Kent, am 29. Oktober 1939
Liebste Crista,
vielen Dank für Deinen Brief. Ich freu mich vom Kopf bis zu meinen schmutzigen Stiefeln, dass Du zu einem Abenteuer aufbrichst. Du bist geboren fürs Abenteuer.
Das Wetter hier ist ziemlich matschig. Der Regen hat die ganze Woche lang auf unser Wellblechdach getrommelt, und wir müssen trotzdem immer wieder raus. Wir haben unser sechswöchiges Training mit langen Märschen und Übungen begonnen. Es soll, so hat man mir gesagt, »uns lahme Enten in die Gänge bringen«. Wir müssen alles mit unserer Ausrüstung auf dem Rücken machen, was wirklich außergewöhnlich unbequem ist, vor allem bei diesem grausamen Regen und den beutehungrigen Winden.
Kent hat einen größeren Himmel als Dorset, und es fühlt sich exponierter an. Man hat das Gefühl, als müsste das Wetter weitere Strecken zurücklegen, um zu uns zu kommen, weshalb es schlechte Laune bekommt. Ich habe zu Groves gesagt, dass ich mich von Mutter Natur verfolgt fühle, und er hat mir in seinem wunderbaren Yorkshire-Akzent geantwortet, dass ich manchmal wirklich seltsame Sachen sage. Wir plagten uns gerade bei Sturm durch ein durchnässtes Feld, und ich musste an König Lear denken, wie er über die sturmumtoste Heide wandert und ruft: »›Was Fliegen sind den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spaß.‹« Groves meinte, er würde mich noch einmal auf seinen vo rherigen Kommentar verweisen. Ich hab ihn schon sehr ins Herz geschlossen.
Als wir gestern in einem nicht enden wollenden Regenguss draußen waren, sahen wir einen Mann, der die Schilder am Bahnhof abnahm, auf denen »Canterbury« stand. Er erklärte, sie würden alle Schilder abnehmen, um die Deutschen zu verwirren, wenn sie in England einmarschierten. Ich meinte zu ihm, ich könnte mir vorstellen, dass die Deutschen auch Landkarten und Kompasse besäßen, ganz abgesehen von den Waffen, die sie den Leuten unter die Nase halten konnten, damit sie ihnen sagten, wo sie waren. Der Mann schnaubte verächtlich und stieg wieder auf seine Leiter.
Letztes Wochenende fand eine Tanzveranstaltung in einem nahe gelegenen Gemeindesaal statt. Ich begleitete Groves als Anstandsdame. Er tanzt für sein Leben gern und hat mir erzählt, dass seine Freunde und er sparen, um zu den großen Tanzsälen zu fahren, und dass es nichts Besseres gebe. Kaum waren wir angekommen, schwenkte er mit einem Riesengrinsen auf dem Gesicht die Mädchen über die Tanzfläche. Es gab nur Schallplatten, die auf einem Grammofon abgespielt wurden, und kein Orchester. Aber am Ende des Abends spielten sie eins von diesen langsamen Louis-Armstrong-Liedern – die Art, die Mutter so gerne mag. Ich weiß nicht mehr, wie es heißt, aber es handelt davon, dass man an zu Hause denkt, und ich musste an sie denken (höchstwahrscheinlich wiegt sie sich gerade zur Musik aus ihrem Grammofon, meine liebe Mutter) und an Vater und Flossie und Dich und Chilcombe und alle anderen dort.
Ihr kommt mir alle weiter weg vor, als ihr es in Wirklichkeit seid. Damit meine ich, ich könnte jederzeit in einen Zug springen und am selben Tag zu Hause sein, wenn ich wollte. Aber das kommt mir ziemlich unwahrscheinlich vor. Und wie sollte ich den richtigen Bahnhof finden, nachdem sie jetzt alle namenlos sind?
Auf jeden Fall lehnte ich an der Mauer der Ickham Village Hall und rauchte eine sentimentale Zigarette, während Groves an mir vorbeistolzierte, begleitet von einem molligen, strahlenden Mädel vom Freiwilligen-Hilfsdienst mit einer Laufmasche in ihren billigen Standardstrümpfen.
Ich vermisse Dich wirklich. Ich rede jeden Tag mit Dir. Ich hoffe, Du kannst mich hören.
Dein Digby
PS : Ich finde Deine Idee für die Inszenierung des Sturms sehr interessant und habe beschlossen, nächsten Sommer den Prospero zu spielen, wenn die Deutschen es zulassen. Und sag jetzt bitte nicht, dass ich nicht alt genug bin. Der Krieg wird mich perfekt altern lassen, da bin ich ganz sicher.