September 1942
Es ist nie sonderlich überraschend, wenn man aufblickt und Colonel Peregrine Drake vor sich sieht. Er hat die seltene Eigenschaft, sich dann zu materialisieren, wenn man es erwartet. Cristabel, die auf einer unbeleuchteten Treppe gestolpert ist und sich dabei das Handgelenk gebrochen hat, schleicht an einem sonnigen Tag Anfang September in den Gärten von Bentley Priory herum und recht mit ihrer linken Hand ziemlich uneffektiv Laub, als sie aufblickt und sieht, wie er auf sie zuschlendert.
»Guten Tag, Sektionschefin Seagrave«, grüßt er. »Ich hätte dich eigentlich nicht als Gärtnerin eingeschätzt.«
»Bin ich auch nicht«, gibt sie zurück. »Bloß so lange, bis das hier besser geworden ist.« Sie schwenkt ihren Gipsarm.
»Wie lang dauert es, bis sie dich wieder arbeiten lassen?«
»Es ist ein einfacher Bruch.«
»Natürlich.«
»Sollte nach vier sehr öden Wochen ausgeheilt sein.«
»Wie wär’s mit einem Ausflug nach Chilcombe?«
»Dann müsste ich Urlaub beantragen.«
»Ich habe schon mit deinem vorgesetzten Offizier gesprochen. Er hat mir recht gegeben, dass eine wütende, verletzte Cristabel Seagrave besser dran ist, wenn sie ein paar Tage auf dem Land verbringt, statt hier rumzustapfen. Leon wartet vorne schon mit dem Auto. Schnapp dir deine Sachen.«
Das Auto gehört der Armee, ein khakifarbener Humber mit langer Kühlerhaube und großen Kotflügeln. Der Motor läuft schon: ein effizientes Grollen. Als Cristabel näher kommt, entdeckt sie auf dem Fahrersitz einen rauchenden Leon in Uniform, während Perry auf dem Beifahrersitz einen Packen Dokumente durchschaut. Cristabel macht die hintere Tür auf und wirft die Tasche mit ihren Sachen auf den Rücksitz, bevor sie selbst hineinklettert.
»Und ab die Post«, sagt Perry und schlägt seine Akten zu. Das Fahrzeug beschleunigt, begleitet von aufgewirbeltem Laub.
Cristabel schaut aus dem Fenster, während sie durch die umliegenden Dörfer fahren. Es ist die Welt der besorgten und unwissenden Zivilisten: ein Ort der Rationierungsheftchen und gekachelten Kamine und Tombolas für den örtlichen Spitfire-Fonds.
Sie ertappt Leon dabei, wie er sie im Rückspiegel mustert. Sie erwidert seinen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen, bevor sie sich betont zum Fenster dreht. Als sie ein paar Augenblicke später wieder hinschaut, scheint er auf die Straße zu sehen, aber dann zuckt sein Blick zum Spiegel, um ihr zu zeigen, dass er sehr wohl weiß, wohin sie geschaut hat. Sein Halblächeln bringt sie auf Zinne. Ihr ist die Ungleichheit bewusst, die darin liegt, dass sie als Frau auf dem Rücksitz eines Autos mit zwei Männern auf dem Vordersitz transportiert wird. Sie würde am liebsten die Arme verschränken, aber das geht schlecht mit ihrem Gips.
»Digby ist auf Chilcombe«, sagt Perry und dreht sich zu ihr um.
»Was? Ist er zurück aus Afrika?«
»Und das auch noch in einem Stück.«
Cristabel atmet erleichtert auf. »Gott sei Dank.«
Perry dreht sich wieder nach vorne und sagt: »Lieutenant Seagrave ist schon seit einer ganzen Weile in England, aber wir haben ihm zu tun gegeben. Zusatztraining. Ich nehme ihn morgen mit, aber ich dachte mir, du möchtest ihn vielleicht zuerst sehen.«
»Danke«, sagt sie. »Was für eine Art von Training?«
»Ein zusätzliches«, antwortet Perry mit einem Lächeln in der Stimme.
Sie durchqueren Middlesex und Hampshire, bevor sie auf die gewundenen Straßen von Dorset hinunterfahren. Cristabel ist bewusst, dass Leon sie ab und zu anschaut, aber jetzt macht es ihr nicht mehr so viel aus. Sie fahren Richtung Süden, passieren reetgedeckte Häuschen, Postämter, Heerlager. Nach drei Jahren Krieg sieht das Land müde aus: Die Farbe blättert von den Pubs ab, überholte Plakate vom Kriegsministerium hängen von den Telegrafenmasten. Es sind fast keine anderen Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs, nur hie und da ein Bus oder ein Armee-LKW und ein- oder zweimal ein von Pferden gezogener Wagen, auf dem sich das Heu türmt.
Als sie über den Hügelkamm kommen, ist es schon später Nachmittag. Vereinzelte Schafe grasen auf den Grabhügeln, während über ihnen schreiende Möwen dahinziehen. Die hügeligen Felder liegen sanft und kuschelweich da, und das Meer in der Ferne glänzt verhangen. Es sieht aus, als würde es nach oben verdampfen, in einen Himmel mit pastellfarbenen Streifen in Rosa, Orange und Blau.
Sie fahren mit Schwung hinunter ins Tal und durch das Dorf und zuletzt die gewundene Auffahrt zu Chilcombe entlang, wo Mr Brewer, in Wintermantel und Melone, vor dem Haus auf sie wartet. Leon stellt den Motor ab und steigt aus dem Auto, um Perry die Tür aufzumachen, während er Mr Brewer zunickt.
Perry sammelt seine Akten zusammen und sagt: »Wie seltsam, auf Chilcombe anzukommen, ohne dass Mr oder Mrs Seagrave uns begrüßen.«
»Ich bin doch hier«, sagt Cristabel, die sich vom Rücksitz gerettet hat, bevor Leon ihr die Tür aufmachen kann.
»Colonel Drake«, sagt Mr Brewer.
»Immer ein Vergnügen, Bill«, erwidert Perry.
In diesem Moment erscheint Flossie mit einem Bündel Feuerholz auf der Schwelle. Sie trägt eine Latzhose aus grobem Leinen, die sie in ein altes Paar Reitstiefel gesteckt hat. »Ist das Crista?«, fragt sie. »Oh, sie ist es! Sie ist es wirklich!«
Das Feuerholz wird fallen gelassen, und Cristabel wird ohne großes Federlesen in die Arme ihrer Halbschwester gezogen, die pausenlos auf sie einredet. »Ich weiß, du hast kein Faible für Gefühlsausbrüche, aber ich kann einfach nicht anders, das musst du jetzt aushalten. Oh, du fühlst dich aber dünn an, Crista, isst du auch ordentlich? Wie geht es deinem Arm? Ich hör jetzt mal auf, dich ständig so zu drücken. Komm rein, komm rein. Wir haben Feuer in der Küche gemacht. Hallo, Perry. Hallo, Leon. Du liebe Güte, seht ihr schick aus in euren Uniformen!«
Sie gehen nacheinander ins Haus, das jetzt genau andersrum ist als vorher: Vor dem Krieg hatten sich die arbeitenden Elemente des Hauses im Untergeschoss befunden, verborgen vor den Blicken der Besucher, während die Räumlichkeiten darüber opulente Szenen des Müßiggangs boten. Jetzt hingegen sind die Hauptzimmer dunkle Lagerräume geworden, voll von unbenutzten Möbeln und Kartoffelsäcken, während das Herz des Hauses in die Küche der Dienstboten abgesunken ist.
Betty ist da, um sie willkommen zu heißen, sie trägt eine geblümte Schürze und fuchtelt mit dem Kessel herum, während Mr Brewer ein Huhn hinausscheucht, bevor er den Neuankömmlingen bedeutet, am Tisch Platz zu nehmen. Ein Stuhl scharrt geräuschvoll über den Boden, als Sergeant Bullock versucht, mit einem überschwappenden Glas Pastinakenwein in der Hand aufzustehen. Hans wartet an der Hintertür mit einem Eimer voller Äpfel, während eine getigerte Katze sie hochmütig von der Spüle aus beobachtet. Flossie zündet eine Kerze an, die in einer leeren Brandyflasche steckt und ein flackerndes Halblicht auf die momentanen Bewohner von Chilcombe wirft: eine provisorische, bescheidene Behelfstruppe, die sich am gefährlichen Rand von England verkrochen hat.
»Wo ist Digby?«, fragt Crista.
»Der geht gerade auf dem Hügelkamm spazieren«, sagt Flossie. »Er wird begeistert sein, dich zu sehen. Wir wussten alle nicht, dass du auch mitkommst.«
Perry setzt sich auf den Platz, der dem Herd am nächsten ist, und Sergeant Bullock, der sich mittlerweile in die Senkrechte hochgearbeitet hat, salutiert stramm.
»Setzen Sie sich wieder, Mann«, sagt Perry. »Völlig unnötig, wir legen hier keinen Wert auf Förmlichkeiten.«
»Ist mir eine Ehre, Colonel Drake«, sagt Sergeant Bullock und setzt sich wieder.
Leon und Mr Brewer schütteln sich die Hände und bieten sich gegenseitig Zigaretten an. Als sie die beiden beobachtet, wird Cristabel klar, dass sie trotz aller Unterschiede zum gleichen Typ Mensch gehören: Mittelsmänner, Leute, die gegen Schmiergeldzahlungen auch mal illegale Geschäfte machen. Beide haben ihren Weg in die Streitkräfte gefunden, wo ihre besonderen Fähigkeiten auf Hochglanz poliert und legitimiert wurden: Mr Brewer war im letzten Krieg Perrys Bursche, Leon erfüllt jetzt eine ähnliche Rolle.
Sie versucht, sich die Vertraulichkeiten vorzustellen, die die beiden austauschen, und das Wesen ihrer Arbeit. Leon, mit einer Zigarette verwegen im Mundwinkel, spürt, dass sie ihn beobachtet, und sieht sie an. Sie zieht ihre dunkelblaue Uniformjacke mit der linken Hand straff, dann stellt sie sich hinter Perrys Stuhl.
»Sie müssen einer von den Gefangenen sein«, sagt Perry, als Hans sich zum Gehen wendet. Dieses Manöver ist typisch Perry: die Person ausfindig machen, die versucht, sich davonzustehlen, und sie dann festnageln, wie einen Schmetterling. Perry wechselt geschmeidig ins Deutsche und sagt: »Wie ich höre, haben Sie sich hier unentbehrlich gemacht.«
Hans weicht nach hinten aus und antwortet auf Deutsch: »Danke, Sir. Ich versuche nur, die Freundlichkeit, die man mir gegenüber gezeigt hat, zurückzugeben.«
»Er geht gleich ins Zeltlager zurück«, sagt Mr Brewer.
Perry deutet auf den Stuhl neben sich. »Setzen Sie sich doch zu uns, Krause.«
»Das Essen wird nicht reichen, wenn der Deutsche bleibt«, sagt Betty.
»Leon, lauf doch noch mal schnell zum Auto – da ist eine Kiste mit ein paar Lebensmitteln für Mrs Brewer drin«, sagt Perry. »Wir könnten in der Küche zu Abend essen. Das wäre doch mal was Neues.«
»Machen wir derzeit eigentlich immer«, entgegnet Flossie. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, irgendwo anders zu essen. Das Esszimmer kommt mir meilenweit entfernt vor.«
»Das Essen war immer fast kalt, bis wir dort waren«, sagt Betty.
Es gibt ein geselliges Zurechtrücken, bis alle ihre Plätze eingenommen haben, und dann wird das Abendbrot aufgetischt. Hans setzt sich neben Perry, und die Tigerkatze springt ihm auf den Schoß. Hans streichelt die Katze, während Perry ihn freundlich fragt, ob er etwas von seiner Familie in Deutschland gehört hat, während Betty lautstark ihre Meinung über diesen unaussprechlichen Adolf Hitler kundtut. Dann folgen begeisterte Ausrufe über die Köstlichkeiten, die Perry mitgebracht hat und die jetzt an alle am Tisch verteilt werden – Früchtebrot und Schokoladenriegel –, woraufhin Betty darauf besteht, Perry mit einem Korb frischer Eier zu entschädigen, die er höflich auf dem Schoß behält, bis Leon sie ihm abnimmt.
Inmitten der allgemeinen Unterhaltung und Kuchenverkostung hört Cristabel, wie der Deutsche zu Flossie sagt: »Die Katze schläft wieder, Flossie«, und sie sieht ihre Schwester lachen und wundert sich über diese Vertrautheit mit einem Mitglied der feindlichen Truppen.
»Woher habt ihr diese Katze?«, fragt Cristabel.
»Dieser Kater ist einfach irgendwann in den Ställen aufgetaucht«, erzählt Flossie. »Hans füttert ihn mit den Resten von seiner Ration. Wir werden ihn Toto nennen.«
»Miss Flossie hatte schon immer ein weiches Herz«, sagt Betty und befestigt einen gestrickten Teewärmer an der Kanne. »Wisst ihr noch, wie sie sich um diesen schrecklichen Elefanten gekümmert hat, als wäre er ein lebendiges Wesen?«
Flossie lacht. »Stimmt. Ich habe ihm immer Essen ins Maul gesteckt, und dann ist alles schlecht geworden, und ich musste es wieder rausholen.«
Leon fügt mit seiner dunklen Stimme hinzu: »Ich musste diesen Elefanten stundenlang herumziehen, wenn wir unsere Stücke aufgeführt haben. Er war ein Pferd und ein Kamel und ein Schiff und ein Drache.«
»Manchmal ist Digby auch drauf geritten«, ergänzt Flossie.
»Manchmal hat sich Cristabel draufgestellt, während sie ihre Anweisungen gegeben hat«, fügt Perry hinzu und schaut sie dabei an.
»Ich gehe jetzt mal auf den Hügel und suche Digs«, sagt Cristabel.
»Ich komme mit«, sagt Flossie.
Flossie und Cristabel gehen zusammen hinaus. Sie verlassen das Grundstück, gehen um das Dorf herum und steuern dann auf den steilen Pfad zu, der zum Hügelkamm hinaufführt. Flossie geht mit großen Schritten in ihren Stiefeln voran. »Vorsicht bei dem Zauntritt, das unterste Brett ist lose«, sagt sie einmal und zeigt sich überhaupt auf eine Art hier zu Hause, die Cristabel noch nie an ihr gesehen hat.
Der Pfad verläuft im Zickzack durch Ginster und Brombeergestrüpp, während er die steile Böschung hinaufführt, und als sie zurückblicken, leistet die Abendsonne gerade gründliche Arbeit und beleuchtet liebevoll die Linien der Hangterrassen auf den Feldern unter ihnen – Spuren, die von denen hinterlassen wurden, die dieses Tal schon Tausende von Jahren vor ihnen beackert haben. Der Pfad selbst ist uralt, ein Kalksteinfußweg, der aussieht, als wäre er ins Land eingraviert.
Sie steigen so hoch, dass sie auf eine Gruppe von Krähen hinunterblicken können, die einen Turmfalken durch das Tal verfolgen – Luftkampf zwischen herabschießenden Vögeln. Oben befindet sich ein prähistorischer Grabhügel, ein drei Meter hoher, grasbewachsener Klumpen in Form einer umgedrehten Schüssel, und darauf liegt Digby.
Cristabel klettert zu ihm hoch und kniet sich neben ihn. Er liegt mit geschlossenen Augen da und ruht sich aus. Flossie folgt ihr, aber hält sich ein bisschen zurück. Denn es ist ihr Bruder, der in tiefe Träume versunken zu sein scheint. Er ist schmaler geworden, aber auch stärker. Sein dunkles Haar ist militärisch kurz geschnitten. Er trägt seine Armeestiefel und ein paar alte Sachen von Willoughby: eine weit geschnittene Flanellhose und ein weites weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hat, sodass man seine gebräunten Unterarme sieht. Eine Hand hat er über den Kopf geworfen, wie er es schon als Kind gemacht hat, wenn er schlief. Er liegt neben einem kleinen Hügel aus Zigarettenkippen, und das üppige Licht der untergehenden Sonne gießt ihn in Bronze.
»Digs«, sagt Cristabel. Er bewegt sich und schlägt die Augen auf, und es gibt keinen Moment der Überraschung, nur einen treuen Blick des Wiedererkennens, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass sie da sein würde, wenn er aufwacht. Er stemmt sich hoch, und sie umarmen sich wie die Matrosen, schaukeln nach rechts und links und klopfen sich gegenseitig auf den Rücken, wobei Digby versehentlich ein paar dumpfe Schläge von Cristabels Gips abbekommt. Sie fühlt, wie er sein Gesicht einen Moment an ihrer Schulter vergräbt, hört, wie er beim Ausatmen ein ersticktes »Crista« von sich gibt. Und im nächsten Moment ist Flossie auch da, schlingt ihre Arme um beide und drückt sie fest an sich, bevor sie sich alle voneinander lösen und sich gegenseitig mustern. Aber plötzlich verändert sich Digbys Miene und bekommt etwas Undefinierbares, er blinzelt müde.
»Meine Schwestern«, sagt er. »Crista, hast du dich verletzt? Was ist mit deinem Arm passiert?«
»Ach, das ist nichts«, wehrt sie ab. »Bin nur gestolpert.«
»Du siehst großartig aus in deiner Uniform«, sagt er. »Sie steht dir vorzüglich.«
»Ist Digby nicht furchtbar braun?«, fragt Flossie. »Betty meint, er sieht aus wie ein Araber.«
»Sehr braun«, bestätigt Cristabel. »Und müde auch. Du hast ja ganz schöne Augenringe, Digs. Schläfst du gut?«
»Es ist schwierig, in der Wüste zu schlafen«, sagt er, dann lächelt er. »Ich habe so oft daran gedacht, wie es wäre, nach Hause zu kommen, und jetzt, wo ich hier bin, kommt es mir so unwirklich vor. Kommt, wir legen uns einen Augenblick hin. Es ist so schön, die Möwen zu beobachten, wenn sie über einen hinwegfliegen.«
Das Trio legt sich nebeneinander und schaut in den Himmel.
»Wisst ihr noch, wie wir alle die Masern hatten?«, fragt Digby plötzlich.
»Daran musste ich auch gerade denken«, sagt Flossie. »Da hat man uns doch erlaubt, dass wir uns zu dritt in ein großes Bett legen.«
»Ich mochte das«, sagt er und greift sich jeweils eine Hand von seinen Schwestern.
»Drei gefleckte, aneinandergekuschelte Siebenschläfer«, sinniert Flossie.
»Ich konnte nicht lesen, weil mir die Augen zu sehr wehgetan haben, deswegen hat Crista uns die Ilias vorgelesen«, sagt Digby, »und Flossie hat ihre liebsten Weihnachtslieder gesungen.«
»›God rest ye merry gentlemen, let nothing you dismaaaay‹«, singt Flossie in ihrem angenehmen tiefen Alt.
Sie bleiben unter zufriedenem Schweigen liegen, wobei Cristabel ab und zu einen Blick zu Digby hinüberwirft. Es ist so wohltuend, ihn zu sehen. Den richtigen Digby. Nach so vielen Monaten.
»Wie friedlich es ist«, bemerkt Digby. »Ich bin schon lange nicht mehr an einem so friedlichen Ort gewesen. Als ich hier hochging, habe ich Rauch im Dorf gesehen und bin davon ausgegangen, dass irgendetwas brennt, ein Flugzeug oder ein Panzer. Dabei hat einfach nur jemand ein Feuer gemacht.«
»Wie war es da unten in Afrika, Digs?«, will Cristabel wissen.
»Heiß«, erwidert er und zieht eine zerknautschte Schachtel Zigaretten aus seiner Brusttasche. »Sandig. Wunderschön. Ein einziges Schimmern und Flimmern. Manchmal konnte ich verstehen, warum Vater es so gemocht hat, aber manchmal war es auch die Hölle.«
»Die Hölle?«, hakt Flossie nach.
»Meine Männer sind in ihren Panzern bei lebendigem Leibe verbrannt. Ich konnte sie hören. Aber ich konnte nichts machen.«
»Du meine Güte, wie schrecklich.«
»Ich will euch die grausamen Details ersparen, Floss, aber das ist die Wahrheit. Ich wünschte, es wäre anders.«
»Die BBC sagt, dass die Alliierten in Nordafrika siegen«, sagt Cristabel.
»Schwer zu sagen, wenn man selbst da ist«, sagt Digby und steckt sich eine Zigarette an. Seine Stimme klingt erstaunlich leicht.
Cristabel schaut ihn an. »Perry sagt, dass du ein Zusatztraining bekommen hast. Hat er dir eine Art Spezialposition besorgt?«
»Wie du weißt, hat Mutter sich immer gewünscht, dass Perry eine ›Spezialposition‹ für mich sucht«, sagt Digby. »Ich glaube ja, dass sie in Wirklichkeit eine ›sichere Position‹ gemeint hat.«
»Was ist das für eine Art von Spezialposition?«, fragt Flossie.
»Ach, nicht weiter wichtig«, antwortet Digby und klopft mit seinem Feuerzeug auf die Zigarettenschachtel. »Wo hast du bloß diese hübschen Stiefel her, Floss?«
»Die hab ich in den Ställen gefunden. Ich glaube, die haben mal meinem Vater gehört. Ich habe sie vorne mit Zeitungspapier ausgestopft. Schick, was?« Flossie schlägt die Hacken zusammen.
»Hat dir das dein deutscher Freund beigebracht?«, fragt Cristabel.
Flossie wird rot. »Sei nicht so, Crista. So ist er nicht.«
»Krause war die ganze Zeit freundlich zu mir. Wenn Floss ihn gernhat, habe ich ihn auch gern«, sagt Digby. Nach einem Moment fügt er hinzu: »Ich warte irgendwie noch immer drauf, dass die Kirchenglocken läuten, aber das tun sie gar nicht mehr, stimmt’s?«
»Schon seit Jahren nicht mehr«, sagt Flossie. »Bist du wirklich so lange weg gewesen? Sie läuten nur, wenn man bei uns einmarschiert, oder zum Ende des Krieges, obwohl ich nicht weiß, woher wir wissen sollten, was von beidem in dem Moment der Fall ist.«
»Habt ihr eine Begräbnisfeier für Mutter in der Kirche gemacht?«, fragt Digby. »Ich weiß, dass du mir irgendwas geschrieben hattest, aber ich hab’s vergessen.«
Cristabel nickt. »Flossie und ich sind da gewesen. Perry auch. Ich habe dir eine Kopie des Gottesdienstablaufs geschickt.«
»War Vater auch da?«, fragt Digby.
»Der ist in Irland geblieben.«
»Weiß irgendjemand, was er dort macht?«
»Es gibt immer noch Pferderennen in Irland«, sagt Cristabel.
»Und Whisky«, ergänzt Flossie.
»Ich bin gestern mal in Mutters Schlafzimmer gegangen«, erzählt Digby. »Ich habe fast damit gerechnet, dass sie gleich auf mich zugeschwebt kommt mit einem Drink in der Hand und so was sagt wie: ›So viele Leute sind dazu verdammt, sich in dich zu verlieben, mein Schatz!‹« Dabei verändert Digby seine Stimme und die Intonation, um seine Mutter nachzumachen.
»So was hat sie zu mir nie gesagt«, erwidert Flossie lachend, doch ihr Lachen hört sich nicht wirklich überzeugend an.
»Ach, Flossie, mein Schatz«, sagt Digby und lehnt seinen Kopf an ihre Schulter. »Sie hat alle möglichen albernen Dinge gesagt.«
Cristabel stemmt sich mit ihrem gesunden Arm hoch und setzt sich auf, sodass sie ins Tal schauen kann. Sie ist erstaunt, dass Digby die Details des Begräbnisses seiner eigenen Mutter vergessen zu haben scheint, wo sie doch so viel Sorgfalt darauf verwendet hatte, sie ihm mitzuteilen. Es erinnert sie an seine seltsame Reaktion auf die Nachricht von Rosalinds Tod, die er gar nicht richtig aufzunehmen schien. Außerdem irritiert es sie, dass Rosalind Flossie immer noch ärgern kann, obwohl sie schon tot ist. Sie will etwas zu diesen Themen sagen, ist sich jedoch bewusst, dass manche ihrer früheren Bemühungen um schwesterliche Weisheit als strenge Anordnungen aufgefasst wurden und nicht als freundlicher Rat, und sie hält es für wichtig, ihre Geschwister jetzt zu führen, wenn sie sich schon mal wiedersehen.
»Weißt du, Floss«, beginnt sie vorsichtig, »du solltest dir nichts dabei denken.«
»Wobei?«
»Bei dem, was andere Leute über dich sagen. Es steht einem nur im Weg. Ein bisschen so, als würde man mit einem aufgespannten Regenschirm durchs Leben gehen.«
»Mit einem Regenschirm?«, staunt Flossie.
»Du brauchst keinen Regenschirm.«
»Ich habe auch nur ganz selten einen«, sagt Flossie. »Eigentlich nur, wenn ich an Mutter denke, glaube ich.«
»Du bist jetzt die Dame des Hauses, Floss«, sagt Digby.
»Das Haus ist ein halber Staat«, sagt Flossie, »aber mein Gemüse gedeiht. Das muss ich dir nachher mal zeigen.«
»Musst du wirklich«, sagt er.
»Aber nur, wenn du mir von dieser Spezialposition erzählst«, sagt Flossie und tritt ihm kumpelhaft gegen den Fuß.
Digby lacht. »Ich darf niemandem was davon verraten. Feind hört mit und so.«
»Du musst es uns ja nicht erzählen«, sagt Cristabel.
»Ich hatte Perry gebeten, mich im Hinterkopf zu haben, wenn sich irgendwas Interessantes auftut«, sagt Digby. »Ich hatte Panzer gründlich satt. Er hat im Juli Kontakt mit mir aufgenommen und gesagt, dass man ihn gebeten habe, ein paar extra Männer für einen Freund zu organisieren. Dann hat er mich zu einem Haus in der Northumberland Avenue geschickt. Davor lagen jede Menge Sandsäcke. Ich habe ein Vorstellungsgespräch mit ein paar Typen geführt. Einer hat mich gefragt, ob ich Angst vorm Tod habe. Ich habe gesagt, dass ich nicht mehr viel darüber nachdenke. Er meinte, ich sei dadurch sehr geeignet.«
»Geeignet wofür?«, fragt Flossie.
»Was die Einzelheiten anging, haben sie sich ziemlich bedeckt gehalten. Ich finde es irgendwie befreiend, gar nichts zu wissen. Sie haben was ganz Faszinierendes mit einem Blatt Papier gemacht. Wartet, ich zeig’s euch.« Digby drückt seine Zigarette aus, dann wühlt er in seiner Hosentasche und fördert ein zusammengefaltetes Blatt Papier zutage. Er faltet es auseinander und enthüllt einen Tintenfleck, der so aufeinandergedrückt worden ist, dass eine symmetrische Figur daraus entstanden ist. »Sagt mal, wie das eurer Meinung nach aussieht. Nicht lang überlegen.«
»Ein Herz?«, schlägt Flossie vor.
»Ich konnte mich nicht entscheiden«, sagt er. »Im ersten Moment hab ich einen Schmetterling gesehen. Aber wenn man es so herum dreht, sieht es aus wie ein Hund.«
»Und was bedeutet es, wenn man da einen Hund sieht?«, will Flossie wissen.
Digby schaut hinauf in den Himmel. »Ich kann dir keine Details verraten, Flossie. Aber der Grundgedanke ist es, den Nazis in Frankreich das Leben schwer zu machen.«
»Digs, wenn es ein Geheimnis ist, dann solltest du uns wirklich nichts davon erzählen«, sagt Cristabel, die sich zunehmend Sorgen macht.
»Crista, ich kann nur Französisch – dann werden sie mich eher nicht nach Griechenland schicken, oder?« Er setzt sich zwischen den beiden Frauen auf und schaut über das Tal hinweg auf den Ozean. »Als ich das letzte Mal in Frankreich war, haben wir in irgendeinem Wald ein verlassenes Haus gefunden. Groves und ich haben Wein bei Kerzenlicht getrunken.« Er macht seine Zigarettenschachtel auf und zündet sich noch eine an. »Jedes Mal, wenn ich aufs Meer schaue, muss ich an den lieben Groves denken. ›Sein Gebein wird zu Korallen.‹ Zigarette?«
»Du rauchst viel«, stellt Flossie mit einem Blick auf die Kippen neben ihm fest.
Cristabel mustert Digby genau. Sie sieht, wie sich sein Kiefer leicht bewegt, seine Finger gegeneinander tippen. Jetzt wird ihr klar, dass die fröhlichen Postkarten, die er ihr aus Nordafrika geschickt hat, nur wenig verraten. Strahlende, tapfere Gesichter. Unter seinem bewusst lässigen Ton nimmt sie die nervöse Aufgeregtheit in seinem Inneren wahr, wie von einer Fliege, die in einem Glas gefangen ist. Er scheint ihren Blick nicht lange erwidern zu können. Wenn er noch ein kleiner Junge wäre, würde sie den Arm um ihn legen, aber er ist jetzt einundzwanzig Jahre alt, ein junger Mann, der fast sein ganzes Erwachsenenleben im Krieg verbracht hat, und seine geduckten Schultern verraten ihr, dass er gar nicht beruhigt oder getröstet werden will, sosehr sie sich auch wünscht, ihn zu trösten. Sie kratzt sich die Haut neben ihrem Gips und erwägt eine neue Taktik.
»Tut mir wirklich leid um Groves«, sagt sie. »Der Krieg kann grausam sein.«
»Wenn man Freunde verliert, ist das mehr als grausam«, sagt Digby.
»Leute zu verlieren gehört leider zum Leben dazu«, erwidert Cristabel und bereut unmittelbar danach den pastorenhaften Ton ihrer Stimme.
Flossie sagt still: »Das heißt noch lange nicht, dass man aufhört, sie gernzuhaben.«
»Das habe ich ja auch nicht gesagt«, erwidert Cristabel, und es klingt wütender als beabsichtigt. Man spürt eine gewisse Anspannung, gewisse Entfernungen und Anforderungen, die sie und ihren Bruder in verschiedene Richtungen ziehen.
Digby sagt: »Meinst du, ich weiß nichts vom Krieg, Crista? Oder meinst du, ich schaffe es nicht ohne dich?« Es liegt eine gläserne Schärfe in seiner Stimme, die sie noch nie gehört hat.
»Ich meine nichts dergleichen«, antwortet sie. »Ich weiß sehr gut, wie tapfer du bist.« Seltsam – ihr wird erst jetzt klar, dass sie zwar weiß, wie tapfer er ist, es ihm aber nie gesagt hat. Vielleicht hat sie es sich nicht mal selbst eingestehen können. Sie konnte es nicht riskieren, dass er sich nicht auf sie verließ. Aber er hat nie gezögert, nicht mal als Kleinkind, er ist ihr immer mutig in Brombeergestrüppe und eiskalte Ströme gefolgt.
»Wirklich?«, fragt er.
»Wirklich«, sagt sie, und es ist wie ein Loslassen.
Er schaut sie an und ist einen Moment lang vollkommen präsent, aber dann ist er wieder weg, fummelt an seinem Feuerzeug herum, lässt eine Flamme aufspringen und wieder ersterben. »Ich bin ein guter Soldat. Wirklich. Am Anfang war es, damit Vater sieht, dass ich es kann, aber jetzt ist es für meine Männer. Ich kann sie nicht enttäuschen.«
»Das wirst du sicher nicht«, sagt Flossie.
»Als ich mein Vorstellungsgespräch im Verteidigungsministerium hatte, haben sie mich gefragt, ob ich mich noch mal umdrehen und zurückschauen würde, wenn sie mich wegschicken. Daran merkt man schon, in welche Richtung sie denken. Sie wollen keine abgelenkten Kerle.«
»Was hast du geantwortet?«, fragt Cristabel.
»Ich hab gesagt, dass ich gar nicht zurückschauen will .«
»Na, das ist ja auch schon was«, sagt Flossie.
»Dann freuen wir uns einfach darauf«, sagt Cristabel und deutet ungeschickt mit ihrem Gipsarm auf Chilcombe. »Auf den nächsten Sommer, wenn du einen Orden bekommen hast, Digby, und wir den Krieg gewonnen haben und wir den Sturm aufführen und du den Prospero spielst.«
Digby lacht. »Hitler kann den Prospero viel besser spielen als ich. Was in der Welt gerade passiert, ist einzig und allein seinem Kopf entsprungen. Was für eine Macht!«
»Gut, dann führen wir eben Was ihr wollt auf«, sagt Cristabel.
»Ich muss ganz viel drüber nachdenken«, sagt Digby. »Über die Tatsache, dass das alles der Traum von jemand anders ist. Ist auch eine perfekte Erklärung dafür, warum nichts davon einem real vorkommt.«
Cristabel legt ihm eine Hand auf den Arm. »Hamlet , Digs. Den hatten wir noch nie. Wir könnten heute Abend aufs Dach klettern und die Besetzung besprechen.«
Digby atmet eine Rauchwolke aus. »Wir haben doch alle Zeit der Welt.«
»Schaut«, sagt Flossie in diesem Moment. »Mr Brewer blinkt schon mit der Taschenlampe, das ist das Zeichen, dass das Abendessen fertig ist.«
»Prima«, sagt Digby und steht auf. »Ich bin schon halb verhungert.«
Das Trio geht wieder zurück ins Tal: Digby ganz vorne, hinter ihm Flossie und Cristabel. Die untergehende Sonne zu ihrer Rechten glüht rosarot, während sie hinter der Hügelkette versinkt. Sobald die Sonne verschwunden ist, wird die Luft kälter, und die Welt ist gleich ein paar Abstufungen weniger herrlich. Zu ihrer Linken geht über den Feldern ein fast voller Mond an einem blassen Himmel auf.