silbernes Sturmfeuerzeug, zwei Friedensgaben, die sie sich in die Manteltaschen gesteckt hat. Doch das Jagdmesser ihres Großvaters hat sie sich trotzdem zum Schutz in einen Ärmel geschoben.
Sie erreicht den Rand des Rasens und will gerade zwischen die Bäume rennen, als sie ein Geräusch hinter sich hört. Digby. Barfuß in seinem monogrammbestickten Pyjama. Er reibt sich die verschlafenen Augen. Das wellige Haar steht ihm vom Kopf ab. »Ich habe dich vorbeigehen hören«, sagt er. Digbys Schlafzimmer liegt im ersten Stock, doch er schläft dort nur ab und zu, weil er lieber bei den Mädchen auf dem Dachboden ist. »Wo willst du hin? Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Ich geh zu den Wilden, um mit ihnen zu reden. Ich dachte mir, es ist besser, wenn ich da allein hingeh.«
Er runzelt die Stirn. »Warum?«
Sie schwenkt ihre schwarze Flagge. »Ich will um Verhandlungen bitten.«
»Du machst doch nie irgendwas ohne mich.«
»Nur eine Einzelperson kann um Verhandlungen bitten.«
»Ich kann dir doch helfen«, schlägt er vor. »Ich könnte dein Begleiter sein.«
»Von mir aus. Aber ich werde allein mit ihnen sprechen. Du musst im Wald bleiben.«
»Im Wald?«
»Wache halten«, erklärt sie. »Und sobald ich dich brauche, geb ich dir ein Signal.«
»Okay«, sagt er. »Wer zuerst da ist!«
Sie rennen durch den Wald wie die Sportler, setzen über Baumwurzeln und sorgen dafür, dass sie ihre in den Schatten lauernden Ängste weit hinter sich lassen. Als das Häuschen in Sicht kommt, versteckt sich Digby hinter einem Weißdornbusch und zieht einen imaginären Bogen zurück, von dem er im Bedarfsfall imaginäre Pfeile abschießen wird. Cristabel nickt ihm zu, dann tritt sie aus dem Wald, obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlägt.
Das blumenüberwucherte Häuschen am Meer ist ruhig, aber es ist eine andere Art von Ruhe als die inszenierte, schwere Stille von Chilcombe. Alle Türen und Fenster sind offen. Kerzen, die man in die Hälse leerer Weinflaschen gestopft hat, flackern auf den Fensterbrettern. Interessante Gerüche liegen in der Luft: nach scharfem Essen, Terpentin, Tabak und noch etwas anderem, ein üppiger und berauschender Duft. Cristabel hört von drinnen leise Stimmen und bewegt sich vorwärts, um zu lauschen, was da gesprochen wird. Da zerbricht hinter ihr ein Zweig.
Sie dreht sich um und entdeckt das größte der wilden Kinder, das nichts anhat außer einer kurzen Hose. Es ist aus der Scheune gekommen. Die anderen krabbeln von ihren Heuballen und versammeln sich zahlreich wie die Ratten hinter ihrem Anführer.
Cristabel schwenkt die schwarze Flagge und rammt sie dann in die Erde. Sie schiebt die Hände in die Taschen und hält den Kindern das Kuchenstück und das Sturmfeuerzeug hin. Der große Wilde nimmt den Kuchen und wirft ihn über die Schulter hinweg den Kleinen zu. Dann nimmt er das Feuerzeug und dreht und wendet es in seinen Händen, um es zu untersuchen. Vorsichtig streckt Cristabel die Hand aus, um das kleine Rädchen zum Entzünden zu drehen, und mit einem Funken erwacht es zum Leben.
»Das ist ein gutes Feuerzeug«, sagt sie. »Mein Onkel Willoughby hat es in der Wüste benutzt.«
Der Wilde steht jetzt so nah bei ihr, dass sie seine Haut riechen kann. Sein verschattetes eckiges Gesicht, das von unten durchs Feuerzeug beleuchtet wird, hat kühne Augenbrauen. Er ist einen Kopf größer als sie und hat eine Zigarette im Mundwinkel wie ein Cowboy. Dünn und breitschultrig, mit schulterlangem dunklem Haar und den zarten Ansätzen eines Schnurrbarts auf der Oberlippe. Sie schätzt ihn auf ungefähr dreizehn, alt genug, um sich für erwachsen zu halten. Sie kann das Meer in der Nähe hören, sein Rauschen und Rattern auf den Steinen.
Sie sagt: »Ich komme, weil ich Verhandlungen anbieten will. Ich brauche Leute. Für mein Stück. Für die Ilias . Ich weiß, dass ihr gerne schauspielert. Ich habe euch dabei beobachtet, wie ihr euch verkleidet habt.«
Er beugt sich zu ihr vor. Als er spricht – und es ist das erste Mal, dass sie ihn etwas sagen hört –, hört sie einen wilden Akzentmischmasch und gedehnte Vokale. »Geh nach Hause, kleines Mädchen.«
Er versucht, ihr das Feuerzeug wieder in die Hand zu drücken, aber sie leistet Widerstand, gibt es ihm zurück und sagt: »Ich werde dir ein Angebot machen. Wenn du in meinem Stück auftrittst, werde ich dir beibringen, wie man mit einem Schwert kämpft.« Sie hebt die Stimme, sodass die Jüngeren sie auch hören können. »Ich werde euch allen beibringen, zu kämpfen wie richtige Krieger. Mein Onkel hat es mir beigebracht. Ich weiß, wie es geht.«
Der Wilde lacht. »Ich weiß, wie man kämpft, kleines Mädchen. Das Einzige, was ich mit einem Schwert machen würde, ist, dass ich die blonden Huren im Bett meines Vaters kaltmachen würde, comprende ?«
Im ersten Moment ist sie verwirrt. »Blonde Huren?«
Er nickt zum Häuschen hinüber.
»Moment mal«, sagt Cristabel. »Taras ist also dein Vater? Aber er verhält sich doch überhaupt nicht so, als wäre er dein Vater.«
Der Wilde schnaubt verächtlich. »Wie verhält sich ein Vater?«
Cristabel weiß nicht, was sie sagen soll. Über seine Schulter sieht sie, wie die anderen Wilden sie beobachten. Sie haben alle schwarze Haare. »Sag jetzt nicht, dass er der Vater von euch allen ist.« Sie war davon ausgegangen, dass Taras’ Gefolgschaft aus seinen Jüngern bestand, nicht aus Verwandtschaft.
Der Junge wirft die Zigarette auf den Boden. »Was meinst du, warum wir hier sind? Wir sind Kinder des großen Taras. Vielleicht bekommen wir ja bald einen blonden Bruder, hm? Vielleicht auch zwei. Meine Mutter kann sich um sie kümmern, wie sie sich um seine anderen Bastarde kümmert.«
»Wer ist deine Mutter?« Plötzlich fällt Cristabel wieder die Frau mit dem Kopftuch ein. »Meinst du die, die immer die Putzarbeiten macht?«
Der Junge weicht jäh zurück. »Meine Mutter ist seine Ehefrau.«
»Ich wusste nicht, dass Mr Taras verheiratet ist.«
»Warum sollte er es dir auch erzählen? Er vergisst es lieber.« Der Junge sammelt einen Mundvoll Spucke zusammen und spuckt sie aus, wo sie als zitternder Schaum auf dem Boden liegen bleibt. »Aber das eine kann ich dir sagen, kleines Mädchen – eines Tages legen wir diese blonden Teufel um, und dann werden wir nach Hause gehen.«
»Du meinst Hilly und Philly?«
»Das sind nicht die Ersten. Es gab eine in Nîmes. Eine in Brügge. Manchmal nehmen wir die Kinder mit. Meine Mutter wird dann ihre Mutter. Verstehst du?«
»So langsam«, antwortet Cristabel. »Hilly und Philly sind blonde Teufel, und du hältst sie für Eindringlinge.«
Der Junge runzelt die Stirn.
»Eindringlinge«, wiederholt sie. »Sie haben den rechtmäßigen Platz deiner Mutter eingenommen.«
Er nickt.
»Das wusste ich nicht«, sagt Cristabel. »Pardonnez-moi . Müsst ihr in der Scheune schlafen?«
»Wir wollen in der Scheune schlafen«, sagt er. Ein hysterisch-quietschendes, lautes Lachen kommt aus dem Häuschen, wie zur Erklärung. Der Junge knirscht mit den Zähnen.
»Wie hält deine Mutter das aus?«, will Cristabel wissen.
Der Wilde zuckt mit den Schultern. Sie hat gerade ein kompliziertes Gefühl. Etwas an dem Gesichtsausdruck des Jungen kommt ihr wohlbekannt vor, etwas, was damit zu tun hat, wie es sich anfühlt, wenn man mit den Albernheiten von Erwachsenen belastet wird – und sie wird immer auf der Seite der Eroberten stehen, der Machtlosen. Andererseits bringt sie es nicht fertig, Position gegen Taras zu beziehen, ihren Gott aus dem Meer, den Künstler, der ihre Theaterträume zum Leben erweckt hat. Hier gibt es viel zu bedenken. Aber sie hat auch eine konkrete Aufgabe. Sie muss ein Stück produzieren, und sie braucht diese halb nackten Fremden, um größere Menschenmengen zu simulieren. Ihr fällt wieder eine Zeile aus einem Buch von Henty ein: Ein Engländer muss sich immer auf die eine oder andere Art durchsetzen und die Schultern straffen – auf eine Art, wie es ein Franzose niemals könnte .
Cristabel räuspert sich. »Ich bin gekommen, um Verhandlungen zu führen. Eine Abmachung zu treffen. Sag mal, bist du Franzose?«
Der Junge schüttelt den Kopf. »Halb Belgier, halb Russe.«
»Aber du sprichst Französisch.«
»Französisch, Russisch, Flämisch, Englisch. Hast du irgendwelche Vorlieben?«
»Englisch natürlich. Ich will gerne eines klarstellen: Ich brauche eine Besetzung für mein Stück. Ich will, dass deine Brüder und deine Schwestern und du in dieser Besetzung dabei seid.«
»Hast du keine kleinen Freunde, mit denen ihr spielen könnt?«
Sie überlegt sich ihre Antwort, bevor sie sich für die Wahrheit entscheidet. »Nein. Wir haben keine Freunde. Deswegen brauche ich ja euch. Im Gegenzug werde ich euch beibringen, wie man kämpft. Oder ich könnte euch Sachen aus dem Haus bringen. Was wollt ihr? Zigaretten? Schokolade?«
Die Wilden flüstern zueinander: »Schokolade«, als wäre es ein Zauberspruch.
Der Junge fragt: »Warum sollten wir dir trauen? Du könntest für uns stehlen und uns hinterher als Diebe bezeichnen.«
»Ich gebe euch mein Ehrenwort«, sagt Cristabel.
»Ich weiß nichts von deinem Wort.«
Cristabel überlegt kurz. Dann streckt sie die Hand aus und macht das Feuerzeug an, das der Junge immer noch in der Hand hat. Sie streckt ihre Hand aus und hält sie über die Flamme. »Schau her«, sagt sie, »das ist mein Wort.« Sie senkt die Hand Richtung Feuerzeug und schaut dem Jungen dabei fest in die Augen, auch als ihre Augenlider vor Schmerzen zu flattern beginnen.
Die Wilden rücken näher heran. Der Junge wartet, bis Cristabel ihre Hand ganz nah an die Flamme hält und dabei wütend ihre Tränen wegblinzelt, bevor er das Feuerzeug wegzieht und in seine Tasche steckt. Cristabel ballt die Hand zur Faust und drückt sie sich tief atmend an die Brust.
»Zigaretten ja. Schokolade ja«, sagt der Junge. »Aber noch was anderes. Ich will lernen, wie man ein Automobil fährt. Wenn du das regelst, dann können wir über Theaterstücke reden. Oui? «
Cristabel nickt. Sie hat die Kontrolle über ihre Stimme noch nicht wieder.
Er mustert sie eine Weile, dann sagt er: »Wir haben auch keine Freunde.« Cristabel ist nicht sicher, ob das einfach eine einfühlsame Feststellung sein soll oder eine Drohung.
Sie geht mit großen Schritten auf den Wald zu und bringt ein zittriges »Monsieur, ich werde Ihre Bedingungen überdenken« zustande. Ihre schwarze Flagge hat sie auf dem Boden liegen lassen.
Er ruft ihr nach: »Bonsoir, mademoiselle. Je m’appelle Leon.«
Digby wartet zwischen den Bäumen auf sie. Er zittert in der kalten Nachtluft. Sie ringt sich ein Lächeln ab, dann schnieft sie und wischt sich über die Augen. »Hab mir die Hand verbrannt.«
»Du hast mir kein Signal gegeben«, sagt er. »Tut’s weh?«
Sie nickt.
»Waren das die Wilden?«, fragt Digby.
»Nein«, sagt sie. »Das war ich selbst. Um den Wert meines Ehrenwortes unter Beweis zu stellen.«
»Das warst du selbst?«, wiederholt er. Im Wald stößt eine Eule ihren Ruf aus, und Digby schaudert erneut. »Warum hast du mir kein Signal gegeben, Crista?«
»Ich wusste, dass ich es schaffe, Digs.«
Er schweigt einen Moment, dann sagt er in schauspielerhaftem Ton: »Lasset uns eilen zum Schloss, um zu pflegen Eure Wunden, meine Lehnsfrau.« Er führt sie durch die Bäume, wobei er auf dem Heimweg ab und zu einen Blick über die Schultern zurückwirft.
In der Dunkelheit seines Schlafzimmers über der Wäscherei steckt sich Mr Brewer gerade eine Zigarette an, als Maudie die Stufen hinuntertappt und hinausgeht in die Nacht, genauso leise, wie sie gekommen ist. An den Wochenenden, wenn seine Frau und sein Sohn weg sind, schlüpft Maudie jetzt in sein Bett und wieder heraus wie eine Katze.
Das war nichts, was er versucht hätte zu arrangieren – er hatte alte Bekannte dieses Schlages in Hammersmith, die er aufsuchen konnte, wenn ihn der Trieb überkam, dankbare Frauen, die ihn Billy nannten, die ihn als ehrgeizigen jungen Mann in Erinnerung hatten, wohlbekannt in den Pubs von West-London. Als Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich Dinge zur Aufgabe zu machen. Andererseits war er auch nicht völlig überrascht gewesen, als Maudie eines Nachts spät vor seiner Tür stand, sich aus der Dunkelheit materialisierte, wie etwas, was er sich erträumt hatte.
Sie hatte ihm nie einen Grund genannt für ihre spätnächtlichen Besuche, sie redete überhaupt nicht viel, was Bill Brewer – ein Mann, der sich durchs Leben schlug, indem er Nachfrage vorausahnte und die Schäden klein hielt – durchaus zu schätzen wusste. Stell keine Fragen und so weiter. Nur einmal, in einem Moment müßiger Neugier, hatte er zu ihr gesagt: »Was machst du hier eigentlich, Maudie?«, und sie hatte ihn prüfend aus ihrer Lieblingsstellung gemustert, hatte auf ihn hinabgeschaut, während ihre Hände auf seinem sich hebenden und senkenden Brustkorb lagen, und gesagt: »Ich übe.«