Die Ilias

Juni 1928

Für Cristabel ist Chilcombe mit seiner Umgebung immer ein Ort der Beständigkeit gewesen. Die Sonne folgte jeden Tag demselben Kurs, beschrieb einen Bogen über ihrem Kopf wie ein gut geschlagener Cricketball. Die Steine am Strand rasselten nachdenklich, während Ebbe und Flut wechselten. Es gab Felder und uralte Bäume, in deren Rinde sie und nur sie ihre Initialen geritzt hatte. Ein zuverlässig ruhiger Ort – das war immer das Erste, was Besucher bemerkten, wenn der Lärm ihrer Automotoren verstummt war. »Gott, ist das still hier!« Die Antwort lautete unweigerlich: »Ja, kommt doch rein«, als wäre es unklug, sich so viel Stille auf einmal auszusetzen.

Am Morgen vor der Aufführung der Ilias jedoch, als Cristabel ihr Dachbodenfenster öffnet, spürt sie, wie ihr eine neue Luft entgegenschlägt. Sie kommt aus meilenweiter Entfernung, fliegt über das glitzernde Meer, schnell wie der Schatten eines fliegenden Flugzeugs. Er ist hier. Der Tag. Ihr Tag.

Nichts ist wie sonst. In Cristabels Bauch hat sich ein unruhiger Knoten gebildet, wie ein Mäusenest. Es scheint völlig widersinnig, heute zu frühstücken. Veggie wiederholt murmelnd ihren Text, während sie ihr Porridge kaut und ihr der wollene Bart schon um den Hals hängt. Digby hüpft auf einem Bein auf dem Dachboden herum. Geräusche von fieberhafter Aktivität überall im Haus. Essen wird angeliefert. Stühle werden hin und her getragen. Klapptische aus dem Dorf treffen ein.

Diese ungewohnte Betriebsamkeit geht den ganzen Tag weiter, und in seiner Mitte steht Rosalind, die Dekoration und Catering beaufsichtigt, begleitet von Betty, die den Mund voller Nadeln hat, um noch in letzter Minute Kostüme anzupassen. Blythe und Mr Brewer werden losgeschickt, damit sie den Weg durch den Wald mit chinesischen Papierlaternen dekorieren. Bis zum frühen Nachmittag haben Taras, Hilly, Philly und Myrtle das Häuschen selbst völlig verändert. Längliche Stoffstreifen wurden von den oberen Fenstern drapiert und am Boden befestigt, um ein Zelt für die griechischen Heerführer zu bilden, und vom Schornsteinaufsatz flattert eine große gemalte Flagge. Vor der Scheune stehen die aus Sperrholz gefertigten Befestigungsmauern der belagerten Stadt Troja, die von Taras mit Muschelschalen dekoriert wurden. Bunte Glasflaschen, in denen Kerzen stecken, markieren den vorderen Rand der Bühne.

Das ganze Unkraut und Dornengestrüpp ist entfernt und die grasbewachsene Fläche zwischen den Gebäuden gemäht worden. Geliehene Holzstühle und Liegestühle füllen den Zuschauerraum. Cristabel legt sorgfältig auf jeden Platz eines ihrer handgeschriebenen Programme, während Veggie auf Rosalinds Anordnung auf jeden Programmzettel eine abgeschnittene Rose aus dem Garten legt und mit einem Steinchen versieht, damit sie auch liegen bleibt. Am Strand steht ein Scheiterhaufen aus Treibholz bereit, der im letzten Akt angezündet werden soll, sodass sich die letzten Szenen vor einem Hintergrund aufsteigender Flammen abspielen. Alles ist bereit, wie eine leere Kirche, die auf ihre Gemeinde wartet.

Aber werden sie kommen? Cristabel hat alle Einladungen an die Dorfbewohner eigenhändig verteilt. Sie hat sich eine Karte von Mr Brewer geliehen, hat das Fahrrad des Metzgersjungen beschlagnahmt und dann – nachdem sie sich an einem schmerzhaften Nachmittag selbst das Fahren beigebracht hat – eine Woche damit zugebracht, durch die Lande zu flitzen, um Einladungen an alle Mächtigen von Süd-Dorset zu verteilen.

Es war aufregend gewesen, die ganzen Adressen zu suchen, einer Karte zu folgen wie ein Forscher. Sie hatte nie gewusst, wie viele Dörfer sich in den Tälern versteckten. Osmington, Sutton Poyntz, Chaldon Herring, Tyneham. Die üppigen Sommerhecken hingen so weit über die schmalen Straßen, dass sie aus der Ferne unpassierbar aussahen, aber wenn Cristabel mit quietschenden Bremsen näher kam, bot sich doch eine Möglichkeit – wie eine Serie von heimlichen Durchgängen. Die warmen Abende blieben hell, wenn sie das Fahrrad an Feldern mit feierlich wiederkäuenden Kühen vorbeirollen ließ, und der widerhallende Ruf des Kuckucks folgte ihr durch die Abenddämmerung.

Rosalind mochte nichts über Helena von Troja gewusst haben, aber sie wusste etwas darüber – was Cristabel widerwillig zugeben musste –, wie man eine Veranstaltung organisierte. Sie hatte eine bewundernswerte Fähigkeit, das zusammenzusuchen, was sie brauchte. Sie hatte einen mit Philly befreundeten Schneider beauftragt, die Kostüme zu entwerfen, und den Pfarrer mit Engelszungen überredet, ihr so gut wie alles zu leihen, was er besaß. Rosalind schrieb sogar die Einladungen selbst und sagte: »Die persönliche Note ist alles, wenn man die richtigen Gäste will.«

Myrtle, die in ihrer Kampfkluft in einer Probenpause rauchend danebensaß, hatte geantwortet: »Ich würde sicher kommen wollen.«

»Meine Liebe, alle wollen kommen«, hatte Rosalind geantwortet. »Die Leute brennen darauf, Taras kennenzulernen. Aber ist das nicht eine ganz außergewöhnliche Art, ihn ihnen vorzustellen? Der große Künstler in einer Theaterproduktion mit den Kindern.«

Jetzt ist der große Tag gekommen, und die Zeit, die auf den Einladungen geschrieben steht – 19 Uhr für Cocktails vor der Vorstellung  –, rückt immer näher. Cristabel setzt sich unter einen Baum und wartet. Es gibt nichts mehr zu tun.

Sie hört zuerst ihre Stimmen. Die Stimmen der Menschen, die die Auffahrt heraufkommen. Mr Brewer führt sie auf den Rasen, wo Dienstmädchen mit Kränzen aus Olivenzweigen im Haar Tabletts mit Cocktails herumtragen. Cristabel bemerkt, wie ein paar Männer, die Mr Brewer kennen, Witze über seine nackten Beine unter der Ledertunika machen. Freundliche Beleidigungen und Augenzwinkern. Sie hat Mr Brewer noch nie so jovial gesehen. Dann kommen die ersten Autos. Eins nach dem anderen fährt knirschend über den Kies. Rosalinds laut gerufene Begrüßungen tönen durch den Garten wie die triumphierenden Schreie eines Pfaus.

Auf dem Rasen beginnt sich eine Menschenmenge zu versammeln, alle haben ein Cocktailglas in der Hand. Sie werfen Blicke hierhin und dorthin, betrachten das uralte Haus, den abgeschlossenen Garten, die anderen Gäste und manchmal sogar Cristabel selbst. Sie erkennt ein paar von Onkel Willoughbys dicken und etwas steif wirkenden Großgrundbesitzerfreunden neben einigen Kerlen mit militärisch aufrechter Haltung, die Perry und er noch aus der Armee kennen. Auch eine Gruppe von leidenschaftlichen jungen Erwachsenen mit interessanten Frisuren und schmalen Handgelenken hat sich dort versammelt, und Cristabel kommt zu dem Schluss, dass das Hillys und Phillys Freunde von der Kunstschule sein müssen, die nach Phillys Angaben alle in möblierten Zimmern mit Gaskochern auf dem Boden wohnen, in denen sie sich die ganze Zeit von gekochten Eiern ernähren und unermüdlich kopulieren, um sich warm zu halten.

Es sind auch ein paar vornehme ältere Damen gekommen, die mit ihren pechschwarzen Edelsteinen aus einem vergangenen Zeitalter gewichtig wirken und sich laut über Taras und seine KUNST unterhalten. Cristabel geht davon aus, dass das die Gäste sind, die er als »alte englische Damen mit großen Geldbörsen« beschreibt. Sie erwischt auch noch das Ende von Rosalinds überschwänglicher Vorstellungsrunde und vermutet, dass ein »gefeierter Restaurantbesitzer« und eine »moderne Bildhauerin« unter den herumschlendernden Gästen sind. Fast fünfzig Personen, wenn nicht mehr.

Noch zehn Minuten, bis der Vorhang hochgeht. Cristabel rennt hinunter zum Häuschen. Sie muss ihr Kostüm anziehen und die letzten Vorbereitungen treffen. Unterdessen beginnt Blythe, die Zuschauer durch den Wald zu führen. Es hat etwas Magisches, werden sie sich später gegenseitig versichern, sich an einem Mittsommerabend durch die Bäume zu schlängeln und dabei einem mit Papierlaternen dekorierten Pfad zu folgen. Als sie am Häuschen ankommen, fällt ihnen auf – warum war ihnen das vorher eigentlich nie aufgefallen? –, dass es an einem idyllischen Ort steht, eingebettet in eine grasbewachsene Senke gleich neben dem Strand. Mehlschwalben und Mauerschwalben kreisen über ihnen und stoßen immer wieder herunter, um eine Mücke aus der Luft zu fangen. Düfte von Geißblatt versüßen die Luft. Das einlullende Geräusch der Wellen am Ufer. Kaum ein Hauch von Wal in der Luft. Sie setzen sich auf ihre Plätze und nehmen die Programme in die Hand.

Ein handgezeichnetes Bild auf dem Deckblatt stellt einen zornigen Mann dar, der drohend einen Speer vor einem Schloss schwenkt. Darunter steht in Tintenbuchstaben:

HEUTE ABEND STELLT DAS HAUS SEAGRAVE STOLZ DIE ERSTE PRODUKTION DER BERÜHMTEN GESCHICHTE DER ILIAS VOM EDLEN MR HOMER VOR , DIE JEMALS IM COUNTY VON DORSETSHIRE AUFGEFÜHRT WURDE .

REGIE : IHRE WOHLGEBORENE MISS CRISTABEL ELIZABETH SYLVIA SEAGRAVE ( ZEUS )

KÜNSTLERISCHE DIREKTION : MR TARAS GRIGOREWITSCH KOVALSKY ( ACHILLES )

BITTE NICHT REDEN ODER UNTERBRECHEN

Cristabel Elizabeth Sylvia Seagrave, die jetzt hinter der Bühne steht und durch einen Schlitz in den Mauern Trojas späht, mustert das Publikum, das gerade ihr Programm studiert. Normalerweise mag sie keine fremden Leute, aber sie beginnt eine Zuneigung für ihr Publikum zu empfinden. Sie steigt in ihr auf wie eine anerkennende Wärme, die etwas zu tun hat mit ihrer Bereitwilligkeit, damit, wie sie ihrem Programm die gebührende Aufmerksamkeit widmen und sich vorbeugen, um sich gegenseitig auf bestimmte Details im Bühnenbild hinzuweisen.

Sie verlässt ihren Aussichtspunkt und geht in die Scheune, um sich umzuziehen. Im Gegensatz zur ruhigen Erwartung des Publikums ist das Innere der Scheune ein hektischer Ort, der immer wieder von explosiven Notfällen erschüttert wird, die durch die versammelte Besetzung laufen. Patroklos hat seinen Schild verloren! Hektor hat sich mit ihrem Daumen im Bart verheddert!

Taras, der Ruhepol im Auge des Sturms, sitzt auf einer umgedrehten Hummerreuse, nippt an einem Wodka. Er trägt eine kurze Tunika, die seine unglaublich dicken Beine betont, von denen jedes die Größe eines Kinderoberkörpers hat. Er ist mit schwarzen Locken bedeckt wie ein Satyr. Hilly und Philly huschen um ihn herum, gertenschlank in ihren Soldatenkostümen, mit den kajalumrandeten Augen und den mit Pomade zurückgekämmten Haaren. Perry steht daneben, blass und aufrecht in der Rüstung. Seine Jahrzehnte beim Militär, von denen man normalerweise nichts merkt, werden jetzt seltsam sichtbar, als würde die Rolle des Nestor ihm gestatten, eine Art inneren Schleier zu lüften, um Perry, den Colonel, zu enthüllen, Perry, den Mann, der im Krieg zu Hause ist. Mr Brewer hat ebenfalls seine soldatische Haltung wieder angenommen: eine ruhige, beherrschte Kompetenz, der leicht amüsierte Fatalismus der niedrigeren, aber deswegen nicht weniger fähigen Ränge.

Veggie läuft todernst mit ihrem Holzschwert auf und ab. Mit dem Bart sieht sie ihrem Vater sehr ähnlich, und mit ihrer beeindruckenden Stämmigkeit stellt sie Hektor als ein tapferes Fass von einem Mann dar, der sich allen Widrigkeiten zum Trotz wie ein Held verhält. Myrtle, die so groß ist wie eine Amazone, zieht sich gerade den Helm über ihr gebleichtes Haar, während sie sich lässig an den kleinen Elefanten lehnt. Die jüngeren Wilden schießen hin und her und schwenken ihre Speere, Leon trägt einen Eimer mit Hasenblut für die finale Schlacht herum (für die erste Reihe sollen eigens Schirme ausgegeben werden). Digby, der schöne Prinz, hat einen Blumenkranz im dunklen Haar. Rosalind ist eine zitternde Säule in Weiß. Die drei Dienerinnen stehen in ihren drapierten Göttinnenkostümen herum: Betty ganz überfließende Fülle, Maudie eine zottelhaarige Waldnymphe und zu guter Letzt Ernestine Aubert als das Schicksal, fest und unbarmherzig.

Cristabel liebt ihre Besetzung. Das wird ihr jetzt erst so richtig klar. Sie liebt sie, wie die Götter ihre Sterblichen lieben: gutmütig und bereit zur Vergebung. In den Proben hatten sie sie regelmäßig auf die Palme gebracht, doch nun, durch irgendeine rätselhafte Alchemie, sind sie perfekt. Sie holt tief Luft und beginnt die Trittleiter hochzugehen, die an der Seitenwand der Scheune lehnt und ihr erlauben wird, über der Stadt Troja zu erscheinen, als würde sie am Himmel schweben, wenn sie ihre erste Textzeile spricht, ungefähr nach zehn Minuten im ersten Akt.

Von ihrem verborgenen Platz ganz oben auf der Leiter kann sie Digbys Hauslehrer, den Erzähler, sehen, wie er die Bühne betritt, der erste Schauspieler, der hinter den hölzernen Befestigungsmauern hervorkommt. Stille fällt übers Publikum. Ein paar diskrete Huster. Eine schreiende Möwe, dann …

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,

ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte!

Es hat begonnen.

Zunächst achtet Cristabel ganz genau auf den Erzähler, spricht seine Zeilen in Gedanken mit, während er weiterredet, doch als sie merkt, wie er immer selbstbewusster wird, wendet sie ihre Aufmerksamkeit den anderen Mitgliedern ihrer Schauspieltruppe zu. Sie beobachtet, wie jeder von ihnen die Bühne betritt, sieht, wie sich jeder langsam, aber sicher hineinfindet. Zittrige Stimmen werden kräftiger, nervöse Gesten präziser. Perry schickt sogar ein paar trockene Nebenbemerkungen ins Publikum. Irgendwann kann Cristabel ihren Blick den Zuschauern zuwenden und ihre hingerissenen Mienen betrachten.

Es gefällt ihr ungeheuer, dass sie das hier geschaffen hat. Es erinnert sie an die Spiele mit dem Kartontheater auf dem Dachboden, wie sie immer am liebsten auf dem Boden lag, den Figuren ihre Stimme lieh und sie miteinander agieren ließ, wobei sie Digby und Veggie beobachtete, die mit aufgestütztem Kinn davor auf dem Bauch lagen, hingerissen von der Geschichte, als würde sie sich ganz von alleine entfalten. Es war die Magie des Beschwörers, eine göttliche Macht.

Sie wird Digby und Veggie nie verraten, dass sie richtig Angst hatte, als ihr erster Einsatz kam. Der reinste Blutschwall des Grauens durchlief sie von Kopf bis Fuß und ließ ihr Herz so schnell arbeiten wie ein Mühlrad. Doch sobald sie anfängt, seinen Text zu sagen, ist sie Zeus, der König der Götter, und sie weiß, wie sie ihn spielen muss.

Obwohl ihr Publikum ihr höfliche Aufmerksamkeit spendet, kann sie als gute Regisseurin sehen, dass sie noch bessere Darsteller als sich selbst in ihrer Besetzung hat. Perry zum Beispiel, mit seiner wissenden, ruhigen Art. Aber ihr Lieblingsschauspieler ist Digby. Sogar wenn er nichts sagt, merkt sie, wie die Augen des Publikums ihn suchen. Die Leute nicken oder stupsen sich gegenseitig an, wenn er auftritt.

Einmal fängt sie einen Blick von ihm auf und sieht, dass ihr eigener Digby weit in den Hintergrund getreten ist. Vielmehr ist es Paris, der ihren Blick erwidert. Während Cristabel heiß wird und sie sich verlegen fühlt, wenn sie vor Erwachsenen auftritt, weil sie Angst hat, ausgelacht zu werden, ist das Ganze für Digby so natürlich wie das Atmen, denn er sieht keinen Unterschied zwischen sich selbst und den anderen. Seine natürliche Aufrichtigkeit hat zur Folge, dass nichts zwischen ihm und seiner Rolle steht, kein Hindernis von Verlegenheit, das die Dinge verkomplizieren könnte.

Und dann ist da natürlich noch Taras als der Krieger Achilles. Wenn die anderen Figuren auf der Bühne sind, gibt es komplizenhafte Momente zwischen Publikum und Darstellern, eine Art warme Anerkennung, dass sie sich zusammen durchwursteln. Doch wann immer Taras erscheint, gibt es solche Momente nicht mehr. Sein Achilles ist ein Mörder. Ein Mann, der sich der Seelen aller bewusst ist, die geopfert werden müssen, damit er Unsterblichkeit erlangt, und der schon genau weiß, wie sie sterben müssen und welche Geräusche sie machen werden, wenn sie sterben. Er nimmt dieses Bewusstsein und legt es aufs Publikum um, ohne Erbarmen.

Die Aufführung fliegt nur so dahin. Bei der letzten Szene – der gefallene Hektor/Veggie, die hinter ihrem Elefanten hergeschleift wird, mit dem Feuer am Strand im Hintergrund – tupfen sich so manche Zuschauer mit Taschentüchern die Augen, f latternde weiße Fahnen der Kapitulation. Dann Applaus, APPLAUS , der wunderbarste Klang, er rauscht um sie herum wie Wellen, als sie sich der Reihe nach verbeugen, und steigert sich ganz besonders, als Digby vortritt. Und noch ein Applaus für Perry, der in jeder Szene geglänzt hat. Und einen für den großen Achilles. Und einen für Betty, die beinahe aus ihrem großzügigen Kostüm fällt. Und noch einen Applaus für alle. Eine ausgehaltene Note von Klatschen, Klatschen, Klatschen , die nie enden sollte, wenn es nach Cristabel ginge.

Anschließend eilen die Darsteller hinter die Bühne und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Atemlos gehen sie das ganze Stück noch einmal durch, spielen es sich in Auszügen noch einmal vor, um zu zeigen, welche Stellen sie beinahe verpatzt hätten – Ich hätte fast vergessen, mich hinzuknien!  –, aber auch die Stellen, die besonders gut gelungen waren – Diese Rede hast du noch nie so gut gehalten!  –, um die Aufführung noch ein bisschen am Leben zu erhalten, sie sich zuzuwerfen, wie etwas, was auf keinen Fall den Boden berühren darf. Sie überhäufen sich gegenseitig mit Lob, umklammern sich gegenseitig die Hände, drehen Pirouetten wie Tänzer. Mittlerweile haben auch Personen aus dem Publikum ihren Weg hinter die Bühne gefunden, um ihnen zu gratulieren und ihnen die Hände zu schütteln, Zivilisten, die sich wie in Zeitlupe bewegen, treffen auf die glamourösen Darsteller. Cristabel hat noch nie erlebt, dass so viele Menschen mit ihr reden, hat noch nie ihren Namen aus dem Mund so vieler Menschen gehört.

Irgendwann machen sich Zuschauer und Schauspieler auf den Weg zurück nach Chilcombe. Als sie die Scheune verlässt, fällt Cristabels Blick auf Leon. Er ist mit Hasenblut befleckt, sein grinsendes Gesicht ist verkrustet und dreckig. Er hält eine Schachtel Zigaretten hoch und deutet mit einem Nicken zum großen Feuer am Strand. Sie schüttelt den Kopf, denn sie will jetzt zum Haus. Sie sucht Veggie und Digby, und dann rennen sie gemeinsam im Dämmerlicht durch den Wald, immer noch halb im Kostüm, während Digby die Blumen aus dem Haar fliegen.

Rosalind ist bereits vor Ort und begrüßt jeden zurückkehrenden Zuschauer. Sie hat sich für jeden von ihnen eine Bemerkung zurechtgelegt, und ihre Art ist maßgeschneidert für jeden Gast. Für die reichen alten Damen gibt sie die anmutige Debütantin, für den alten Nachbarn, der sich leicht geschmeichelt fühlt, gibt sie die spritzige Kokette, für den Pfarrer mit dem fliehenden Kinn die bescheidene Mutter. Cristabel bemerkt ein wenig frustriert, dass Rosalind ganz schön gut schauspielern kann, wenn sie nicht auf der Bühne steht.

Das Haus selbst gibt einen perfekten Hintergrund ab. Alle Fenster stehen sperrangelweit offen, die Eingangstür ebenso. Chilcombe ist quietschend aufgezwängt worden, wie ein Puppenhaus, und enthüllt sein Inneres, das von Schalen mit Schwimmkerzen beleuchtet wird und glüht und glitzert wie eine Schatzhöhle.

Als die Kinder vorbeimarschieren, hört Cristabel ihre Stiefmutter sagen: »Deine Produktion hat positive Kritiken bekommen, Cristabel.«

Digby und Veggie gehen weiter aufs Haus zu. Cristabel bleibt stehen.

Rosalind spricht, ohne sie anzusehen. »Wenn noch einmal ein Stück aufgeführt wird, sollte es anders gemacht werden.«

Cristabel sagt nichts.

Rosalind winkt jemandem am anderen Ende des Gartens zu, dann sagt sie: »Es sollten Lichterketten in den Bäumen befestigt werden, und die Bühne selbst müsste auch beleuchtet werden. Mr Brewer kann das arrangieren. Die Kostüme sollten von professioneller Hand genäht werden. Es gibt da eine Frau in Hampstead, ich habe ihre Adresse.«

Eine Pause. Der Trubel von Gästen, von Champagner, von Erfolg. Die Krähen krächzen auf den Bäumen.

Rosalind fährt fort. »Ich werde nicht wieder mitspielen, ich habe zu viel zu tun. Aber Taras muss unbedingt wieder dabei sein, Digby wird die Hauptrolle übernehmen, und das Stück soll am Ende des Sommers aufgeführt werden. Veggie kann ja etwas auf dem Klavier vorspielen in der Pause, Myrtle hat gemeint, dass sie ziemlich gut spielt – aber nichts von diesem fummeligen, verkünstelten Zeugs, das ihr so gefällt. Irgendwas, was allen gefällt. Wir werden auch Leute von der Zeitung einladen.« Sie schaut zu Cristabel, um sich zu vergewissern, dass sie ihr zugehört hat, dann fügt sie hinzu: »Sag Digby, er soll sich unter die Leute mischen. Alle sind ganz erpicht darauf, ihn kennenzulernen.«

Cristabel sagt: »Ich hab da ein paar Ideen.« Wie Rosalind spricht sie einfach in die Luft, als würde sie laut nachdenken. »Meine eigenen Ideen.«

»Das glaube ich«, sagt Rosalind mit ihrer Gastgeberinnenstimme.

»Vielleicht schreib ich dir eine Liste«, sagt Cristabel und wartet unbeweglich ab. Sie steht nicht so oft so nah bei ihrer Stiefmutter, und ihr gefällt die Entdeckung, dass der Größenunterschied zwischen ihnen geschrumpft ist.

Rosalind schürzt die Lippen, wie ein Spieler, der grübelnd am Kartentisch sitzt, dann sagt sie: »Gut.«

Cristabel nickt und schließt sich der Menschenmenge an, die ins Haus strömt. Überrascht bemerkt sie, dass sie beim Betreten der Eichenhalle Aufsehen erregt. Sie hört geflüsterte Bemerkungen und wie der Name ihres Vaters erwähnt wird. Ein paar Leute lächeln ihr sogar zu. Sie nickt kurz zurück, hie und da gibt sie jemandem die Hand. Wahrscheinlich ist es wichtig, die Leute zu begrüßen. Ihnen ein Gefühl des Willkommenseins zu vermitteln. All solche Sachen eben.

Sie entdeckt Digby und Veggie, wie sie Schokoladenkuchen am Kamin essen, in den Rosalind ein exotisches Blumengesteck gestellt hat. Sie geht auf die beiden zu und schiebt sich unterwegs Myrtles unbewachte Zigarettendose vom Flügel in die Tasche.

»Eure Mutter will, dass wir noch ein Stück aufführen«, teilt sie ihnen mit.

»Das ist ja großartig!«, sagt Veggie und versprüht dabei Krümel in alle Richtungen. »Ich bin so begeistert! Das war der perfekteste Tag aller Zeiten! Schaut euch doch bloß diese ganzen Leute an!«

»Das ist die tollste Neuigkeit, die ich je gehört habe«, sagt Digby kopfschüttelnd. »Wir könnten doch eines von unseren Shakespeare-Stücken aufführen, Crista.«

»Könnten wir, Digs. Könnten wir«, antwortet sie und nimmt sich ein dickes Stück Kuchen von seinem Teller. Während sie es verzehrt, mustert sie die Leute, die sie anschauen, in ihren besten Kleidern, lächelnd und mit ihren Cocktails in der Hand, und sie denkt über die Ilias nach. Sie denkt darüber nach, was hinterher passiert ist, in der nächsten Geschichte, als die schlauen Griechen schließlich doch noch in die Stadt Troja eindringen und den Krieg gewinnen.

Nachdem der tote Körper des tapferen Hektor auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war, bauten die Griechen ein riesiges Holzpferd, das sie dem Volk von Troja als Geschenk überreichten. Ein mächtiger Hengst auf Rädern, allerdings innen hohl, und sie hatten ihn angefüllt mit schweigenden Soldaten, die so eng aneinandergedrängt standen, dass sie immer wieder vorsichtig ihre verspannten Gliedmaßen strecken mussten. Ab und zu fuhren sie mit dem Daumen über die geschliffenen Klingen ihrer Schwerter.

Wenn man einen Weg findet, den Leuten zu geben, was sie wollen, lassen sie einen rein, denkt Cristabel. Wenn man ein Tier baut, in dem man sich verstecken kann, machen sie die Tore auf und ziehen einen herein.