Ausflug nach London

Juli 1928

Perry hatte es beim Dinner vorgeschlagen: »Warum nehmt ihr die Kinder nicht mit ins Ballett? Die verwildern hier noch total.«

»Verwildern?«, hatte Rosalind gefragt. »Findest du sie unsympathisch, Perry? Die Mädchen sind vielleicht wirklich ein bisschen zurückgeblieben, das gebe ich zu, aber Digby hat wunderbare Manieren. Wir könnten Digby mitnehmen.«

»Ein Ausflug in die Stadt würde ihnen allen bekommen. Das hätte eine zivilisierende Wirkung«, erwiderte Perry. »Ich bin nächste Woche in London, treffen wir uns doch einfach dort. Ich lade sie zu Kaffee und Kuchen ins Ritz ein. Da ist meine Großmutter immer mit mir hingegangen, als ich noch klein war.«

Myrtle legte ihre lange Hand auf Perrys Arm wie eine Serviette. »Was für eine inspirierte Idee, Peregrine. Man muss den Kindern die Augen öffnen für die Kräfte der Aufklärung.«

»So, muss man das?«, fragte Rosalind.

»Ach, Rosalind«, entgegnete Myrtle. »Und wenn es nur den Nutzen hat, dass sie auf Partys interessanter wirken. Wenn du die Stirn weiter so runzelst, wirst du noch Falten bekommen.«

»Ich runzle so gut wie nie die Stirn«, gab Rosalind zurück. »Das kam einfach von der Vorstellung, wie Cristabel durch die Straßen von London trampelt. Sie darf das Schwert nicht mitnehmen.«

»Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass Cristabel vielleicht weniger trampeln würde, wenn sie öfter in London wäre?«, fragte Perry. »Ist sie überhaupt schon mal dort gewesen? Ist sie überhaupt schon mal irgendwo anders gewesen? So erstaunlich es ist, aber so lange ist es nicht mehr hin, bis sie Debütantin ist. Sie muss lernen, wie man sich benimmt. Niemand wird sich an einem geistreichen Mädchen aus den Grafschaften stören. Sie ist eben von der praktischen Art. Aber sie werden sich dran stören, wenn sie keine Gabel benutzt.«

»Sie benutzt aber doch wohl eine Gabel, oder nicht?«

Willoughby lachte. »Ich fürchte nicht, meine Liebe. Sie hat Gefallen daran gefunden, von ihrem Jagdmesser zu essen. Wie ein Pirat. Mir gefällt das ziemlich gut.«

»Ihr habt es beide gewusst«, stellte Rosalind fest.

Die beiden gut aussehenden Männer in ihren Abendanzügen lächelten sie reumütig über den Esstisch an, makellos und selbstbewusst.

Cristabel blickt hoch zur Lokomotive und stößt einen anerkennenden Pfiff aus. »Ein großartiges Viech. Schaut euch bloß mal an, wie groß das Ding ist!«

Die Seagrave-Kinder wurden zu ihrer großen Überraschung in ihre besten Sachen gesteckt und mit dem Auto zum Bahnhof in Dorchester gebracht, wo sie jetzt darauf warten, in den 8-Uhr-15-Zug nach Waterloo steigen zu können. Zusammen mit Myrtle, Taras, Hilly, Philly und einer angestrengt aussehenden Rosalind an einem sonnigen Mittwochmorgen im Juli 1928.

Der Bahnhof ist hell und schick, geschmückt mit Hängekörben voller roter Geranien, während der Zug – olivgrün und glänzend – die beeindruckendste Maschine darstellt, die die Kinder jemals zu Gesicht bekommen haben. Ein auf Hochglanz polierter zylindrischer Motor. Sechs schicke Waggons. Er sonnt sich genüsslich wie eine Eidechse, wobei er einen kräftigen Hauch von heißem Metall verströmt.

Sie wollen ins Princes Theatre in der Shaftesbury Avenue, um sich eine Matinee der legendären Ballets Russes anzusehen, die nur noch eine Woche in der Sommersaison der Truppe in London gastieren. Myrtle hat eine Freundin in der Garderobe, die alles arrangiert hat, und hofft, dass Taras Sergej Djagilew kennenlernen wird, einen Mann, den sie als »den berühmten Impresario der Balletttruppe« bezeichnet, ganz so, als würde sie aus einem Begleitheftchen ablesen.

Gerade sagt sie es schon wieder, ganz laut, während ein Träger das Gepäck der Gesellschaft auf den Zug befördert. »Und Djagilew – der berühmte Impresario der Balletttruppe – soll diese Woche angeblich auch in der Stadt sein. So ein wunderbarer Zufall, Taras. Du wirst ihn verehren, er wird dich verehren, und voilà! Dann wirst du der Künstler sein, der seine nächste tolle Produktion ausstattet. Sie sagen, dass er nach jeder Aufführung im Savoy Hof hält, und deswegen, mein Schatz, gehen wir danach auch genau dorthin.«

»Dorthin, mein Schatz, gehen Hilly und ich schon während der Aufführung«, sagt Philly. »Wir haben die Ballets Russes schon vor Ewigkeiten in Paris gesehen. Damals, als sie wirklich noch Avantgarde waren.«

Philly und Hilly fallen ziemlich auf im Bahnhof von Dorchester, mit ihren Kleidern in leuchtendem Smaragdgrün und Safrangelb mit der tief sitzenden Taille und den dazu passenden Kopftüchern. Myrtle, die mit ihrem türkisen Turban und einem chinesischen Fransenschal neben ihnen steht, sieht aus wie ein in die Länge gezogener Flaschengeist.

Hilly, ganz in Safrangelb, sagt: »Heutzutage bietet Djagilew populäre Nostalgie für die Massen feil.«

»Er könnte genauso gut für die Werbung arbeiten«, schnieft Philly. »Diese ganzen zwiebeltürmchenbekrönten Kirchen, die von Leuten beklatscht werden, die nichts von der russischen Seele verstehen.«

Taras lässt einen seiner Seeelefantenbullen-Lacher los. »Frauen! Sie wollen immer, dass Künstler arm und erfolglos sind.«

»Ein wahrer Künstler wird immer Erfolg haben«, sagt Hilly. »Bei Djagilew hingegen kommt das Geldmachen vor der Kunst.«

Philly fügt in laszivem Ton hinzu: »Ich habe gehört, dass er sich hauptsächlich für den Inhalt der engen Hosen seiner Tänzer interessiert.«

Myrtle fasst nach ihrer Kette mit den venezianischen Glasperlen. »Ich kann es ihm nicht verübeln. Diese Oberschenkel von Nijinsky … Da kann einem wirklich das Wasser in die Augen steigen!«

»Er ist schrecklich klein, Myrtle. Zwergenhaft. Du würdest ihn zerquetschen wie eine Schnecke.«

»Wofür interessiert sich Djagilew?«, will Rosalind wissen.

»Genug gezwitschert«, ruft Taras aus, der auf seinem Ausflug in die Hauptstadt einen breiten schwarzen Hut und ein besticktes Hemd zu einer karierten Hose und Schnürschuhen ohne Socken trägt.

Als wollte er ihm zustimmen, stößt der wartende Zug ein gereiztes Zischen aus, und die Frauen der Reisegesellschaft kreischen auf und lachen. Die beiden anderen Passagiere, die auf dem Bahnhof warten – die Frau eines Bauern und eine junge Verkäuferin –, ignorieren sie höflich.

Der Bahnhofsvorsteher bläst in seine Pfeife, und die Kinder klettern in den Zug und machen sich auf den Weg in den Waggon der ersten Klasse. Das Abteil, in dem sie reisen werden, ist wie ein kleines Zimmer, mit einer Tür und Fenstern und samtigen Sitzen mit bestickten Schonbezügen, die schwach nach Tabak riechen. Cristabel macht sich sofort daran, die korrekte Bedienung des Fensters zu erkunden, das einem Zugriff auf die äußere Türklinke gestattet, damit sie richtig aus dem Zug steigen kann, wenn sie in London ankommen. Veggie hingegen fummelt nervös an ihrem Hut herum, und Digby ist so überwältigt, dass er nur auf die Gepäckablage über ihren Köpfen starren kann. Die Erwachsenen gehen weiter durch den Zug bis zum Speisewagen, wo sie Rühreier und Champagner frühstücken wollen.

Cristabel sagt gerade: »Dieses Fenster gefällt mir richtig gut. Schau, man muss diesen Lederriemen hier nach unten ziehen, dann geht es auf«, da macht der Zug einen jähen Ruck, um seine bevorstehende Abfahrt anzukündigen. Ein lautes Ff ff ff flump, ff ff ff flump ertönt, als er anfängt, sich langsam vorwärtszubewegen, ein triumphierendes Hu-huuuuh dringt aus seiner Pfeife, als er aus dem Bahnhof fährt, und dann erklingt nur noch das Ratata-ratata-ratata der Waggons, die immer schneller über die Schienen fahren. Die Kinder rennen ans offene Fenster, um sich hinauszulehnen und an dem langen schlangenartigen Zug entlangzublicken, aus dem die Köpfe und Oberkörper anderer Passagiere herausschauen, die sich ebenfalls aus dem Fenster lehnen, Frischluftfanatiker, die ihre Hüte festhalten und grinsen.

»Ich wünschte, ich hätte eine Pfeife!«, ruft Cristabel über den Lärm hinweg. »Ich habe mir jedes Jahr eine zu Weihnachten gewünscht.«

Sie schießen über das Land, während unablässig weißer Rauch aus dem Schornstein des Zuges quillt. Manchmal, wenn der Zug um eine Kurve fährt, gewährt die Biegung der Schienen den Kindern einen Blick in den Tender, wo der schmutzige Heizer fieberhaft Kohle in den glühenden Feuerofen schaufelt und die gefräßige Geschäftigkeit eine riesige Maschine antreibt. Wie spannend es ist, wenn sie in einen Tunnel fahren, denn dann wirbelt der Rauch um sie herum, und die Schwärze, die sie umgibt, dröhnt ihnen in den Ohren.

»Sind wir noch in Dorset?«, fragt Veggie nach einer Weile, als sie sich wieder hinsetzt. »Oder sind wir schon woanders?«

Die Kinder sehen sich an.

Digby zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nicht, woran man das sehen könnte.«

»Vielleicht sind wir mittlerweile schon über die Grenzen der Grafschaft gefahren. Ich erkundige mich mal beim Schaffner für dich«, sagt Cristabel. »Du lieber Himmel, schaut euch mal diese ganzen Kühe an. Man sieht Kühe eigentlich immer nur von der Seite, ist euch das schon mal aufgefallen? Nur ganz selten von vorne.«

Das Land braust weiter an ihnen vorbei, Hektar um Hektar. Obstgärten, Bauernhöfe, Bienenstöcke. Schäfer mit Schäferhunden. Kinder, die auf Gattern balancieren und dem Zug mit Taschentüchern winken. An jedem Bahnhof steigen Passagiere aus und zu, und jeder Bahnhof hat einen anderen Namen: Wareham, Hamworthy, Parkstone. Manchmal kommen ihnen andere Züge entgegen, die in umgekehrter Richtung unterwegs sind, und das Geräusch, wenn sie sich nähern, ist ein unablässiges Galoppieren, das sich immer weiter aufbaut, bis sie in einem verwischten, schnellen Aufbrüllen aneinander vorbeifahren, ein schrecklich krachendes Geräusch. Brockenhurst. Southampton. Winchester. Da sind Bungalows, Krankenhäuser, Kirchen, Seen zum Bootfahren, Docks, Ozeandampfer mit vielen Schornsteinen, Laternenpfähle, Schulen, Cricketfelder, Kinos. Und Leute. So viele Leute. Die Kindern sind völlig überwältigt von dieser ganzen vorbeirasenden Masse, dieser teilnahmslosen Geschäftigkeit. Es ist kaum zu glauben, dass das alles schon immer dort gewesen ist, sich ohne sie abgespielt hat. Und es gibt so viel davon.

Wenn Cristabel sich den Zug nach London vorgestellt hat, dachte sie einfach an einen Zug, der Dorchester verlässt und durch ein paar ländliche Gegenden fährt, die der ländlichen Gegend, die sie kennt, sehr ähnlich sind, und dann London erreicht. Aber nun stellt sich heraus, dass es viele Orte zwischen Dorchester und London gibt. Die Linie zwischen Dorset und der Hauptstadt ist kein einzelner, schwungvoller Strich, sondern ein sich dahinschlängelnder Schnörkel, voller Pausen und Unterbrechungen. Es gibt zahllose Städte und Dörfer, von denen sie noch nie gehört hat, und alle scheinen von Leuten bewohnt zu sein, die fröhlich ihren Geschäften nachgehen, unbesorgt von der rätselhaften Unbekanntheit ihrer Orte. Was machen die bloß alle?, fragte sich Cristabel. Was beschäftigte die Einwohner von Beaulieu, von Sway, von Hinton Admiral? Sie standen in keinen Büchern. Niemand hatte sie je erwähnt.

Noch ein eigentümlicher Gedanke machte Cristabel zu schaffen: Keiner von ihnen kannte sie. Keiner von ihnen kannte ihren Namen. Nicht mal der Zugschaffner kannte ihren Namen, und sie hätte eigentlich gedacht, dass er ihn kennen sollte.

Nach einer Weile streckt der Schaffner den Kopf in ihr Abteil und teilt ihnen mit, dass sie demnächst in London ankommen werden. Sie schauen gespannt aus dem Fenster, aber es ist, als würden sie über den Backstage-Bereich in die Stadt kommen, denn sie sehen nur eine Abfolge von ungepflegten funktionalen Orten: schwarze Industriegebäude, armselige Hinterhöfe, Nebengebäude, wirre Zäune. Doch die Gebäude ziehen sich hoch, werden immer größer und großartiger, je näher sie ihrem Reiseziel kommen. Sie erhaschen einen Blick auf Big Ben, und dann taucht Waterloo Station auf, ein riesiges Lagerhaus mit offenem Ende, einem Dach aus Gitterwerk mit verrußtem Glas und gusseisernen Bögen, innerhalb derer Spatzen und Tauben herumfliegen, und eine große Uhr, die von der Innendecke hängt.

Der Zug keucht zu seinem Bahnsteig, stellt sich neben andere seiner Art. Dann gehen die Waggontüren auf, und die Träger rufen, und große Koffer werden ausgeladen, und da sind Blumen- und Zeitungsstände, und auf dem Bahnsteig stehen Menschen, die anderen zuwinken und sie rufen. Die Seagrave-Gesellschaft steigt aus, und Hilly und Philly entfernen sich sofort in dem raschen Tempo, das viele ihrer Mitreisenden anschlagen.

»Tschüssi, ihr Lieben«, ruft Philly. »Wir essen bei Hillys Eltern zu Mittag. Die Pflicht ruft.«

»Wir können Taras nicht mitnehmen«, fügt Hilly hinzu. »Letztes Mal hat mein Vater versucht, ihn mit einer Röstgabel zu erstechen. Wir sehen uns im Savoy.«

Die Kinder werden von dem absurden Duo Myrtle und Taras durch den geschäftigen Bahnhof geführt, die große Amerikanerin und der sockenlose Russe, hinter ihnen ein schwitzender Träger mit ihrem Gepäck und Rosalind, die hinterherschleicht und unsicher murmelt: »Wann war ich zum letzten Mal hier? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich zum letzten Mal hier war.«

Irgendwann dreht sich Taras zu ihnen um, seine Augen funkeln wild über seinem schwarzen Bart, und er ruft: »Atmet diese rastlose Stadt ein, Kinder aus dem großen Haus! Lasst sie in eure Adern eindringen.«

Sie folgen seinem Rat. Vor Waterloo Station wartet ein Cabrio auf sie – Myrtle hat das arrangiert –, und als es sie durch die lauten, nach Abgasen riechenden Straßen von London fährt, nehmen die Kinder begierig alles in sich auf. Die turmhohen Gebäude, die Polizisten mit den weißen Handschuhen, die den Verkehr regeln, die zahllosen roten Omnibusse, jeder mit einer geschwungenen Treppe am hinteren Ende, über die die Passagiere nach oben steigen können, Treppen, die sich emporschrauben wie dekorative Schärpen und auf denen einzelne, unverständliche Worte stehen: DUNLOP . CUSSONS . SCHWEPPES . Als das Auto auf einer Brücke die Themse überquert, sehen die Kinder die arbeitenden Kräne, die das Ufer säumen, Schlepper, die geschäftig hin und her tuckern, und Frachtkähne mit schwarzen Kohlehaufen, die sich ihren Weg durch den Fluss pflügen.

Myrtle führt sie in ein lautes Restaurant, dessen Inneres mit reflektierenden Flächen ausgekleidet ist: Spiegel, Silber und Glas. Jedes Mal, wenn die Kinder von ihren Schweinekoteletts aufschauen, sehen sie vervielfachte Bilder von den anderen Gästen, in Einzelteile zerlegt und überall verstreut. Sie haben noch nie zuvor mit Erwachsenen gegessen, und es ist ein verwirrendes Erlebnis für sie.

Rosalind schaut sich im Lokal um und sagt: »Ich glaube, hier war ich noch nie. Nein, ich glaube, hier war ich wirklich noch nie.«

»Du solltest darauf bestehen, dass Willoughby dich nach London mitnimmt«, erwidert Myrtle hinter ihren Austern. »Der Geist verwelkt, wenn er zu lange auf dem Land bleibt. Zu viel Kulisse, zu wenig Theater.«

Taras fügt nach einer Gabel voll Kartoffeln hinzu: »Die moderne Stadt ist ein Brennstoff. Wie Petroleum.«

»Willoughby nimmt mich nie irgendwohin mit«, entgegnet Rosalind.

»Lass den Mann in Ruhe«, sagt Taras und gießt den Kartoffeln noch einen Schwall Wein hinterher. »Du rennst ihm ständig zwischen den Füßen herum, wie eine Katze, die sich um seine Beine schlängelt.«

»Könnte mir mal jemand sagen«, sagt Cristabel, die ihr Messer schwenkt, um Aufmerksamkeit zu erregen, »was ein ›Impresario‹ ist? Wie Mr Djagilew.«

»Das ist der Mensch, der eine Theatertruppe leitet, Cristabella«, erwidert Taras. »Er treibt das Geld auf, entscheidet über die Inszenierungen. Er ist die Lokomotive.«

»Ich glaube, ich mag Wein nicht«, sagt Veggie und schiebt ihr Glas weg.

»Dann gieß mehr Wasser dazu«, rät Taras und schiebt es wieder zu ihr zurück.

»Weißt du, Taras«, sagt Myrtle, die ihre Austern beiseitegestellt hat und jetzt eine edelsteinbesetzte Pfeife raucht, »je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass ich dir nützlich sein könnte. Und du mir.«

»Ist das so?«

»Meine Dichtkunst wird immer meine Haupttätigkeit bleiben, aber ich habe eine Vision: ein Poster an der Wand einer U-Bahn-Station, die eine neue Ausstellung von Taras Kovalsky bewirbt, präsentiert von der freundlichen Mäzenin Myrtle van der Werff. Nein! Präsentiert von der Van-der-Werff-Gesellschaft für die Künste. Oh, mein Vater fände es großartig, wenn ich eine Gesellschaft gründen würde.«

Taras lächelt. »Es wäre mir eine große Freude, dir beim Ausgeben der amerikanischen Dollars deines Vaters zu helfen.«

»Das«, sagt Myrtle, »hatte ich gehofft.«

Dann folgt eine Menge langweiliger Erwachsenenunterhaltung über Galerien und Gelegenheiten, aber auch über gute Desserts: gebackene Bananen zum Beispiel, serviert in Rum, mit dicken Klecksen Schlagsahne obendrauf.

Nach dem Mittagessen begeben sie sich zum Haus eines Freundes von Myrtle in Belgravia, damit sie sich erst mal umziehen können. Als sie beim Princes Theatre ankommen, fahren in der Straße davor gerade zahlreiche Taxis vor, die Leute in glamouröser Abendkleidung abladen, obwohl es ein sonniger Nachmittag ist. Sie drängen sich durch den Eingang in die geflieste Lobby des Theaters, die von den erwartungsvollen Stimmen derer widerhallt, die darauf warten, ihren Platz zugewiesen zu bekommen.

Die Kinder werden von Myrtle unter ihre Fittiche genommen und zu ihren Plätzen geführt. Sie beobachten, wie die Theaterbesucher ihre Plätze auf den Sperrsitzen unter ihnen einnehmen. Hinter den Sperrsitzen und dem Orchestergraben, in dem die Musiker sich mit einer Kakofonie aus hin- und herwogenden Klängen aufwärmen, hängt ein roter Bühnenvorhang von der Decke bis zum Boden. Der Vorhang ist von unten beleuchtet. Er glüht.

Dann wird die Theaterbeleuchtung heruntergedreht, und das murmelnde Publikum verstummt. Der Dirigent hebt seinen Taktstock, die Geiger klemmen sich ihre Instrumente unters Kinn, und alle holen tief Luft. Sie warten. Rosalind hustet. Der Vorhang geht nach oben.

Von der Seitenbühne kommt eine langhaarige Gestalt gerannt, die so hoch springt wie ein Reh, mit erhobenen Armen und voll ausgestreckten Beinen, ein Körper in der Luft mit voller Geschwindigkeit. Durch die kleinen Operngläser, die sie vor ihrem Platz gefunden hat, verfolgt Cristabel aufmerksam das Bühnengeschehen. Sie sieht die kleinen Staubwölkchen, die jedes Mal von den Bühnenbrettern aufsteigen, wenn der Tänzer wieder landet.

Dann macht der Dirigent eine schwungvolle Bewegung, und das Orchester beginnt zu spielen. Der Tänzer, eine muskulöse Gestalt in einem hautengen Kostüm, reagiert auf die Musik mit übertriebenen Bewegungen, die sich durch jede Sehne fortsetzen. Manche Bewegungen sind anmutig und fließen in harmonischen Bögen, andere hingegen sind abgerissen und rein funktional. Bewegungen, die flehen, beruhigen, ergreifen, andere, die verweigern, trampeln, beharren.

Weitere Tänzer kommen aus den Seitenbühnen gelaufen. Beleuchtet von den Bühnenscheinwerfern wirbeln sie herum, ihre Gesichtszüge betont durch dramatisches Make-up. Cristabel schaut durch ihr Opernglas und kommt zu dem Schluss, dass einige von ihnen Frauen sein müssen, denn sie tragen durchsichtige Kleider und tanzen auf Zehenspitzen. Sie hat noch nie gesehen, dass Menschen sich auf diese Art bewegen, und keinem von ihnen scheint es peinlich zu sein, was er da tut. Auch die Bühnendekoration ist faszinierend. Gemusterte Gebilde ragen von beiden Seiten herein, um ein schattiges Plätzchen im Wald nachzuahmen, doch in dem Moment, wo die Beleuchtung ihre Farbe wechselt, ähneln die Formen anderen Dingen: einem Kirchenschiff, den Balken in einer Werkstatt, dem Bauch eines Schiffes.

Sie richtet ihr Opernglas wieder auf den ersten Tänzer. Trotz des transparenten Kostüms wird nicht sofort klar, was darunterliegt, aber sie ist ziemlich sicher, dass die Wölbung oben an den muskulösen Beinen das Ding sein muss, das einen Mann auszeichnet. Es ist faszinierend, fast schon schockierend, einen Körper so nachgezogen und enthüllt zu sehen. Er sieht nackt aus. Cristabel sieht, wie ihm die Schweißtropfen von der Stirn fliegen, als er seine Pirouetten dreht, doch sein Gesichtsausdruck verrät nie, wie viel Mühe ihn das Ganze kostet.

Sein Gesicht ist kühn. Seine Augen umschattet. Er ist ein Mann, aber nicht so verschlossen und ironisch wie Perry oder Willoughby, sondern ausdrucksvoll und sinnlich. Er streckt die Arme aus, und sein Mund steht halb offen. Ab und zu hält er sich die Hände seitlich ans Gesicht, wie eine Schauspielerin, die für eine Zeitschrift posiert. Seine Sprünge scheinen physikalisch unmöglich zu sein – er kann aus dem Stand senkrecht nach oben springen, wie eine Katze. Cristabel fühlt sich an die feingliedrigen Geister erinnert, die auf Bäume klettern und Unfug treiben, in Arthur Rackhams Illustrationen der Shakespeare-Erzählungen . Puck aus dem Sommernachtstraum . Ariel aus dem Sturm . Weder gut noch böse, weder männlich noch weiblich. Etwas völlig anderes.

Cristabel hört, wie Rosalind vor sich hin flüstert: »Ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten soll.«

Die Musik schwillt, und man hört eine ausgehaltene Note von einer Geige, die hoch in der Luft schwebt, und darunter schwingt der Cellopart, und die Tänzer heben einander hoch und drehen sich alle gleichzeitig, und dann scheint es, als würden plötzlich alle Teile, die sich bewegen, zusammengebunden, und auf einmal spürt Cristabel, wie in ihrer Brust wilde Gefühle aufsteigen, und das überrascht sie. Sie wüsste nicht, wie sie beschreiben sollte, was sie fühlt oder wie dieses Gefühl hervorgerufen wurde. Doch was immer es ist oder wovon auch immer es hervorgerufen wurde, es scheint ansteckend zu sein, denn als sie zur Seite schaut, sieht sie die hingerissenen Gesichter von Digby und Veggie, die mit glänzenden Augen auf die Bühne starren.

Wieder schaut sie dem Tanz zu, wie jeder Beteiligte sich auf das gleiche Ziel konzentriert, vom Hauptdarsteller, der sich in der Bühnenmitte dreht, bis zu dem unsichtbaren Mann, der oben zwischen den Dachsparren die Scheinwerfer bedient, und dem geduldigen Schlagzeuger, der die leeren Takte zählt, bevor er ganz leicht, ting , auf seine Triangel schlägt. Es bewegt sie wie die Geschichten von Soldaten, die sich sammeln, um gemeinsam in die Schlacht zu ziehen – eine kollektive Unternehmung im Dienste einer einzigen Sache. Sie wäre sehr gerne ein Teil des Ganzen. Nein. Sie würde sehr gerne die Leiterin des Ganzen sein.

Nach der Aufführung, als das Publikum wieder auf die Straße hinausgeht und ins Sonnenlicht blinzelt, laufen alle herum und schauen sich ins Gesicht, als wollten sie nachschauen, ob das Stück Spuren hinterlassen hat. Cristabel schaut stirnrunzelnd auf ihre Füße.

Myrtles Gesicht ist geschwollen und zugleich jubilierend, überzogen mit Streifen von verlaufenem Make-up. Sie packt Digbys Hände und ruft: »Das Ballett rührt mich immer zu Tränen – oh, ich ertrinke geradezu! Hat es dir auch so gut gefallen, mein schöner kleiner Junge?«

»Ganz, ganz, ganz doll«, sagt Digby. Seine Augen sind so groß wie Teller. »Wenn ich üben würde, könnte ich auch so springen.«

»Wir machen schon noch einen Tänzer aus dir«, meint Myrtle.

»Einige von den Tänzen waren wirklich göttlich«, sagt Rosalind und fächelt sich kühle Luft mit einem Spitzenfächer zu, »aber die Musik war ein bisschen grob.«

Taras bietet Veggie seinen Arm, und sie beginnen Richtung Süden zum Savoy zu gehen. »Sagen Sie, Miss Florence. Hat das Ballett Sie auch gerührt?«

Veggie antwortet mit zitternder Stimme: »Du liebe Güte, Mr Taras. Ich habe das Gefühl, mein Herz zerspringt gleich in tausend Stücke. Das Orchester war so wunderbar – und diese magische Geschichte von dem Spielzeugladen! Wie diese Puppen alle zum Leben erwacht sind! C’était très bien

»Was sagst du da? Das am Ende? Mit den Puppen?«, fragt Rosalind, die hinter den beiden geht.

»Ja, La Boutique Fantastique , Mutter. Die Puppen haben sich so geliebt, dass sie es nicht ertragen konnten, getrennt zu werden«, seufzt Veggie. »Aber Mr Taras, ich hab mir gedacht, wenn ihre Liebe so stark war, könnten sie sich vielleicht im Jenseits wiedersehen. So wie in den griechischen Sagen, da sterben die Menschen ja auch nicht, sie gehen nur weg, um bei den Göttern zu leben. Glauben Sie, dass Puppen auch ins Jenseits dürfen?«

»Das halte ich durchaus für möglich, Miss Florence«, sagt Taras mit seiner ozeantiefen Stimme, die sie daran erinnert, dass er aus dem Meer kam und vertraut ist mit Göttern und der Liebe und allem anderen Unbekannten.

Digby, der mit einer Reihe von Sprüngen und Pirouetten über den Bürgersteig hopst, fügt hinzu: »Flossie, vergiss nicht, sie müssen es heute Abend wieder machen. Und morgen. Und übermorgen. Also werden sie immer wieder zusammen sein.«

»Das ist auch wieder wahr«, sagt Taras. »Die Puppe in der Geschichte, Miss Florence, hat er sie aus ganzem Herzen geliebt?«

»Oh ja!«

»Aber woher wissen wir, dass er liebt? Durch seinen Tanz. Das ist es, was uns in Erinnerung bleiben wird, lange nachdem die Liebe weg ist. Die Kunst wird uns alle überleben.«

»Ah«, sagt Myrtle, »aber was hat seine Kunst inspiriert? Seine Liebe. Liebe inspiriert die Kunst. Ohne Liebe gibt es keinen Tanz.«

»Sie sind zu weich«, sagt Taras, aber es klingt nicht unbedingt böse. »Ihre Gedichte werden darunter leiden.«

»Ich glaube, da drüben ist das Savoy«, sagt Rosalind. »Hat meine Frisur den Weg überlebt?«

Taras legt eine Pause ein, um Veggies Aufmerksamkeit auf ihre Halbschwester zu lenken, die mit gerunzelter Stirn und hoch konzentriertem Blick am Ende des Trupps geht. »Schau dir Cristabella an. Sie ist schon bei der Arbeit und stellt sich ihre zukünftigen Inszenierungen vor. Die Amerikanerin hat recht, wenn sie sagt, dass Liebe die Kunst inspiriert, aber das kann nicht nur die Liebe. Auch Kunst inspiriert Kunst. Ärger, Hass, Hunger – sie alle können ebenfalls eine inspirierende Wirkung haben. Doch was immer es ist, wie auch immer es zustande kommt, die Arbeit ist immer da. Die Arbeit der Kunst ist nie fertig. Auch wenn meine Hände leer sind, male ich noch.«

Veggie nickt nachdenklich. »Cristabel ist sehr gut darin, über Sachen nachzudenken. Ewig lang.«

»Viele Menschen geben auf«, sagt Taras, »aber es würde mich sehr überraschen, wenn sie zu ihnen gehören würde.«

Im Savoy lässt man die Kinder in der Lobby stehen und auf Perry warten, der sie ins Ritz mitnehmen will, während die Erwachsenen weiter hineingehen, wo Mr Djagilew an einem Klavier sitzt, umgeben von seinen Bewunderern. Die Kinder erhaschen einen kurzen Blick auf einen rundlichen Mann mit adrettem Schnurrbart und melancholisch nach unten hängenden Augen, ein elegantes Walross, das geduldig Komplimente entgegennimmt, während er ebenso virtuos wie zwanglos auf dem Klavier improvisiert. Um ihn haben sich schick gekleidete Männer und dunkel funkelnde Frauen mit den festen Waden von Tänzerinnen versammelt, und ihre Unterhaltung ist wie ein Lied, in dem die Verse von den russischen Besuchern gesungen werden, tief und rumpelnd, während die Refrains ihren eifrigen Jüngern überlassen bleiben: den extrovertiert lachenden Amerikanern, den höflich applaudierenden Briten. Aha-ha-ha! Aha-ha-ha, ganz recht .

Es ist eine Erleichterung, als Perry endlich in seiner Colonel-Uniform eintrifft, mit der Mütze unter dem Arm. Die blasse Rothaarigkeit, die ihn im zivilen Leben so durchscheinend wirken lässt, wird durch seine Soldatenkleidung völlig aufgehoben, sie füllt ihn aus, verwandelt ihn in eine beruhigende Gestalt.

»Wie ich sehe, haben die Altardiener ihr Ziel schon gefunden«, stellt er fest, als er sie hinausführt. »Ich kann so viele Bohemiens auf einen Haufen nicht ertragen, wenn sie alle ihre radikalen Ansichten auf einmal rausschreien müssen. Schauen wir mal, wie lang es dauert, bis Rosalind merkt, dass ihr weg seid.«

»Wir sollten Mutter nicht unnötig aufregen«, meint Veggie.

»Ich werde einen Hotelpagen mit einer Botschaft zu ihr schicken«, sagt Perry und hebt die Hand, als wollte er ein Taxi anhalten.

Als sie das Ritz an der Seite von Colonel Drake betreten und zu einem Tisch im Palm Court geführt werden – ein Raum, ganz in Gelb und Gold, mit Kronleuchtern und Topfpalmen –, ist es, als würde Moses das Rote Meer teilen. Stühle werden für sie herausgezogen, Servietten geschwungen, Nachfragen über die Gesundheit von Colonel Drakes Eltern angestellt und wohlwollendes Lächeln von allen Seiten geschenkt – vom Personal ebenso wie von den anderen Gästen. Eine Etagere wird an den Tisch gebracht, auf der delikate Sandwiches und Scones liegen, die mit Schlagsahne und Erdbeermarmelade gegessen werden. Perry bestellt Champagner, wobei er erzählt, seine Großmutter sei der Meinung gewesen, dass jeder Besuch im Ritz Champagner verdient habe, und jeder bekommt ein Glas. Die Sprudeligkeit, von der man niesen muss, macht sie alle albern und mutiger als sonst.

»Ich glaube nicht, dass ich jemals in die Schule gehe«, verkündet Digby großspurig.

»Das ist ja wirklich sehr raffiniert hier«, stellt Veggie fest. »Glauben Sie eigentlich, dass Mr Taras Hilly oder Philly heiraten wird?«

»Hillary«, erwidert Perry. »In ihren Augen glänzt kalter ehelicher Stahl, und wenn er sie nicht heiratet, ist sie nicht anders als all seine anderen Mädchen. Obwohl Kovalsky sich erst noch seiner ersten schwerfälligen Ehefrau entledigen muss, bevor die Hochzeit stattfinden kann.«

»Mr Taras hat eine Ehefrau?«, staunt Veggie.

»Allerdings«, sagt Cristabel und kippt ihren Champagner herunter. »Die Frau mit dem Wischmopp. Leon hat es mir erzählt. Sie ist seine Mutter. Sie haben in Brüssel gewohnt. Aber sie ist in Wirklichkeit Belgien. Kommt aus Flämisch.«

»Andersrum, mein liebes Mädchen. Seine Ehefrau ist flämisch. Und kommt aus Belgien. Sie ist selbst auch eine ziemlich talentierte Künstlerin, habe ich gehört«, fügt Perry hinzu. »Oder war es zumindest, bevor sie Kovalsky heiratete und anfing, ein russisches Baby nach dem anderen aus sich rauszupressen.«

Veggie sieht verstört aus. »Ich hoffe, dass mein Ehemann keine Frau hat, wenn ich mich in ihn verliebe.«

»Sei nicht so idiotisch, Veggie«, sagt Cristabel mit dem Mund voll Scones.

»Ich bin nicht idiotisch.«

»Du bist schon idiotisch, du Idiotin. Wenn er eine Frau hat, kann er gar nicht dein Ehemann werden. Leon hält Hilly und Philly für Eindringlinge, und er hat recht.«

»Ich bin keine Idiotin. Es gibt sehr wohl so was wie eine zweite Ehe, oder, Onkel Perry? Mutter hat auch zweimal geheiratet. Sie sagt, dass nur ungebildete Menschen die wahre Liebe missbilligen. Und weißt du was«, sagt Veggie und wird immer röter im Gesicht, »ich glaube, ich will nicht mehr Veggie genannt werden. Das ist kein schöner Name. Es ist ja nicht mal mein Name.«

»Ist es tatsächlich nicht«, bestätigt Digby.

»Digby nennt mich nie Veggie, also ist nicht einzusehen, warum der Rest von euch das nicht auch bleiben lassen kann.«

»Du bist Flossie«, sagt Digby und greift nach ihrer Hand.

»Richtig.«

Cristabel ist ein bisschen überrumpelt, weiß im ersten Moment nicht weiter und kaut an ihrem Scone.

»Flossie passt sehr gut zu dir«, unterstützt Perry sie.

»Stimmt«, sagt Flossie und blinzelt schnell. »Find ich nämlich auch.«

»Wer würde gerne hören, wie ich in Indien einen Orden bekommen habe und auf einem Elefanten geritten bin?«, fragt Perry, während er gleichzeitig einem vorbeigehenden Kellner signalisiert, dass er gerne einen Whisky und die Rechnung hätte. »Ich musste ihn an den Ohren lenken.«

Nach der Elefantenanekdote kommt das Gespräch auf die anderen Orden und Streifen an Perrys Uniform, was sie bedeuten und woher sie stammen – die ganzen Gelegenheiten, bei denen er haarscharf am Tod vorbeigeschrammt ist, die haarsträubenden Abenteuer und die Tapferkeit von Soldaten, die das Empire verteidigen. Dann eröffnet er ihnen, dass es bald Zeit für sie sei, den Zug nach Hause zu besteigen. Er fragt, ob sich noch jemand an den Namen des Zuges erinnern kann, mit dem sie hergekommen sind.

»Hatte der einen Namen?«, fragt Cristabel.

»Normalerweise schon. Und eine Nummer. Wisst ihr noch, was für eine Farbe er hatte?«

»Blau«, sagt Digby.

»Nein«, sagt Cristabel, »Grün und Gold.«

Perry nickt. »Es ist eine nützliche Angewohnheit, die man pflegen sollte: sich an die Details von Zügen zu erinnern. Das ist ein gutes Gedächtnistraining. Nächstes Mal erwarte ich, dass ihr euch auch den Namen und die Nummer gemerkt habt.«

Dann schickt Perry nach einem Auto, das die Kinder wieder zur Waterloo Station zurückbringt. Am Steuer sitzt ein uniformierter Soldat, der vor den Kindern salutiert, als sie einsteigen, und noch einmal, als sie am Bahnhof wieder aussteigen, der jetzt leerer und hallender ist.

Ihr Zug wartet schon am Bahnsteig auf sie, also rennen sie hin, und er fährt mehr oder weniger gleich los. Es war so schön, ins Ballett zu gehen und ins Ritz und Champagner zu trinken und von einem Soldaten durch die Stadt chauffiert zu werden, aber jetzt fahren sie wieder Richtung Heimat, und alles scheint zu einem ziemlich plötzlichen Ende gekommen zu sein. Perry hat ihnen versprochen, Mr Brewer Bescheid zu geben, dass er sie in Dorchester abholen soll, also können sie jetzt nichts anderes tun, als im Zug zu sitzen, während er Fahrt aufnimmt, von der Stadt wegfährt und zurück nach Dorset. Es ist mittlerweile dunkel. Der Tag ist zu Ende.

Als sie Dorchester am Morgen verlassen haben, war der Lärm des Zuges gleichmäßig und fröhlich gewesen – ein mechanisches Pferd, das munter vorangaloppiert. Aber nun verlassen sie London, und der Lärm des Zuges ist zu einem verzweifelten Brüllen geworden. Er ist ein Monster. Er ist eine Fabrik. Seine schwarzen Fenster zeigen nur die Spiegelbilder seiner Insassen, die müde und ruhelos aussehen.

Digby schaut zu, wie sein eigenes Spiegelbild behutsam das Kinn anhebt, hält sich die Hände seitlich neben das Gesicht wie der Tänzer, dann lässt er seinen Blick weiterwandern, sodass sein Spiegelbild Cristabel anschaut. Sie mustert ihn, betrachtet ihre nebeneinander gespiegelten Gesichter, dann wendet sie sich zu ihrer Halbschwester, die gerade zum dritten Mal das Ballettprogramm liest.

»Ich werd’s tun, nur dass du es weißt«, sagt Cristabel.

»Was wirst du tun?«

»Dich Flossie nennen. Wenn du das möchtest.«

»Das würde ich schön finden. Wenn es dir nichts ausmacht.«

»Das hättest du doch auch schon früher mal sagen können.«

»Jetzt hab ich’s ja gesagt.«

Nach einer Pause fügt Cristabel hinzu: »Perrys Elefantengeschichte war einsame Klasse. Du magst Elefanten, oder?«

Flossie nickt. »Ja, ich mag Elefanten wirklich.«

Cristabel dreht sich wieder um und schaut hinaus auf die dunkel gewordene Landschaft. Sie erkennt ein paar vereinzelte Lichter in der Ferne, wie von Schiffen auf See. Autos, nimmt sie an. Bauernhöfe. Die Dinge gehen weiter.

Irgendwo zwischen Southampton und Bournemouth schlummern sie alle ein, in den Schlaf geschaukelt von der Bewegung des Zuges, fröstelnd vor Müdigkeit und zusammengedrängt unter einer Wolldecke, die ihnen ein Schaffner geliehen hat. Cristabel liegt in der Mitte und hat einen Arm um jeden ihrer Schützlinge gelegt: die leise schnarchende Flossie und den tief träumenden Digby.