Oktober 1939
Rosalind öffnet die Eingangstür so weit wie möglich, und das Haus atmet ein: Ein Windstoß fährt durch die Korridore, die Kaminfeuer in den unteren Räumen wölben sich nach außen, um ihm zu begegnen, und die flackernden Kerzenflammen spiegeln sich als tanzende Funken auf den Silbertabletts mit den Cocktails, auf den gerahmten Fotos auf dem Flügel und auf dem Flügel selbst, der so schwarz und glänzend ist wie Onyx.
Rosalind, die auf der Schwelle steht, stellt sich vor, wie sie selbst auf der Schwelle steht. Eine schlanke Silhouette vor einem rechteckigen glühenden Raum. Sie rückt ihre Fuchspelzstola zurecht und wartet. Sie kommen von anderswo her. Dröhnen auf sie zu in ihren teuren Autos, deren Scheinwerfer Tunnel in die abendliche Dunkelheit graben.
Es wird jetzt immer früher dunkel. Am Tag steht das üppige Licht der Herbstsonne tief, und das Land erglüht mit seinen feuerroten, umbrabraunen und ockerfarbenen Bäumen. Die Bäume auf dem Anwesen stehen stolz da, während ihre Blätter die Farbe wechseln, so wie Menschen hoch erhobenen Hauptes ihrem Erschießungskommando gegenübertreten. Doch wenn die Sonne unter den Horizont gesunken ist, wird es sehr plötzlich und sehr schnell kühl.
Die Standuhr in der Eichenhalle schlägt die Stunden. Bald werden Rosalinds Gäste eintreffen, und sie wird ihre Party abhalten. Ihre Partys haben nicht aufgehört. Noch nicht. Aber jetzt kommt Mr Brewer und sagt ihr, dass sie die Verdunklungsvorhänge vorziehen müssen, weil das Haus wieder einmal wie ein Ziel beleuchtet ist.
»Ich weiß, Mr Brewer. Ich wollte einfach, dass alle Chilcombe so sehen, wie es gesehen werden sollte. Wir haben uns wirklich große Mühe gegeben, uns vor den deutschen Bombern zu verstecken, wo es doch so aussieht, als würden gar keine kommen.«
»Lieber auf Nummer sicher gehen, Mrs Seagrave.«
»Dieses Paketband quer über die Fenster ist potthässlich. Ich bin mir sicher, das allein wird alle Eindringlinge abschrecken.«
»Ich werde die Vorhänge zuziehen, Mrs Seagrave.«
»Gleich.« Denn da fährt ein Auto die Auffahrt hoch: Ihre Gäste kommen. Sie sollte eine Zigarette in der Hand haben. »Willoughby!«
Willoughby schwenkt den Whisky in seinem Glas, während er in einem Ohrensessel im Salon versunken ist. Er beobachtet, wie Maudie geräuschvoll eine Schaufel Kohle aufs Feuer schüttet und die Flammen mit einem dampfenden Zischen löscht. Dann kauert sie sich davor und pustet mit einem Blasebalg darauf, bis sie wieder zum Leben erwachen. Willoughby hört ein kleines beleidigtes Schnauben in jedem Seufzer des Blasebalgs. Maudie hat die Gabe, unbelebte Dinge zu beleben und die Werkzeuge ihres Berufs für sie sprechen zu lassen. Sie hat nie gelernt, sich zurückzuziehen wie die anderen Dienstboten, auch nach zwanzig Jahren Dienst in diesem Hause nicht. Sie ist immer sehr präsent und zieht die Blicke auf sich.
In einer Ecke des Zimmers dreht sich eine Jazzplatte auf dem Plattenspieler, der immer wieder seine kratzig-sentimentalen Lieder wiederholt. In der Nähe treibt sich auch Flossie herum, die Tanzschritte übt und immer wieder auf den Flur hinausspäht, wo gerade die Gäste eintreffen. Die Neunzehnjährige trägt ein besticktes rosa Kleid, das ihr zwei Größen zu klein ist. Willoughby fragt sich, ob Rosalind das arme Mädchen absichtlich so schlecht anzieht oder ob ihr Erscheinungsbild auf einer unseligen Kollision zwischen Flossies Vorliebe für Dirndl und dem Glauben ihrer Mutter beruht, dass die Kleider einer Frau sie so fest umspannen sollten wie ein von Harrods eingepacktes Geschenk.
Willoughby streckt seine Beine aus und legt seine Füße auf einen Hocker. Er mochte die Anfänge von Partys noch nie. »Ich mochte die Anfänge von Partys noch nie«, sagt er, als seine Frau erneut seinen Namen ruft. »Langweiliges Einüben von Verpflichtungen. Maudie, mögen Sie die Anfänge von Partys?«
»Ich war noch nie auf einer Party, Mr Willoughby, Sir«, antwortet sie.
»Lügnerin. Natürlich waren Sie schon mal auf einer. Noch in den übelsten Hardy-Romanen gehen die Dorfbewohner manchmal auf ein Fest. Prosten sich gegenseitig mit Cider zu. Singen Lieder über das Werben, bis das Schicksal eingreift und alle Hoffnung zunichtemacht.«
»Ich war noch nie auf Ihrer Art von Party, Mr Willoughby.«
»Diese Partys sind überschätzt. Sie würden es dort nicht ertragen«, sagt er und rauft sich die Haare. »Maudie, tut mir leid – ich bin nicht in der besten Stimmung. Ich wollte mich heute in Winchester melden, um meine Dienste meinem Vaterland anzubieten, aber sie haben mich wieder heimgeschickt. Haben mir vorgeschlagen, ich sollte stattdessen lieber den Örtlichen Freiwilligenverband für Vaterlandsverteidigung organisieren.«
»Betty hat erzählt, dass sie immer einen Pfefferstreuer in der Schürze dabeihat, um sich gegen die Hunnen zu verteidigen«, sagt Maudie. »Die könnte vielleicht ein bisschen Organisation brauchen.«
»Danke, Maudie.«
»Sind Sie jetzt zu alt zum Kämpfen, Mr Willoughby?«
»Ganz sicher nicht, verdammt noch mal. Bis nächsten Monat bin ich immer noch Ende vierzig. Perry braucht nur ein Wort zu sagen. Er wird auch dafür sorgen, dass Digby gut wegkommt. Könnten Sie mal zum Likörschrank rübergehen und mir den Whisky rausgeben?«
»Master Digby könnte nie gegen jemanden kämpfen.«
»Das kann man sich nicht aussuchen, wenn es Krieg gibt. Er wird tun, was er tun muss.« Dabei hört Willoughby in seiner Stimme das verstörende Echo seines Vaters. Er merkt, dass er Maudie nicht anschauen kann, und schaut stattdessen immer wieder auf seinen Schoß, als würde er erwarten, dort eine Zeitung zu sehen, während die Hand, in der er keinen Drink hält, zu einer Geste mit gespreizten Fingern gehoben ist, als wollte er sagen: Da kann ich nichts machen / das ist schon beschlossene Sache.
Mit jedem Gast, der ankommt, gibt es einen Stoß Zugluft, der durchs Haus weht und die Feuer in den Kaminen so aufwühlt, dass sie ein Geräusch machen wie knatternde Fahnen. Flossie, die sich auf der Schwelle herumdrückt, berichtet: »Die Cunninghams sind da. Ihr Kleid ist wunderschön.«
Willoughby hält Maudie sein Glas hin. »Ein bisschen noch.«
»Sie hat eine weiße Feder am Hut«, fährt Flossie fort. »Meint ihr, das soll ein radikales Statement sein?«
»Die Freundinnen deiner Mutter verleihen ihren Gefühlen oft durch ihre Kopfbedeckungen Ausdruck«, meinte Willoughby.
»Sie haben letzten Monat in Venedig geheiratet«, sagt Flossie.
»Ist das der, den sie in Green Park mit einem Wachmann erwischt haben? Ich gehe davon aus, dass sie zu einer Art Abmachung gekommen sind.«
Flossie zupft ihren Ausschnitt zurecht und sagt: »Crista meint, dass die Reichen sich nicht mehr anschauen, sobald sie verheiratet sind.«
»Nicht, wenn sie es vermeiden können«, bestätigt Willoughby und wirft einen verstohlenen Blick auf ein glamouröses Foto seiner Frau auf einem Beistelltischchen. »Schon irgendwas von Perry zu sehen?«
»Noch nicht«, sagt Flossie. »Gerade kommt ein älterer Mann im Regenmantel an. Vielleicht ist das der polnische Journalist, der ins Exil gehen musste. Mutter sagt, dass er grauenvolle Dinge mit ansehen musste.«
»Deine Mutter sagt viel. Oft. Immer wieder.«
»Er sieht aber wirklich bedrückt aus.«
»Stell dich ihm doch vor, Floss. Du könntest ihn doch aufmuntern.«
»Vielleicht.«
»Das könnte für eine Weile unsere letzte Party sein«, meint Willoughby. »Wäre klug, wenn wir das Beste draus machen. Willst du auch einen Drink?«
»Nein, danke. Jetzt ist Perry gekommen.«
Flossie schießt quer durch den Salon, um sich selbst im Spiegel zu begutachten. Sie hat die letzten paar Stunden damit zugebracht, vor einem Spiegel im Dachboden zu sitzen, mit Maudie hinter sich, die mit grimmigem Gesicht erfolglos versuchte, Flossies Haare mit einer heißen Zange in Locken zu legen. Normalerweise macht Betty das, aber in der Küche ist gerade das Personal knapp, also musste Maudie einspringen. Und Flossie musste zusehen, wie ihr Spiegelbild mehrmals zusammenzuckte, jedes Mal, wenn die zischende Zange ihr Haar versengte. Sie lächelte verlegen, und ihr Gesicht legte sich dabei in Furchen, als würde es versuchen, sich selbst wegzufalten.
Sie begutachtet ihre Haare. An manchen Stellen zeigen sie auf seltsame Art nach außen, wie jemand, der verwirrende Anweisungen gibt. Ihre Mutter sagt ihr immer, sie soll sich die Haare hinter die Ohren stecken, doch Flossie ist sich bewusst, dass ihre Ohren ein wenig abstehen, deswegen möchte sie sie lieber verstecken. Wie bei vielen anderen Dingen hat sie auch hier das Gefühl, als wäre der Kern ihres Seins eine Reihe unbefriedigender Versuche, etwas zu verbergen, denn jeder dieser Versuche enthüllt wieder etwas Neues, was eigentlich nicht gezeigt werden sollte. Wenn sie sich die Haare hinter die Ohren steckt, sieht man ihre abstehenden Ohren. Wenn sie ihre Taille betont, wirken ihre breiten Hüften noch breiter. Wenn sie ihre Fesseln herzeigt, sieht man auch ihre plumpen Waden. Es ist eine einzige Serie von Finten und Täuschungsmanövern, in der sie sowohl der Zauberer ist, der mit den bunten Taschentüchern winkt, als auch die Assistentin, die mit eingefrorenem Lächeln den weißen Hasen am Nackenfell in die Höhe hält, und irgendwie ist sie auch der Hase, der schlaff von ihrer Hand baumelt. Was eine ständige Angst zur Folge hat, dass sie sich irgendwie selbst verloren hat und ihr die Tauben aus dem Hut entwischt sind.
Flossies schmerzliches Bewusstsein ihrer Fehler wird nicht besser durch Rosalinds Tendenz, die verletzlichsten Momente ihrer Tochter noch schlimmer zu machen. »Das Gewicht musst du von deinem Vater geerbt haben«, sagt Rosalind jedes Mal mitleidig, wenn sie sieht, wie Flossie sich abmüht, ein Kleidungsstück zuzuknöpfen. Oder: »Du siehst hübsch aus, mein Schatz. Stell dir bloß vor, wie viel hübscher du wärest, wenn du diesen Babyspeck loswerden würdest.« Stichelnde Bemerkungen, die sich Flossie schweigend anhören muss, genauso wie die Dienstmädchen stumm bleiben, während sie versuchen, sie präsentabel herzurichten – bis auf ein paar schnelle Schnaufer, wenn sie ihr das Korsett anlegen. Ihr Erscheinungsbild scheint eine Sache konstanter Bemühungen zu sein, von allen Beteiligten. Kein Wunder, dass ihre Kleidungsstücke wütende Spuren an ihr hinterlassen.
Im Salon sieht sie ihr Gesicht im Spiegel vor Anstrengung glänzen. Vielleicht wäre es besser, wenn sie heute Abend einfach ihre neue Gasmaske aufsetzen würde. Da erscheint Cristabel über ihrer Schulter, mit ihrem starren Falkenblick.
»Du hast mich vielleicht erschreckt, Crista«, sagt Flossie. »Die Cunninghams sind hier und außerdem ein bedrückter Journalist. Nicht wirklich geeignete Kandidaten für meine anhaltende Jagd nach einem Ehemann.«
»Tja, in der Not schmeckt jedes Brot«, gibt Cristabel zurück, immer noch ohne zu blinzeln. Sie hat den ausdruckslosen Blick, mit dem Kinder andere Kinder bei der ersten Begegnung einschätzen, ebenso ungehobelt wie unbekümmert. Ihr Haar ist nicht in Locken gelegt, und sie trägt es auf Kinnlänge stumpf abgeschnitten. Sie hat ein Kleid mit dünnen Trägern an, das früher mal Rosalind gehört hat und ihr weder steht noch passt. Ihre kräftigen Schultern hat sie hochgezogen, als wäre sie draußen in ihrem Nachthemd erwischt worden. Sie mustert Flossie mit gerunzelter Stirn. »Bist du jetzt fertig mit deinen Haaren?«
»Ich hab nicht an meinen Haaren herumgespielt. Ich hab mich von meinem Spiegelbild traurig machen lassen.«
»Ich hatte noch nie viel für Spiegel übrig«, sagt Cristabel. »Deine Mutter und du, ihr schaut ständig hinein. Warum eigentlich? Ist doch nicht so, dass sich so viel verändern würde vom einen Moment auf den nächsten.«
Wie bestellt erscheint Rosalind auf der Schwelle, in einem fließenden Gewand in königlichem Purpur, und ihre hohen Absätze klappern auf dem Boden. »Cin cin«, sagt sie fröhlich und prostet mit ihrem Cocktailglas einem ihrer Gäste zu. »Warum versteckt ihr Mädchen euch hier drinnen? Ich habe jede Menge charmanter junger Männer eingeladen. Sehen alle umwerfend aus in ihren Uniformen.« Sie ist lebhaft, stark parfümiert, hat sich die Nägel lackiert und das Haar frisiert.
»Ich hab gerade meine Haare angeschaut«, verteidigt sich Flossie.
»Da kann man jetzt nichts mehr machen«, sagt ihre Mutter. »Kommt jetzt raus und mischt euch unter die Leute. Diese kommunistische Schriftstellerin, die du so gernhast, ist da, zusammen mit ihrer Gefährtin, die Reithosen und praktische Schuhe trägt. Die beiden Lesben.«
»Du sagst dieses Wort immer, als würdest du es mit der Kneifzange anfassen«, bemerkt Cristabel. »Jeder weiß doch, dass sie das sind, dich eingeschlossen.«
Rosalind winkt ab. »Die Leute ändern doch ständig ihre Meinung. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie demnächst irgendwelche Verteidigungsposten übernehmen würden. Die beiden wirken ganz schön respekteinflößend.«
»Vielleicht schließe ich mich ihnen an«, meint Cristabel. »Um meinen Beitrag zu leisten.«
»Gute Idee, mein Liebling. Du könntest dich ja der WAAF anschließen. Vielleicht würdest du bei der Frauenhilfsluftwaffe sogar einen Freund finden«, sagt Rosalind und nippt an ihrem Drink. »So, Flossie, noch ein guter Rat: Lass die Finger von den Desserts. Die einzigen Frauen, die Desserts essen sollten, sind die, die so aussehen, als würden sie nie welche essen. Dann ist es charmant. Aber wenn du so aussiehst, als würdest du regelmäßig Desserts in dich reinstopfen, praktisch im Stundentakt, dann ist es nicht mehr charmant. Dann ist es ein Mangel an Selbstdisziplin.«
»Gibt es denn Desserts?«, fragt Cristabel und steuert auf die Tür zu. »Dann esse ich eins vor dem Abendessen. Ich hab lieber ein Dessert als einen Freund. Bei der Frauenhilfsluftwaffe gibt es sowieso nicht so viele Männer. Was meinst du, wofür das W in WAAF steht?«
»Ich weiß, wofür es steht«, sagt Rosalind. »Wo ist mein Mann? Er hat meine Zigaretten.«
»Ich bin hier, und ich habe sie nicht«, lässt sich Willoughby aus den Tiefen seines Ohrensessels vernehmen.
Flossie wendet sich dem Spiegel zu, bläst die Wangen auf, dann dreht sie sich wieder zu ihrer Mutter um und zuckt gespielt tollpatschig mit den Schultern. Rosalind zieht die dünnen Augenbrauen hoch und verlässt den Salon. Flossie legt die Hände ans Gesicht und klopft sich nachdenklich auf ihre aufgeblasenen Wangen, genießt den kleinen Trommelklang, den sie dabei hervorbringen. Dann drückt sie langsam die ganze Luft wieder raus.
Cristabel isst Siruptorte, Apfelkuchen und Stachelbeerspeise, und dann läuft sie auf den Fluren auf und ab wie ein eingesperrtes Tier. Ein junger Mann von einem nahe gelegenen Anwesen ist ebenfalls auf die Party gekommen. Ein junger Mann, mit dem sie sich auf einer anderen Party über Bücher unterhalten hat. Ein junger Mann, von dem sie gehofft hatte, dass er kommen würde, weil sie sich gerne beim Dinner mit ihm unterhalten würde – eine Tatsache, für die sie sich so geniert und so lächerlich fühlt, dass sie sich beinahe aus dem Haus schleicht und von der Klippe stürzt. Durch äußerste Willensanstrengung kann sie sich zwingen, neben ihm zu sitzen und das Geschirr anzustarren, wobei sie eine kandierte Muskatellertraube nach der anderen isst. Sie bringt eine Unterhaltung in mehreren kurzen Ausbrüchen zustande. Erwähnt ihr Theater. Erwähnt den Faschismus. Kleine, maschinengewehrartige Salven von Bemühungen.
Sie fasst vorsichtig die Hoffnung, dass er an ihren Meinungen interessiert ist, obwohl sie merkt, wie sie ihre Hände immer wieder in nicht existierende Taschen schieben will und dabei eine sinnlose, schaufelnde Geste macht. Sie lässt sich sogar überreden, nach dem Dinner mit ihm zu tanzen, und Gott sei Dank überragt sie ihn nicht zu sehr. Dann, als sie gerade den Anblick seines lachenden Gesichts im Kerzenlicht bewundert, erwähnt er – ganz nebenbei – den Namen einer Frau. Und erwähnt – ganz nebenbei – eine Verlobung.
Sie kennt diese Enttäuschung schon. Nachdem er ihr diesen erfrischenden Trunk verabreicht hat (»Ich weiß, du bist nicht der Typ Mädchen, der heiraten will, hoffentlich bist du nicht zu empört bei dieser Vorstellung, Crista, altes Mädchen«), bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn auf einmal herunterzuschlucken (»Sei doch nicht so blöd, Ralph, ich freu mich furchtbar für euch beide«) und mit nonchalant unbekümmerter Miene weiterzutanzen. Wie vernünftig sie ist. Wie sie sich schon daran gewöhnt hat. Es scheint nicht anders laufen zu können.
Warum nur werden andere junge Frauen romantischer Aufmerksamkeit für würdig erachtet, während sie … na ja. Sie ist jetzt dreiundzwanzig. Vielleicht sollte sie sich gar nicht darum kümmern. Es kommt ihr vor wie eine Sprache, die sie offenbar nicht lernen kann. Sie sieht die kommunistische Schriftstellerin und ihre Begleiterin in Reithosen auf sich zukommen, zweifellos erpicht darauf, über den Tyrannen Franco und die Situation in Spanien zu reden, doch sie ist auf einmal zu müde, um Konversation zu machen. Deshalb geht sie aus dem Haus und hält auf den Rasen zu.
Fröstelnd verschränkt sie die Arme und schaut zum Himmel hoch. Sie ist sich nicht mal sicher, ob sie wirklich eine romantische Beziehung haben will. Sicherlich keine, bei der sie die Füße wie Aschenputtels hässliche Schwestern in unbequeme Schuhe zwängen und herumstehen und warten muss, bis man sie auffordert. Sie kann es nicht ertragen, zu warten, bis man sie auffordert. Es macht sie so wütend, dass sie keine Lust mehr auf angenehme Plaudereien hat. Plaudereien! Allein dieses Wort erfüllt sie mit Wut. Es klingt so, als würde man Junggesellen mit kleinen, harmlosen Stückchen Unterhaltung füttern, wie Babys, denen man ihr Essen klein schneiden muss. Es muss doch noch einen anderen Weg geben, einen aufrichtigeren, ohne diese ganze Anbiederei.
Meistens denkt sie kaum darüber nach – oder höchstens über Beziehungen in Theaterstücken, wie die zwischen Kleopatra und Marcus Antonius, die um einiges faszinierender sind. Doch dann veranstaltet ihre Stiefmutter wieder eine ihrer Partys, und Cristabel wird rausgerollt und präsentiert wie ein Möbelstück, das bei der Versteigerung nicht verkauft werden konnte.
Dass sie immer noch teilnimmt, ist hauptsächlich dem perversen Wunsch geschuldet, dass sie Rosalind, die fest der Meinung ist, niemand könne sie attraktiv finden, das Gegenteil beweisen will, und dem vagen Gefühl, dass es nützlich wäre, einen Partner zu haben, mit dem man reden kann, jemanden zu haben, der einen zu Veranstaltungen wie dieser begleiten kann, damit man nicht den ganzen Abend damit verbringen muss, zurückgewiesen zu werden. Aber wirklich jemandes Ehefrau zu werden, ihren Namen aufzugeben und ihr Zuhause und ihr Theater – das war ihr immer wie eine Art Rückzug vorgekommen.
Außerdem steht in den Zeitungen, dass im Moment alle wegen des Krieges zum Standesamt rennen, junge Paare heiraten, bevor sie getrennt werden, also sind alle verfügbaren Männer höchstwahrscheinlich sowieso schon vergeben. Der Krieg wird ihnen wohl die meisten Entscheidungen abnehmen, und wenn er schon sonst nichts nützt, verschafft er ihr immerhin eine gewisse Erleichterung.
Digby kommt über den Rasen auf sie zugeschlendert – achtzehn und schlank, im Smoking – und sagt: »Du siehst so deprimiert aus, Kameradin.«
»Das kommt von den Partys, Digs«, sagt sie.
»Ich weiß, Crista. Du kannst sie nicht ertragen.«
»Wie kannst du sie ertragen?«
»Es gibt immer jemanden, mit dem man sich unterhalten kann. Normalerweise sind die Leute doch ganz interessant, findest du nicht? Und wenn mich die Leute langweilen, dann geh ich dich suchen.«
»Du kannst das viel besser als ich«, stellt sie fest. »Ich wünschte, sie würden alle weggehen, Digs.«
»Machen sie ja auch bald.«
»Gott sei Dank hab ich dich«, sagt sie und hakt sich bei ihm unter.
Er schaut sie an. »Wollen wir aufs Dach gehen, eine rauchen?«
Sie gehen hinein und auf den Dachboden, wo Cristabel und Flossie immer noch ihre beiden Einzelbetten in dem vollgestellten Schlafzimmer haben.
Die erdrückende gestreifte Tapete ist jetzt mit glänzenden Plakaten überklebt, mit Werbung für Kunstausstellungen, die Myrtle organisiert hat, und mit handgemalten Postern, die Aufführungen im Walknochen-Theater bewerben. Das ausgestopfte Elefantenbaby dient als provisorischer Schreibtisch, dessen Rücken mit Büchern bedeckt ist. Unter seinen Bauch wurde ein Stuhl geschoben. Über allem lehnt die Göttin Sachmet an einem Aschenbecher auf dem Fensterbrett. Digby, der designierte Erbe, schläft in einem besseren Schlafzimmer ein Stockwerk tiefer, wenn er vom Internat zurückkommt. Er vergleicht seine Schule immer mit dem Tower of London, in dem man auf seine Hinrichtung wartet.
Cristabel greift sich einen Wollpullover vom Boden und zieht ihn über ihr Kleid, dann schleudert sie die Schuhe von den Füßen und schlüpft stattdessen in Digbys alte Turnschuhe. Sie klettern aus dem Fenster und die moosbewachsenen Dachziegel hoch bis zu den Schornsteinen, wo Zigaretten und ein Flachmann auf sie warten. Die Hügel in der Umgebung sind komplett schwarz. Nirgendwo ist ein Licht zu sehen.
»Crista«, sagt Digby, während er ihr Feuer gibt. »Ich muss dir was sagen. Ich werde weggehen. Vielleicht heute Nacht noch.«
»Wie meinst du das? Wo willst du hingehen?«
»Ich werde mich freiwillig bei der Armee melden.«
»Bei der Armee? Aber Onkel Willoughby …«
»Ich weiß. Vater will, dass ich in die Luftwaffe eintrete. Aber er mag Flugzeuge und ich nicht. Ich will ein ganz gewöhnlicher Soldat sein, wie die Männer aus dem Dorf. Wie ein gewöhnlicher Mensch.«
»Deine Mutter würde jetzt sagen, dass du kein gewöhnlicher Mensch bist.«
»Aber ich könnte es doch sein, meinst du nicht? Ich habe meine Chance verpasst, mich dem Kampf gegen den Faschismus in Spanien anzuschließen. Diese will ich nicht verpassen.« Auf einmal lächelt er sie an, als würde er von Partys sprechen, nicht vom Krieg.
»Mannometer, Digs.« Cristabel nimmt einen kräftigen Zug von ihrer Zigarette, legt einen Arm um ihn und zieht ihn an sich. Bei dem Gedanken, dass Digby zur Armee geht, dreht es ihr vor Angst den Magen um. Sie spürt die Knochen seiner schmalen Schultern, die Ruhelosigkeit unter seiner Haut. Er mag alt genug sein, um sich freiwillig zu melden, aber für sie ist er immer noch ein zappeliger, leicht erregbarer Junge, dessen dünne Beine gegen ihre stoßen.
»Ich glaube nicht, dass dieser Krieg so wird wie der in Spanien«, sagt sie. »Du hast mich noch nie in einem Zweikampf geschlagen, von den Deutschen ganz zu schweigen.«
»Ich habe jede Menge Soldaten auf der Bühne gespielt«, sagt er und nimmt ihre Hand, bevor er ausruft: »›Doch bläst des Krieges Wetter euch ins Ohr, dann ahmt den Tiger nach in seinem Tun!‹«
»Das hier ist aber kein Theaterstück. Warum schaust du dich nicht nach etwas um, was näher an zu Hause ist?«
»Soll ich mich freiwillig für die Unterhaltung der Truppen in Dorchester melden?«
»Nein, nur etwas, was weniger …«
»Etwas, was weniger wie Krieg aussieht?« Er lacht. »Crista, wenn einer wissen sollte, dass man sich seine Schlachten nicht aussuchen kann, dann doch wohl du.«
Cristabel schnipst die Asche von ihrer Zigarette. »Ich habe Nazis gesehen. Ich hab dir erzählt, wie sie sind.«
»Du hast mir auch erzählt, dass wir jetzt über den Punkt hinaus sind, wo wir Hitler stoppen können, indem wir über ihn reden. Du hast gesagt, dass der Nationalsozialismus den Pazifismus unmöglich gemacht hat. Du hast immer energisch darauf bestanden, dass ich dir zuhöre.«
Cristabel knurrt.
»Ich kann einfach nicht hierbleiben«, sagt Digby.
»Warum nicht?«, fragt sie. »Tu ich doch auch.«
»Jetzt sei aber mal fair, Crista«, gibt er zurück, »du fährst jedes Jahr zum Skifahren nach Österreich.«
»Nur weil ich den Rest meiner Zeit hier verbringen muss, mit deiner Mutter«, sagt Cristabel, und es klingt schärfer als beabsichtigt.
»Ihr könntet doch woanders wohnen«, schlägt Digby nach kurzem Überlegen vor. »Vater würde euch helfen, da bin ich mir sicher.«
»Und unser Theater leitet sich in der Zwischenzeit selbst?«
Digby schaut durch die Bäume zur Küste. »Ich weiß nicht, was mit allem hier passieren wird. Aber ich weiß, dass ich gehen will.« Er hält inne, dann fügt er in leichterem Ton hinzu: »Außerdem hält mir Vater immer vor, dass ich Mutter zu ähnlich bin. Zu sehr zum Dramatischen neige. Vielleicht kann ich ihm zeigen, dass das nicht wahr ist. Er respektiert Männer, die beim Militär sind.«
»Er wird dich nicht dafür respektieren, dass du dumm bist.«
Einen Moment lang sitzen die beiden schweigend zusammen. Der Partylärm unten geht weiter.
Cristabel sagt: »Tut mir leid, Digs. Bist du wirklich fest entschlossen?«
Er lehnt den Kopf an ihre Schulter. »Ja. Mir tut’s auch leid. Du bist sauer, oder?«
»Ich versuche, es nicht zu sein. Sieh zu, dass du mir jeden verdammten Tag schreibst.«
»Jeden Tag.« Nach einer kurzen Pause fügt Digby hinzu: »Ich hätte nicht gedacht, dass du vor irgendetwas Angst haben könntest.«
»Wie kannst du es wagen? Ich habe nie Angst.«
»Dann darfst du auch um mich keine Angst haben.«
»Verdammt, das werde ich auch nicht«, sagt Cristabel, atmet den Rauch aus und streicht ihm geistesabwesend über den Kopf.
Unten im Haus beginnt jemand betrunken ein patriotisches Lied anzustimmen, Land of Hope and Glory .
Flossie tut sich schwer, Anschluss zu finden. Sie sieht nur geschlossene Gruppen, wohin sie sich auch wendet. Ihr sind die einleitenden Formulierungen für den Small Talk ausgegangen. Ihre Haare tun weh. Sie ist nicht zum Tanzen aufgefordert worden. Sie würde gerne Klavier spielen, doch es stehen Leute im Weg. Die Party wirbelt ohne sie herum.
Sie geht durch die Eichenhalle, als die Standuhr Mitternacht schlägt, und sieht durch einen Türspalt, wie Willoughby immer noch am Kamin im Salon sitzt. Das Feuer ist heruntergebrannt zu einem orangen Glühen zwischen den Kohlen. Überall stehen Männer im Abendanzug, die sich an Kaminsimse lehnen, sie trinken Portwein und rauchen Zigarren dazu. Flossie hält für einen Moment inne, um dem codierten Gemurmel der Gentleman-Unterhaltungen zu lauschen: Dinge, über die man nur in gewissen Kreisen spricht, Dinge, über die man nur in Anspielungen, auf eine tastende Art spricht.
Sie stellt sich vor, wie sie die Tür aufmacht, um sich zu ihnen zu gesellen. Doch sie weiß, dass allein bei ihrem Anblick – dem einer jungen Frau – ihre Stimmen angespannt hochgehen würden wie die Zugbrücken. Man würde sie mit einer ironischen, augenzwinkernden Ehrerbietung dulden (»Oh, die jüngere Seagrave-Tochter beehrt uns auch mit ihrer Gegenwart«), aber dann würden die Andeutungen im Gespräch immer verwinkelter werden, bis alles nur noch unaufrichtig wäre. Sie würde nie zu hören bekommen, was sie wirklich meinen. Sie würde nie hören, wie sie sprechen, wenn keine Frauen zugegen sind.
Während sie vor der Tür lauscht, kann sie die Hälfte der mit dem Zigarrenrauch kreisenden Unterhaltung sowieso schon belauschen, obwohl sie nur schwer unterscheiden kann, wer was sagt. Da ist Perry – sie ist sich fast sicher –, der gerade eine abfällige Bemerkung über die französischen Truppen macht. Und das ist sicher Willoughby, der sagt, das Einzige, worauf man sich in Frankreich verlassen könne, seien die guten Damen im Blue Light Café in Le Havre, nein, diese offenen Mademoiselles verlören nie den Kopf, obwohl ihre Nation so eine Vorliebe für die Guillotine habe.
Gelächter. Gläserklirren. Das Ratschen und Zischen eines angerissenen Streichholzes.
Dann wieder Perry: »Bemerkenswert kurzsichtig, die Köpfe ihrer Führungspersonen zu entfernen.«
Willoughby: »Die Franzosen sind aber auch wirklich klein.«
Jetzt ein anderer, mit einer dröhnenden Stimme: »Man ist doch immer wieder dankbar, dass Wasser zwischen ihnen und uns ist, oder? Ganz ehrlich, wenn ich der Führer wäre, wäre ich versucht, ebenfalls in ihr Land einzumarschieren.«
Dann ein anderer, mit einer älteren, mürrischen Stimme: »Das Ganze wird bis Weihnachten vorbei sein. Ich kann nicht glauben, dass die Deutschen eine Armee aufgebaut haben. Mein Sohn hat erzählt, dass die Panzer bei ihren Militärparaden aus Pappe sind. Stimmt das, Peregrine?«
»Mitnichten«, erwidert Perry, so vorsichtig und gemessen wie immer, die reinste Wasserwaage von Mann.
Willoughby fügt hinzu: »Cristabel hat ein paar von diesen Naziparaden gesehen, als sie in Europa war.«
»Im Ernst?«
»Sie war angewidert von dem, was sich da abspielt.«
Der Mürrische meldet sich wieder: »Eine Schande, dass wir den König an diese schreckliche amerikanische Abenteurerin verloren habe n – Wallis oder wie auch immer sie heißt. Er hätte ihr mehr Widerstand leisten können.«
»Wallis Simpson. Hab gehört, sie hat in Shanghai ein paar Tricks gelernt, die den armen Jungen völlig gelähmt haben.«
»Mit zwei Ehen im Rücken sollte sie mehr als ein paar Tricks auf Lager haben.«
Gelächter, Gelächter. Das sirupartige Gluckern von Portwein. Man hört Rufe: »Hoch die Tassen!«
»Die Bayern haben Rückgrat. Das steht außer Frage. Sie haben ein Recht, ihr Land wieder aufzubauen.«
»Was sollten sie auch sonst tun? Angesichts dieser Bedrohung aus dem Osten.«
»Stimmt. Das ist eine Frage des Nationalstolzes.«
Die dröhnende Stimme wieder: »Gier hat uns doch alle an diesen Punkt geführt. Die reine Gier. Das war schon immer die Schwäche der Juden.«
»Hast du heute Morgen den Artikel in der Times gelesen?«
Ein Stimmengewirr. Eine Tagung unter Fachleuten. Eine Einsatzzentrale.
Dann Perry, mit seiner selbstsicheren Ruhe: »Man hofft zwar immer das Beste, aber ich glaube, unser größtes Problem liegt darin, dass wir immer geglaubt haben, dass die Kerle auf der anderen Seite die Regeln des Fairplay einhalten. Dieser Glaube hat sich auch im Nachrichtendienst gehalten, den wir derart reduziert haben, dass er jetzt in einem höchst prekären Zustand ist. Ich bin nicht überzeugt, dass solche Prinzipien noch anwendbar sind. Meine Herren, das hier wird kein Gentleman-Krieg. Schauen Sie sich doch Guernica an – ein ausschließlich von Zivilisten bevölkertes Ziel. Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht sicher, ob wir noch Zeit haben werden, um …«
Auf einmal fegt Rosalind an Flossie vorbei und stößt die Tür zum Salon schwungvoll auf. Sie wedelt mit den Händen die Kränze aus Zigarrenrauch weg und ruft laut: »Hier seid ihr also alle! Aber ihr wollt mir doch nicht im Ernst erzählen, dass wir schon mit dem Tanzen aufgehört haben?«