Ein nüchterner Kannibale

Dezember 1942

Der Oktober sinkt in den November sinkt in den Dezember. Die Tage schrumpfen. Die Sonne gibt sich kaum noch Mühe. Der graue Himmel senkt sich auf die Erde herab, bis nur noch eine enge Lücke dazwischen bleibt. Die Menschen huschen umher, nah am Boden, ganz in sich selbst verschlossen. Es ist nicht mehr viel Raum für anderes.

Cristabel wandert über die Klippen. Der kalte Wind peitscht ihren Mantel hoch, während unter ihr die Wellen donnern und krachen. Sie ist nach Dorset zurückgekommen, um dort ein paar Urlaubstage zu verbringen, aber es fällt ihr schwer, im Haus zu bleiben. Sie schreitet den verlassenen Küstenpfad bis Ceal Head entlang, das Kinn auf die Brust gedrückt, die Hände in die Taschen geschoben: eine vereinzelte Spaziergängerin unter einem herabsinkenden Baldachin aus Wolken.

Sie hat seit über zwei Monaten nichts mehr von Digby gehört, was bedeutet, dass er wahrscheinlich ins besetzte Frankreich geschickt worden ist. Sein vorgesetzter Offizier hat ihr in einem Brief versichert, dass alles gut sei, aber er klingt so sehr nach Musterbrief, dass sie überzeugt ist, den richtigen Verdacht zu haben. Cristabel trägt den Gedanken an Digby, wie er irgendwo undercover arbeitet, überall mit sich. Es macht sie stumm und angespannt. Sie kann sich einfach nicht an diese Vorstellung gewöhnen. Stattdessen wird der Gedanke immer aufwühlender, immer unangenehmer – wie ein sperriges, zappelndes Kind, das in ihren Armen immer schwerer wird. Was, wenn sein Französisch doch nicht gut genug ist? Was, wenn er dem falschen Menschen vertraut? Was, wenn die Deutschen ihn enttarnen, einen britischen Agenten hinter den Feindeslinien – und an dieser Stelle schalten ihre Gedanken jedes Mal ab.

Es ist später Nachmittag. Das Tageslicht ist verblichen. Regen beginnt vom Meer herüberzuwehen. Cristabel starrt auf ihre Walknochen, während sie am Rand der kabbeligen Wellen steht, wie König Knut, der versucht, über die Gezeiten zu befehlen. Dann geht sie steifbeinig durch die Pfützen nach Hause und zieht sich in ihren Adlerhorst auf dem Dachboden zurück, um zu grübeln.

Betty erscheint kurz, um das magere Feuer anzuschüren und ihr Tee anzubieten, aber Cristabel will keinen Tee. Sie will überhaupt nichts. Sie kann sich nicht mal dazu aufraffen, eine Lampe anzuschalten. Sie zieht ihren Schlafanzug an, dann liegt sie stocksteif auf ihrem schmalen Bett und lauscht dem Regen, der aufs Dach prasselt.

Sie redet sich ein, dass sie Digby nicht rekrutiert hätten, wenn er dieser Aufgabe nicht gewachsen wäre, aber sie hat beim Militär mittlerweile genug gesehen, um zu wissen, dass das nicht immer stimmt. Perry hat einmal gesagt, dass es eine Frage der Zahlen sein wird. Sie schaut durchs Zimmer auf Flossies Bett, das jetzt mit Cristabels Seesack und ihren Sachen bedeckt ist. Sie stellt sich vor, wie Flossie auf einer Pritsche in ihrem Landarbeiterinnenquartier in Dorchester liegt und Digby sich auf einem französischen Bauernhof versteckt. Und über ihnen allen gehen Regengüsse nieder. Sie vergräbt ihr Gesicht im Kissen.

Mitten in der Nacht wacht sie auf, ohne zu wissen, warum. Draußen gibt es nichts als Wind und Regen. Dann prasseln auf einmal lauter kleine Kiesel ans Dachbodenfenster. Cristabel hebt den Kopf. Wieder trifft eine Handvoll Kiesel auf die Scheibe. Unverkennbar – eine gezielte Aufforderung. Rasch wirft sie die Decke zurück, geht zum Fenster und macht es auf.

Sie lehnt sich hinaus und späht hinunter in die Dunkelheit, die durch die silbrigen Spuren der Regentropfen wie gestreift wirkt. Auf dem Rasen vorm Haus steht eine dunkelhaarige Gestalt in einem grauen Militärmantel, die zu ihr hochschaut und sich dabei eine Hand zum Schutz über die Augen hält. Im Zischen des Regens, im Tumult des Windes in den Bäumen, beim Überlaufen all dessen, was sie in ihrem Herzen trägt, glaubt sie einen Atemzug lang, dass ihr Bruder zurückgekehrt sei. Doch dann hebt er die andere Hand und salutiert sarkastisch, und er ist auch größer und breiter. Leon.

Sie atmet aus und schaut ihn an, wie er sie anschaut. Sie hebt die eigene Hand an die Stirn, um einen Gruß anzudeuten, deutet dann in den hinteren Teil des Hauses, und dann wendet sie sich ab, um ihren karierten Morgenmantel anzuziehen, der hinter ihr herflattert wie ein Umhang, als sie die Treppe hinuntergeht. Sie tapst in ihren Bettsocken durchs Haus, eilt durch die Korridore in die Küche, wo sie die Hintertür entriegelt, aufsperrt und aufzieht. Und schon ist er drinnen und schüttelt die Regentropfen aus seinem schwarzen Haar wie ein nasser Hund.

»Hast du was zu essen?«, fragt er mit seinem seltsamen Akzent. »Ich hab Hunger.«

»Warum bist du hierhergekommen?«

»Brot. Ich sehe Brot. Gibt’s auch Käse?«

»Lass das jetzt. Warum bist du hierhergekommen?«

»Ich komme, um eine Bestellung für Colonel Drake abzuholen. Bill liefert gewisse Artikel, die er für Weihnachten braucht: einen Fasan, glaube ich, und Wein und so was. Ich hatte einen Platten und hab mich deswegen verspätet. Wo würde Bill solche Sachen lagern? Ich wette, das Zeug würde besser schmecken als dieses trockene Brot.«

»Ich habe keine Ahnung, wo Bill seine Sachen lagert.«

»Oh doch, das weißt du sehr wohl, Cristabel Seagrave. In diesem Haus kennst du dich bestens aus, deswegen weißt du auch, wo alles ist. Colonel Drake wird es nicht stören, wenn wir ein bisschen von seinem Essen abzweigen. Komm, wir machen uns ein – wie nennt ihr das noch? Ein mitternächtliches Festmahl.«

Sie mustern einander. Grinsend nagt er an einem Brotbrocken. Er ist bis auf die Haut durchnässt vom Regen, unrasiert, und seine Uniform ist völlig aus der Form geraten: der Mantelkragen steht auf der einen Seite hoch, das Hemd ist am Hals geöffnet, die Stiefel sind nur lose geschnürt. Er hat sich eine feuchte Zigarette hinters Ohr gesteckt, und um den Hals trägt er einen gestreiften Strickschal in überraschenden Farben: Gelb, Rosa, Grün.

»Ja, ich weiß es«, gibt sie zu. »Im Weinkeller.«

Er verschwindet. Cristabel hört das gereizte Miauen einer aufgescheuchten Katze, die sich aber gleich wieder beruhigt, als Leon ihr etwas auf Russisch zumurmelt. Als er wieder auftaucht, hat er eine Schweinefleischpastete und eine Flasche Wein dabei. »Gibt’s auf deinem Dachboden auch einen Kamin?«

»Ja, aber …«

»Komm schon. Hier ist es eiskalt. Wir gehen hoch. Wie als Kinder, hm?«

Sie schüttelt den Kopf, aber greift sich Blechtassen und zwei Äpfel, zwängt sie in die Taschen ihres Morgenmantels und folgt ihm über die Treppe nach oben. »Du hinterlässt überall Schlammspuren«, bemerkt sie.

»Das ist dir doch egal.«

»Vielleicht nicht.«

»Völlig egal. Was hast du da eigentlich an, Cristabel?«

»Das ist der Morgenmantel meines Großvaters. Erfüllt immer noch seinen Zweck. Hast du dir den Schal selbst gestrickt?«

»Eine freundliche alte Dame hat ihn mir in einem Café geschenkt.«

»Hat sie dich mit einem richtigen Soldaten verwechselt?«

»Sie fand mich bezaubernd. Warum ist es hier so dunkel? Habt ihr kein elektrisches Licht?«

»Nur manchmal. Woher wusstest du, dass ich auf dem Dachboden war?«

»Bill hat mir erzählt, dass Flossie jetzt auf einem Hof mit Schweinen arbeitet oder so.«

»Sie ist bei den Landarbeiterinnen.«

»Und Digby ist nicht da. Also konntest es nur du sein.«

»Warum hast du Steinchen geworfen? Du hättest doch auch an die Tür klopfen können.«

»Ist doch romantischer. Wie bei Romeo.«

»Das ist überhaupt nicht so wie bei Romeo. Der schmeißt keine Steinchen.«

»Hatte ich vergessen«, sagt Leon, als sie auf dem Dachboden ankommen, wo er die Tür mit einem Fuß aufstößt, weil er beide Hände voll hat. Er späht in den dunklen Dachbodenflur, schaut an die schräge Decke und sagt: »Das Dach ist niedriger.«

»Du bist größer geworden«, sagt Cristabel, und sie hat recht. Groß und breitschultrig wie ein Schwimmer, aber immer noch eine Spur von der Magerkeit eines Jugendlichen. Damals, als sie noch jünger waren, lief er fast immer mit nacktem Oberkörper herum, mit ausgeblichenen Shorts, die ihm gerade noch auf den Hüften hingen, einer gestohlenen Zigarette im Mundwinkel und einem Blick aus zusammengekniffenen Augen. Ein langhaariger Gossenjunge. Gerissenes Schlitzohr. Auf einmal sieht sie den jungen Leon wieder ganz deutlich vor sich, wie er zu einem Baum auf Ceal Head hochschaute, bei dem er ein Seil über einen hohen Ast geworfen hatte, um eine Schaukel zu machen, die hoch übers Meer flog. Sie weiß noch, wie er zum Baum hochschaute, so wie er jetzt an die Decke schaut, und dann probeweise am Seil riss und es ihr in die Hand drückte für den ersten Flug.

Cristabel geht an ihm vorbei ins Schlafzimmer der Mädchen und zündet die Öllampe an. Leon folgt ihr und legt die Gegenstände, die er in der Hand hatte, auf Flossies Bett. Er zieht seinen Mantel und Schal aus, dann setzt er sich aufs Bett, um sich die Stiefel von den Füßen zu ziehen. Sein Blick fällt auf ein halb fertiges Puzzle auf dem Nachttisch.

»Das ist von Flossie«, sagt Cristabel. »Ich hasse Puzzles.«

»Das weiß ich noch. Früher hast du die Teile immer mit der Schere zurechtgeschnitten, damit sie zusammenpassten.« Nachdem er sich die Stiefel ausgezogen hat, unter denen häufig gestopfte Socken zum Vorschein gekommen sind, wirft Leon Cristabel eine Schachtel Lucky Strike zu. Sie sitzt auf ihrem Bett, nimmt sich eine Zigarette heraus und schaut zu, wie er den Wein mithilfe eines beneidenswerten Taschenmessers aufmacht, das ganz viele nützliche Extras hat. Als sie ihm die Becher reicht, damit er ihnen Wein einschenkt, fällt ihr auf, dass seine Fingerknöchel ganz aufgeschürft sind und er eine neue Narbe an einem seiner Handgelenke hat.

Er reicht ihr eine Tasse, dann steht er auf, um mit dem Schürhaken im Feuer zu stochern, bis die Flammen wieder aufflackern. Anschließend breitet er eine Decke auf dem Boden aus, die ihnen als Unterlage für ihr Picknick dienen soll, und lässt sich vor dem Kamin nieder, um die Pastete anzuschneiden. In seinen Bewegungen liegt ein routiniertes Geschick, das einem das Gefühl gibt, es mit jemandem zu tun zu haben, der geübt darin ist, ein Lager zu bereiten.

Er bemerkt das Papptheater auf dem Boden und zieht es zu sich heran. »Spielst du etwa noch damit?«

»Ich spiele nicht damit. Ich benutze es als Modell, wenn ich Inszenierungen plane.«

Leon schiebt den Papierhintergrund – weiße Wolken auf einem blauen Himmel – vorsichtig heraus und betrachtet ihn. »Steht dein Theater eigentlich noch?«

»Natürlich«, sagt sie. »Obwohl sich im Moment eher Gemüse darin aufhält als ein Publikum.«

Er lächelt und schiebt den Hintergrund wieder hinein. »Freut mich, dass es noch da ist. Es hat mich damals fast umgebracht, diese Knochen vom Strand hochzuschleppen.«

»Es ist ganz gut, aber es könnte besser sein.«

»Inwiefern – besser?«

Sie klettert vom Bett, setzt sich neben ihn auf die Decke und zieht das Papptheater zu sich heran. »Das Publikum sitzt auf einer einzigen Ebene.« Sie legt die zwei Äpfel hinein, um Zuschauer zu simulieren. »Sobald du hinter jemandem sitzt, der einen großen Hut aufhat, ist dein Blickfeld komplett eingeschränkt.«

»Dann heb sie doch an«, sagt er.

»Was meinst du?«

»Wie in einem römischen Amphitheater. Heb die Zuschauer an, damit sie mehr sehen.« Er zieht sich ein Kissen vom Bett und legt einen Apfel darauf. »In Nîmes gibt es so ein Amphitheater. Wir sind da immer zu Stierkämpfen hingegangen.«

»Ich wusste gar nicht, dass in Frankreich Stierkämpfe abgehalten werden.«

»Nur im Süden. Vielleicht jetzt grade nicht, nachdem die Nazis einmarschiert sind.«

»Das ist wahrscheinlich die Art von Unterhaltung, die sie mögen«, erwidert Cristabel. »Ich hatte mir auch schon überlegt, ob ich die Sitze erhöhen soll, aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte.«

»Steine vom Strand. Sand. Material hast du doch. Jetzt brauchst du nur noch einen Spaten und eine Schubkarre. Bau es einfach.«

»Wäre es denn haltbar, wenn ich Sand zum Bauen nehme?«

»Ich glaub schon. Wenn du eine Mischung aus Sand und Steinen nimmst«, sagt er und legt noch einen Apfel aufs Kissen. »Ich könnte es für dich bauen, wenn ich nicht Fasane für Colonel Drake abholen müsste. Ich habe schon immer gerne gebaut.« Er tippt auf die Äpfel. »Diese Leute haben den besten Blick. Die bezahlen am meisten.«

»Wolltest du mal Sachen bauen?«, fragt sie. »Ich meine, als du jünger warst.«

»Ich bin nie gefragt worden, was ich werden wollte. Ich bin ausgerissen, um zur See zu fahren, dann hat mich Colonel Drake aufgenommen, und jetzt hole ich für ihn Fasane ab.« Er nimmt sich einen der Äpfel und beißt hinein.

Cristabel überlegt kurz, dann deutet sie auf seine aufgeschürften Knöchel. »Du holst nicht nur Fasane ab.«

Er lacht. »Nein. Manchmal hol ich auch Leute ab.«

»Von wo?«

»Von Stränden meistens. Spätnachts. Manchmal gehen sie freiwillig mit. Manchmal nicht.«

»Muss Digby auch so was machen? Perry hat irgendwas für ihn organisiert.«

»Nein, Digby ist Offizier. Und spricht gut Französisch. Der sitzt wahrscheinlich gerade in einem französischen Schloss. Keiner will mich mit irgendjemand reden lassen. Mein Akzent klingt zu russisch. Jeder hat Angst vor den Russen.« Er sagt das mit einer gewissen Befriedigung.

»Weißt du, ob Digby in Frankreich ist?«, fragt sie. »Hat Perry mit dir darüber gesprochen?«

Leon isst seinen Apfel. »Colonel Drake weiß, dass ich nie zuhöre.«

Sie stupst ihn mit dem Ellbogen an. »Jetzt sag schon.«

»Ich halte es für wahrscheinlich«, sagt er schließlich.

»Digbys Französisch ist gut, aber nicht perfekt«, sagt sie. »Ich wünschte, ich wäre stattdessen dort.«

»Vielleicht wirst du ja noch hinkommen. In letzter Zeit höre ich immer wieder von weiblichen Agenten. Langsam gehen ihnen nämlich die Männer aus.«

»Sie schicken Frauen nach Frankreich?«

»Es ist einfacher für Frauen. Ein junger Mann erweckt bei den Deutschen sofort Aufmerksamkeit. Eine junge Frau? Wenn sie lächelt und winkt, kann sie einfach weitergehen.«

»Könnte ich dorthin?«, fragt Cristabel. »Würden sie mich hinschicken?«

»Da musst du mit Colonel Drake sprechen. Ich bin bloß der Fasanenabholer.« Er steht auf und beginnt Flossies Bett durchs Zimmer zu hieven und neben Cristabels zu schieben.

»Leon, was um Himmels willen machst du denn da?«

»Diese Betten hier sind Kinderbetten. Ich mache ein größeres«, sagt er und schiebt die beiden Betten zusammen, bevor er sich auf die Decken legt.

Cristabel runzelt die Stirn, doch dann klettert sie ins Bett neben ihn und stellt ihre Tasse auf den Nachttisch. »Wann siehst du Perry? Morgen?«

»Ich glaube schon.«

»Könntest du mich mitnehmen? Damit ich mit ihm reden kann.«

»Vielleicht«, sagt er und schließt die Augen. »Ich bin müde. Ich sag jetzt zu allem Ja.«

Sie legt sich hin, verschränkt die Arme und schaut an die Decke, wobei sie immer wieder einen Blick zu Leon hinüberwirft. In ihrem Kopf überschlagen sich die Gedanken, und sie stellt sich vor, wie sie mit Perry sprechen und ihn überreden wird, sie nach Frankreich gehen zu lassen. Sie kaut auf ihrer Unterlippe. Und sie kann nicht aufhören, ihre Füße zu bewegen.

Wieder schaut sie zu Leon, dessen langer Körper neben ihrem ausgestreckt liegt. Sie ist noch nie zuvor mit einem Mann allein im Haus gewesen. Sein Hemd ist ihm auf einer Seite aus der Hose gerutscht und hat ein Stück Haut entblößt. Nach einer Weile sagt sie: »Hast du eigentlich mal Moby Dick gelesen?«

»Ich bin ungebildet. Ich lese nichts.«

»Solltest du aber. Es würde dir gefallen.«

»Dann erzähl es mir doch. Als Gutenachtgeschichte.«

»Also. Es fängt mit einer Szene an, in der der Walfänger Ishmael sich ein Bett mit einem tätowierten Wilden namens Queequeg teilen muss, der immer mit seinem Tomahawk schlafen geht.«

»Klingt nach einem interessanten Mann.«

»Sie treffen sich in einer Taverne und müssen sich zwangsweise ein Zimmer teilen«, sagt Cristabel. Dann fragt sie hastig: »Wolltest du nicht schlafen?«

Er macht die Augen wieder auf und dreht sich zu ihr. »Ich kann nicht. Da redet noch jemand.«

»Ich fühlte mich nur gerade an eine Szene in einem großen literarischen Werk erinnert und dachte mir, ich will dir davon erzählen.«

Er legt sich die Hände hinter den Kopf. »Und, was passiert in der Taverne?«

»Sie schlafen gemeinsam«, sagt sie nach einem Moment. »Ishmael sagt, lieber mit einem nüchternen Kannibalen im Bett schlafen als mit einem betrunkenen Christen.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass das so ein Buch sein würde«, antwortet er.

»Ist es ja auch nicht. Aber sie schlafen eben im selben Bett.«

»Passiert irgendwas zwischen den beiden?«

»Schwer zu sagen.«

»Vielleicht passiert es, wenn sie auf See sind«, meint Leon. »So ist das oft bei Matrosen.«

»Ishmael sagt tatsächlich, Queequeg habe seine Arme ›in liebevollster Weise über mich gelegt, man hätte meinen können, ich wäre seine Frau‹.«

Sie schauen sich einen Moment lang an, dann streckt Leon langsam die Hand nach ihr aus und beginnt, den Knoten an ihrem Morgenmantel zu lösen.

»Was machst du denn da?«, fragt sie.

»Das, worum du mich gerade gebeten hast«, erwidert er. »Was ist das hier, ein Kreuzknoten?«

»Ein doppelter Kreuzknoten.«

»Kann sein, dass ich den mit dem Messer aufschneiden muss.«

»Das wirst du ganz sicher nicht tun.«

Geschickt knotet er den Gürtel ihres Morgenmantels auf und legt ihren gestreiften Schlafanzug frei. »So«, sagt er. »Jetzt bist du befreit vom hässlichen Morgenmantel deines Großvaters. Du kannst ihn ausziehen.« Sie macht den Mund auf, doch Leon fällt ihr ins Wort: »Cristabel, wenn du willst, dass ich nach unten gehe und im Katzenkorb schlafe, dann mach ich das. Aber versuch nicht, mir weiszumachen, dass du dich aufheben willst für einen Ehemann oder so was, denn ich bin zu müde für große Reden.«

»Ich hebe mich nicht für einen Ehemann auf«, sagt sie. »Oder für sonst irgendjemand.«

»Solltest du auch nicht«, sagt er.

»Obwohl manche Männer Frauen vorziehen, die sich wirklich aufsparen. Nicht dass ich mich darum scheren würde.«

»Was meinst du, welche Art von Frauen ich vorziehe?«, fragt er.

»Keine Ahnung.«

»Ich hab dir viele Postkarten geschickt, Cristabel.«

»Von denen die meisten obszön waren.«

Er lacht. »Genau. Die waren herrlich komisch. Die eine aus Plymouth – kannst du dich noch an das Bild erinnern? Der kleine Ehemann und die dicke Ehefrau auf dem Klappstuhl.«

»Sie waren alle grässlich«, sagt sie lächelnd.

»Außerdem kann ich dich, wenn ich in London bin, zum Essen ausführen, wann immer du möchtest.«

»Essen, das von Perry bezahlt wird.«

»Ach, wen interessieren schon die Details.« Er legt den Kopf schief. »Bist du nervös?«

»Wie meinst du das – nervös?«

»Weil du einen Mann im Zimmer hast? Willst du mir deswegen Geschichten erzählen?«

Es ist eine Stichelei wie die, mit denen er sie in ihrer Kindheit geärgert hat, und sie merkt es sofort. Sie weiß, wie es von hier aus weitergeht. »Wie kannst du es wagen?«, sagt sie und setzt sich auf, um ihren Morgenmantel auszuziehen. »Sehe ich etwa nervös aus?« In dem Moment spürt sie eine Kühnheit in sich, die sie reizt, weiter zu gehen. Genauso wie damals, als sie ihre Handfläche über eine Kerzenflamme gehalten hat, fängt sie jetzt an, ihr Pyjama-Oberteil aufzuknöpfen.

Leon stützt sich auf, um sie zu beobachten. Dabei trägt er immer noch das übliche, kampflustige Halblächeln zur Schau, aber jetzt ist noch etwas anderes in seinen Augen, etwas Stilleres. Sein Lächeln ist seinem Blick untergeordnet, und den lässt er jetzt über sie schweifen, als sie ihr Oberteil auszieht. Das flackernde Licht des Feuers fällt auf ihren Oberkörper, und er streckt die Hand aus, um die Haut ihres Schlüsselbeins zu berühren, fährt mit den Fingern daran entlang.

»Frierst du?«, fragt er.

»Nein«, erwidert sie. »Du wirst auch nicht frieren. Allerdings hast du dein Hemd angelassen.«

»Stimmt«, sagt er und setzt sich auf, um es auszuziehen.

Jetzt sind sie zwei Gegner, die nackt sind bis zur Taille. Bei Leon zieht sich eine dunkle Linie Haare über den Brustkorb nach unten. Er hat einen violetten Bluterguss an den Rippen und eine fleckige Tätowierung auf dem Oberarm.

Cristabel deutet mit einem Nicken darauf. »Du bist wirklich ein Wilder. Was ist das?«

»Eine verlorene Wette in einer Bar in Danzig.«

»Nein, ich wollte wissen, was das darstellen soll.«

»Ein Schiff. Schau, hier sind die Segel. Und eine kleine Flagge. Brauchst du eine Brille?«

»Nein«, sagt sie und streckt die Hand aus, um es zu berühren. »Das sieht überhaupt nicht nach einer Flagge aus.«

»Was sieht überhaupt nicht nach einer Flagge aus?«

»Das hier.«

»Leg mal den Finger drauf, damit ich sicher sein kann, welchen Teil du meinst.«

Es entsteht eine Pause, wie zwischen zwei Boxern, die sich im Ring umkreisen. Sie fährt den Umriss des Schiffes nach, dann den tintenschwarzen Ozean, auf dem es dahinsegelt. Das Feuer wirft seine Schatten durchs Zimmer. Draußen fällt weiter der Regen. Dann macht Cristabel die erste Bewegung, beugt sich vor und zieht ihn an sich, bevor sie den Mut verliert.