Neue Rekruten

März 1943

Auf dem Rücksitz des Autos verschränkt Cristabel ihre Hände auf dem Schoß. Normalerweise ist sie nie nervös.

Sie trägt eine neue khakifarbene Uniform, die einer Mitarbeiterin in der First Aid Nursing Yeomanry – eine rein weibliche Truppe von Zivilisten, die ihr eine Ausbildung an der Waffe gestattet, wie man ihr versichert hat. Frauen im Militär ist es verboten, an Kampfhandlungen teilzunehmen, doch seltsamerweise gelten für Zivilistinnen weniger Einschränkungen. Sie sitzt in einem Zivilauto, einem riesigen Chrysler mit schwarzen Vorhängen vor den hinteren Fenstern, der sie zu einem Herrensitz in Surrey bringt, der als vorläufiges Ausbildungsquartier für Geheimagenten dient. Am Steuer sitzt eine junge Frau in der gleichen Uniform.

Cristabel weiß nicht, ob sie Konversation betreiben sollte. Die Absonderlichkeit, dass sie als Frau in Uniform in einem Auto sitzt, das von einer anderen Frau in Uniform gesteuert wird, hat das Gefühl verstärkt, das sie hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass Captain Potter sie für eine Ausbildung im Geheimdienst ausgewählt hatte: Sie fühlt sich, als wäre sie durch den Spiegel gestiegen. Es ist gleichermaßen aufregend und verwirrend, und sie fühlt sich außergewöhnlich hibbelig, als wäre es ein Premierenabend. Sie schaut auf die Hände in ihrem Schoß und vergewissert sich, dass ihre Fingernägel sauber sind.

Das Auto fährt langsamer und kommt ganz zum Stehen. Cristabel zieht den Vorhang zurück. Sie sind vor einem elisabethanischen Herrenhaus angekommen, das von Pinien umgeben ist. Seine steil abfallenden Dächer und die zahlreichen Schornsteine erinnern sie an Chilcombe, aber hier laufen uniformierte Personen herum, junge Männer und Frauen. Zum ersten Mal sieht sie die anderen neuen Rekruten. In dem Hotel, in dem sie sich mit Captain Potter getroffen hat, hat sie nur den Türsteher gesehen, der sie hereinließ, der Rest des Gebäudes war irritierend leer gewesen.

Sie nimmt ihr Gepäck von der Fahrerin in Empfang, die ihr in ernstem Ton viel Glück wünscht, dann geht sie zum Haupteingang, wo sie von einer Stabsoffizierin eingelassen wird, die ihren Namen kennt. An den Wänden des Korridors hängen Stundenpläne neben Landkarten, in denen Nadeln stecken. Cristabel geht automatisch auf die Haupttreppe zu, doch die Stabsoffizierin dirigiert sie durch einen Korridor zu einer schmalen Treppe im Hintergebäude, wo sie ihr erklärt, dass Cristabel sich ein Schlafzimmer im Obergeschoss mit einer anderen teilen wird. Ihre Zimmergenossin ist eine zierliche, dunkelhaarige Frau, die sich gerade mit Puderpapier die Nase abtupft. Als die beiden das Zimmer betreten, begrüßt sie Cristabel enthusiastisch mit einem Küsschen auf die Wange, rechts und links, wie in Frankreich, und sagt: »Willkommen im Irrenhaus! Ich bin dann in der Bar, wenn ihr fertig seid, meine Süßen.«

Cristabel packt die paar Dinge aus, die sie mitgebracht hat, stellt Sachmet auf ihren Nachttisch und wirft kurz einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie richtet sich zu ihrer vollen Größe auf und hebt das Kinn, holt tief Luft, versucht ein Lächeln und nickt.

Dann geht sie wieder nach unten, um die Bar zu suchen. Sie befindet sich in dem Raum, in dem Cristabel den ehemaligen Salon vermutet und der jetzt ein einziges Durcheinander von verschiedenen Tischen, Lehnstühlen und einer provisorischen Bar in der Ecke ist. Dahinter steht die zierliche Frau und schenkt für sie beide einen Dubonnet mit Bitter Lemon ein. Sie ruft: »Bonjour, chérie!« , als Cristabel das Zimmer betritt. Mehrere Zeitung lesende Männer in Uniform blicken auf, um den Neuankömmling neugierig zu betrachten.

»Ist es nicht ein bisschen früh für Alkohol?«, fragt Cristabel. Es ist zehn Uhr morgens.

»Hier ist die Bar den ganzen Tag geöffnet. Das bedeutet, alle mit einem etwas zu kühnen Geschmack für Alkohol können schnell aussortiert werden«, erwidert die Frau. »Angeblich mögen sie es nicht, wenn ihre Mädels trinken, aber was sie wirklich meinen, ist: Sie mögen es nicht, wenn ihre Mädels sie unter den Tisch trinken.« Ihr Akzent ist eine fröhliche Mischung aus Französisch und Cockney.

»Fang nicht wieder damit an, Sophie!«, stöhnt einer der Männer. »Ich hab mich noch immer nicht von gestern Abend erholt.«

Sophie zwinkert Cristabel zu und drückt ihr das Glas in die Hand. »Auf dich, Süße. Ich bin Sophie Leray. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich hoffe, du kannst was vertragen.«

Es gibt zwölf neue Rekruten, zwei Frauen und zehn Männer, und sie werden zusammen ausgebildet. Während die Ausbildung bei der WAAF in einer einzigen Serie unablässig wiederholter Übungen bestanden hatte, ist die Ausbildung auf dem Herrenhaus in Surrey seltsamerweise so, als wäre man zu Gast auf einem Landsitz, mit Gruppenaktivitäten, die durch regelmäßige Mahlzeiten unterbrochen werden.

Der Tag beginnt mit einem frühmorgendlichen Gewaltmarsch, bei dem die Frauen geborgte Kampfanzüge tragen, dann folgt ein warmes Frühstück. Anschließend bekommen sie Unterricht in Codierung, bauen Meccano-Modellfahrzeuge zusammen oder spielen Memory-Varianten, bei denen Gegenstände auf einem Tablett mit einem Tuch abgedeckt werden und dann einer nach dem anderen entfernt wird. Nach dem Mittagessen werfen sie Handgranaten in einen nahe gelegenen Kalksteinbruch oder schwimmen in einem kühlen Pool unter den Pinien. Am Abend essen sie in voller Uniform, dann gehen sie zu Fuß ins Nachbardorf, um den Pub zu besuchen, in dem sie von den Dorfbewohnern neugierig beäugt werden.

»Das haben sie uns nicht in der Schule beigebracht«, flüstert Sophie eines Morgens, als sie sich mit dem Morsealphabet beschäftigen.

»Ich bin gar nicht in die Schule gegangen«, erwidert Cristabel, deren Gehirn überquillt von den ganzen Punkten und Strichen des Morsecodes.

»Da hast du nichts verpasst«, gibt Sophie zurück.

Manche Elemente der Ausbildung meistert Cristabel mühelos – zum Beispiel, auf einen Baum zu klettern und sich wieder abzuseilen, während Sophie unten steht und ihr zuruft: »Du liebe Güte, bist du im Dschungel aufgewachsen?« Da sie schon auf die Jagd gegangen ist, ist sie vertraut mit Gewehren, wobei ihr Pistolen neu sind. Sie zu zerlegen und wieder neu zusammenzusetzen, ist eine Übung, die sie genießt. Aber es gibt auch Lektionen, die sie stärker fordern.

Eines Morgens werden sie auf den Rasen hinausgerufen, wo Matten auf dem Gras ausgelegt sind. Zwei von den vorgesetzten Offizieren sind schon dort, mit nacktem Oberkörper wie die alten Griechen und den Armen auf dem Rücken. Der zuständige Trainer, ein muskulöser Mann mit einem Lancaster-Akzent, verschwendet keine Zeit und erklärt den Rekruten, dass sie gut aufpassen müssen, denn was sie jetzt gleich lernen werden, könnte ihnen irgendwann mal das Leben retten.

An den zwei halb nackten Männern demonstriert der Trainer schnell eine ganze Reihe von Ringergriffen. Wie man das Gewicht eines Gegners gegen ihn einsetzt, wie man ihn zu Boden wirft. Er packt einen der Männer und schleudert ihn herum, sodass er mit einem dumpfen Geräusch auf dem Rücken landet.

»Wer will als Nächstes?«, fragt er. »Na, Mädels, wie wär’s mit einer von euch? Ich hab gehört, ihr wollt gerne gegen die Nazis kämpfen.«

»Die meisten Männer laden mich erst auf einen Drink ein, bevor sie um einen Ringkampf bitten«, sagt Sophie.

»Die meisten Frauen wissen, dass sie keinen Krieg führen können«, sagt der Trainer und rollt mit den Augen. »Hitler wird sich nicht die Zeit nehmen, sich eure Ausreden anzuhören, genauso wenig wie ich.«

Cristabel tritt vor auf die Matte. »Also gut.«

Sie hört, wie einer von den männlichen Rekruten sagt: »Nehmen Sie sie nicht so hart ran, okay?« Also fügt sie laut hinzu: »Aber nehmen Sie mich ruhig hart ran.«

Der Trainer lacht, dann nähert er sich in geduckter Haltung mit ausgestreckten Armen. Cristabel, die sich furchtbar geniert, versucht, ihn nachzuahmen, doch während sie noch versucht, seine Fußarbeit genau zu analysieren, schlägt er ihr die Beine unter dem Körper weg und legt sie auf die Matte mit einem Krachen, das ihr die Luft aus den Lungen drückt. Als er auf sie herabschaut, sagt er: »Sie sind eben eine Lange. Haben einen weiten Weg beim Fallen.«

Einer der vorgesetzten Offiziere zieht Cristabel wieder hoch, und sie will gerade von der Matte gehen, doch der Trainer hält sie fest. »Versuchen Sie es noch mal mit ihm«, sagt er und zeigt auf den Offizier. »Diesmal tiefer ducken. Wir haben einen Krieg zu gewinnen, meine Damen.«

Schwer atmend bemerkt Cristabel, dass sie die Zähne knirschend zusammenbeißt. Sie duckt sich und streckt die Arme vor. Der übungsleitende Offizier kommt auf sie zu und packt sie bei den Schultern. »Pack mich«, zischt er ihr zu. Also packt sie ihn ebenfalls bei den Schultern, gräbt ihre Hände in seine nackte Haut. Sein Gesicht ist ganz nah an ihrem, seine Augen sind ernst. Er macht jähe Bewegungen, stößt oder zieht sie nach hinten oder nach vorn. Einmal hakt er ein Bein hinter ihres, doch sie kann sich mit Tritten befreien. Da sie keine Techniken kennt, versucht sie, ihn anzurempeln, ihn auf den Boden zu werfen. Er wird zwar ein paar Schritte zurückgeschlagen, aber erholt sich rasch, und dann wird sie selbst wieder zu Boden geschleudert. Diesmal hält der Offizier sie auf der Matte fest, indem er ihr seinen Ellbogen gegen die Kehle drückt. »Tut mir leid«, flüstert er ihr zu. Sie spürt, wie er atmet, wie sich seine Rippen an ihrem Brustkorb bewegen.

»Ist das alles, Miss?«, fragt der Trainer und schaut auf sie herunter.

Der Offizier hebt seinen Ellbogen, damit sie sprechen kann: »Nein, Sir«, sagt sie.

Der Trainer lächelt. »Das ist der richtige Geist.«

Am Abend sitzt Cristabel in der Badewanne und begutachtet die Blutergüsse an ihren Hüften und die Kratzer an ihren Ellbogen. Sie ist zwar immer besser geworden, weil sie mit den Techniken vertrauter wurde, aber trotzdem wurde sie mit Regelmäßigkeit überrumpelt. Die männlichen Rekruten waren schneller bereit, sich in den Kampf zu stürzen, sie schienen keine Skrupel zu haben, handgreiflich zu werden und sich ineinander verwickelt auf dem Boden herumzuwälzen. Die meisten von ihnen hatten das vermutlich in der Schule gelernt. Schon als kleine Jungs hatten sie wohl miteinander gerungen, Rugby gespielt und waren mit den Körpern anderer vertraut geworden. Ihr hatte man beigebracht, sich abseitszuhalten. Fass das nicht an. Finger weg. Wo sind deine Handschuhe?

Sie mustert ihre Hände. Sie könnte die Zahl der Menschen, die sie in ihrem Leben berührt hat, an den Fingern einer Hand abzählen. Digby und Flossie. Leon. Maudie und das Kindermädchen, das sich um sie gekümmert hat, als sie noch ein Baby war. Sie weiß nicht, ob ihre Mutter sie überhaupt jemals im Arm hatte. Und falls sie es getan hatte, könnte sie sich auch nicht erinnern. Und jetzt: die schweißnassen Schultern eines vorgesetzten Offiziers, die muskulösen Arme des Trainers (»Ordentlich ins Fleisch greifen, Mädel!«), die Hüften, Rücken, Hälse und Beine ihrer Mitschüler. Sophie musste einen Arm um sie legen, als sie erschöpft zurück zum Haus gingen.

Auf ihrem Oberarm kann sie eine Reihe von roten Abdrücken sehen, die die Finger eines ihrer Gegner hinterlassen haben, wie eine Serie von blutigen Fingerabdrücken.

Die Trainer und Offiziere im Haus sind vom vertrauten Typus – entweder kurz angebundene Militärs oder aalglatte ehemalige Eton-Zöglinge –, unter den Schülern dagegen gibt es mehr Unterschiede. Sie sind Briten, Franzosen, Tschechen, Belgier, Mauritier, Kanadier oder eine Kombination davon. Nur ein paar von ihnen haben militärische Erfahrung, der Rest ist wegen seiner sprachlichen Fähigkeiten oder irgendwelchen anderen tollen Eigenschaften ausgewählt worden, die Captain Potter in ihnen gesehen hat. Darunter sind ein Journalist, ein Lehrer, ein Rennfahrer und ein Akrobat. Sophie hat einen französischen Vater und eine englische Mutter und hat im Bekleidungsgeschäft ihres Vaters in Hackney gearbeitet, bis sie ein Inserat in einer Zeitung las, in dem nach zweisprachigen Sekretärinnen gesucht wurde.

Das Wesen ihrer Arbeit, das, wozu sie ausgebildet werden, ist wenig greifbar, und die Gespräche zwischen den Ausbildern, die Cristabel in der Bar belauscht, sind so vage gehalten, dass sie fast vermutet, es ist Absicht – dass auf dieser Seite des Spiegels eben ein absichtliches Verwischen genauerer Angaben üblich ist. Diese Atmosphäre von Verschwiegenheit ist ansteckend. Obwohl Cristabel oft überlegt, ob Digby wohl auch durch dieses Haus gegangen ist, fragt sie nie nach ihm. Sie spürt, wie wichtig es ist, dass sie sich auf die unmittelbaren Aufgaben konzentriert. Sie schiebt alle Gedanken an Digby in den hintersten Winkel ihrer Gedanken, die sie dann um drei Uhr morgens hervorholt, um darüber nachzugrübeln.

Sie hat den Eindruck, dass die Rolle der Rekruten ein Rätsel ist, von dem sie ein Teil sind und es zugleich zu lösen versuchen. Sie muss an Filmszenen denken, in denen ein Detektiv sämtliche Gäste einer Feier zusammenruft, um ihnen mitzuteilen, dass er in einem Mordfall ermittelt und der Mörder immer noch unter ihnen ist. Die bewusste Leichtigkeit in den Reaktionen der Gäste – du lieber Himmel, das ist doch unmöglich  – und wie sie einander beobachten.

Im Laufe der Wochen entdeckt sie Schritt für Schritt, dass die Organisation, für die sie jetzt arbeitet, eine neue Unternehmung ist, die gegründet wurde, um Agenten in besetzte Länder einzuschleusen. Die französische Abteilung wird von einem Mann namens Colonel Buckmaster geleitet. Sie lernt ihn eines Tages kurz kennen, als er das Herrenhaus besucht. Er ist so blass und unauffällig wie Perry und murmelt vor sich hin, mit dem Auftreten von jemandem, der sich ständig durch Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit belästigt sieht.

Die Organisation ist versteckt unter einer Vernebelung ähnlich unauffälliger Pseudonyme: das Institut für Verwaltung und Vermittlung, das Vereinte Technikgremium. Sein offizieller Name lautet Spezialagenten-Kommando, SAK , was für »Schlossartige Anwesen im Königreich« stehen könnte, wie manche humorvolle Ausbilder im Scherz vorschlagen, weil die Organisation so häufig Herrensitze für ihre Zwecke benutzt. Aber meistens wird sie einfach nur »die Org« genannt. Sie steht neben den normalen Militäreinheiten und den etablierten Geheimdiensten und wird wie die meisten ungeprüften Neuankömmlinge als ein etwas amateurhaftes Wagnis betrachtet, nicht zuletzt, weil sie bereit ist, Zivilisten als Agenten einzusetzen, und weil einige davon sogar Frauen sind.

Ein paar von den Ausbildern scheint die Anwesenheit der Rekrutinnen ein besonderer Dorn im Auge zu sein, und sie machen ihren Gefühlen Luft durch sarkastische Bemerkungen oder Witze auf Kosten der Frauen, vor allem nach ein paar Runden im Pub.

»Sie glauben, wenn Frauen dabei sind, verderben wir ihnen den Spaß«, sagt Sophie, die gerade ihre Drinks an einen Tisch trägt und die Bemerkungen ignoriert, die ihr von zwei Ausbildern an der Bar zugerufen werden. »Kriege waren bisher reine Jungssache. Deswegen mögen sie Krieg auch so gern.«

Obwohl Cristabel von den kindischen Sticheleien enttäuscht ist und ein bisschen gekränkt von den Behauptungen, ihr fehle einfach nur der Sinn für Humor, beschließt sie, sie zu ignorieren. Sie ist dankbar für Sophies Gesellschaft. Die einzige Frau unter höhnisch johlenden Männern zu sein wäre schwierig, aber zu zweit, als ein Team, das sich einen Tisch und eine Schachtel Zigaretten teilt, bilden sie eine vereinte Front.

Außerdem kommt sie sowieso nicht dazu, viel darüber nachzudenken. Der Stundenplan der Nachwuchsagenten ist hart, und sie werden die ganze Zeit von Offizieren beobachtet, die ihre Tauglichkeit beurteilen. Nicht alle von ihnen werden es schaffen. Das Wissen, ständig unter Beobachtung zu stehen, verleiht dem Ganzen eine ernstere Note. Jede Aktivität, mag sie auch noch so interessant sein, ist gleichzeitig ein Test. Jede Lektion, die sie abgeschlossen haben, entspricht einem abgehakten Kästchen.

Cristabel findet diese Schlichtheit befriedigend: Sie erfordert ihre ganze Konzentration und lässt keinen Raum für Irrtümer – ein System, so klar konstruiert wie eine Maschine. Jeden Abend taucht sie in den eiskalten Pool, während die Luft rundherum vom Lärm der in der Nähe abgehaltenen Schießübungen zerhackt wird. Das Knallen und das Gurgeln des Wassers um sie herum. Das Krachen und der Rückstoß der Waffen. Wenn sie abends ins Bett geht, streckt der Schlaf sie nieder wie ein Faustschlag.

Die Rekruten leben wie in einer Blase, isoliert in ihrer seltsamen neuen Welt. Immer wieder prägt man ihnen ein, dass sie das, was sie hier lernen, keinem Menschen erzählen dürfen. Sie haben alle die offizielle Geheimhaltungserklärung unterschrieben, sie dürfen nicht telefonieren, und ihre Briefe werden so streng zensiert, dass man auch gleich darauf verzichten kann, einen zu schreiben. Cristabel fühlt sich ein bisschen leer ohne ihre geschriebenen Monologe, ihr Ventil für Behauptungen und Meinungen, aber auch irgendwie … neu. Wenn sie davon abgehalten wird, ständig die Geschichte von sich selbst zu erzählen, ist sie, wer sie ist, wenn sie aufwacht. Stiller. Allein. Allein mit anderen, die ebenfalls allein sind.

»Du kannst als Erste aufs Klo«, sagt Sophie aus dem Nachbarbett mit einem schläfrigen Lächeln. »Ich steh nicht so früh auf, egal wie laut sie in diese Scheißtrompete blasen.« Am Morgen, wenn sie noch kein Make-up trägt, sieht sie aus wie ein Kind.

Sophie hatte einen Verlobten, Bob, einen Feuerwehrmann, der beim Blitzkrieg ums Leben gekommen ist. Ihr gemeinsames Baby, Paul, lebt bei ihren Eltern in Hackney. Sie hat jetzt einen amerikanischen Verehrer, der ihr Lippenstifte von Elizabeth Arden über den Atlantik schickt: alle in keckem Rot. Sie trägt die Farbe auf, bevor sie in den Pub gehen, zieht die Umrisse ihres Mundes scharf nach, während sie Cristabel erzählt: »Als mein Bob starb, schien mich nichts mehr berühren zu können. Ich hatte einen absoluten Einbruch, und dann kam auf einmal das hier. Ich war einfach nur froh, Ja zu irgendetwas sagen zu können. Das Herumsitzen hat mich fast umgebracht.« Sie benutzt ein Papiertaschentuch, um ihren Lippenstift trocken zu tupfen, sie drückt es an ihren Mund, als würde sie es küssen.

Im Pub fährt sie fort: »Das ist doch echt was Besonderes hier, oder? Du und ich, wir wären uns im normalen Leben nie begegnet. Außer du wärst in den Laden meines Vaters gekommen, um dich nach einem Kleid umzusehen.«

»Ich gehe nicht in Läden, wenn es sich vermeiden lässt«, sagt Cristabel und nimmt kleine Schlucke von dem Obstwein, den Sophie ihr aufgeschwatzt hat.

»Du weißt auch nicht, wann du dran bist, einen auszugeben«, sagt Sophie und versetzt ihr einen freundlichen Stoß in die Seite.

Wie sich herausstellt, gibt es vieles, was Cristabel nicht weiß. Wenn sie den Geschichten ihrer Mitschüler von Familienmahlzeiten und Urlauben zuhört, wird ihr klar, dass sie ein ungewöhnliches Zuhause hatte. Sie beobachtet Sophie – ihren schwatzhaften Charme, ihre Beliebtheit – und spürt zum ersten Mal die Schwierigkeiten, die sie hat, weil sie in einer Familie aufgewachsen ist, durch die sie eine seltsame Form bekommen hat. Eine Unsicherheit, was Normalität ist, mit ihren Spielarten und Strukturen.

Eines allerdings gibt es, was sie wirklich kann: einem großen Haus zuhören. In der Nacht, als die Ausbilder sich in die Schlafzimmer der Schüler schleichen, um ihre Reaktionen auszutesten, wartet Cristabel hinter der Tür und ist bereit.

»Woher wusstest du, dass sie kommen, Süße?«, fragt Sophie beim Frühstück.

»Ich bin in einem Haus wie diesem aufgewachsen«, gibt Cristabel zurück und löffelt ihr Porridge.

»Aber bei euch sind doch keine Leute nachts auf Zehenspitzen rumgeschlichen.«

Cristabel denkt an das wachsame Kind, das sie damals war, wenn sie sich auf dem Dach versteckte. »So anders war das gar nicht.«

Sophie lacht. »Mein lieber Schwan. Erinner mich bitte dran, dass ich dich nie besuche. Obwohl ich mir ohnehin nicht vorstellen kann, dass ich je eine Einladung kriegen würde. Jemand wie ich müsste wahrscheinlich eine Eintrittskarte kaufen.«

Cristabel runzelt die Stirn. »Das wird nicht nötig sein. Du würdest einfach mit mir reingehen.«

»Dann machen wir das so, einverstanden? Wenn das alles hier vorbei ist«, sagt Sophie. Ihr Ton ist neckend, aber es liegt eine Frage darin, die Cristabel ernst nimmt.

»Das werden wir machen«, sagt sie.

Nach drei Wochen in Surrey werden die zwei schwächsten Teilnehmer nach Hause geschickt, und der Rest reist nach Schottland für einen weiteren Ausbildungsmonat – ein Ausbilder nennt es »Abhärtung«, als wären sie alle noch viel zu weich. Sie beziehen ihr Quartier an der entlegenen Westküste in einem viktorianischen Anwesen aus Granit. Das Haus liegt direkt an einem Loch und unterhalb eines schroffen Berges und wurde genau wegen seiner isolierten Lage ausgesucht. Die Ausbilder hier sind Jäger, Bergsteiger, Polarforscher: Männer, die ihnen die Kunst des Überlebens in freier Wildbahn beibringen werden.

Die Rekruten werden auf endlose Märsche geschickt, stapfen durch Nebel und Regen, können nur essen, was sie selbst erlegt haben. Cristabel ist froh, dass Maudie ihr damals gezeigt hat, wie man ein Kaninchen häutet. Sie bauen sich Unterschlupfe aus Baumästen, machen Feuer mit getrocknetem Mist. Diese Körperlichkeit, stellt sie fest, macht sie alle gleich: Sie sind alle gleich müde, gleich durchnässt. Sie werden ein Team und entwickeln eine Loyalität, die sich auf liebevoll neckende Art äußert. Vereint gegen die Ausbilder, die Insekten, das Torfmoor, unterhalten sie sich über die Nächte, die sie sich in London um die Ohren schlagen werden, wenn das alles erst mal vorbei ist.

Es ist nicht mehr wichtig, wer sie sind oder woher sie kommen. Es ist nicht mal mehr wichtig, dass einige Männer und einige Frauen sind. Cristabel ist die beste Schützin, ein stämmiger Tscheche ist der beste Koch. Unter den Rekruten herrscht eine Kameradschaft, wie Cristabel sie noch nie erlebt hat. Ihr wird klar, dass sie trotz all der unfairen Vorteile, die das andere Geschlecht genießt, kein Mann sein will. Sie will nur, dass es egal ist, dass sie eine Frau ist. Sie will, dass es ist wie hier. Diese Freundschaft, dieses Angenommenwerden. Für das geschätzt zu werden, was sie kann, statt erzählt zu bekommen, was sie nicht kann.

Gemeinsam lernen die Rekruten, wie man aus einem fahrenden Zug springt, wie man Signale mit einer Morselampe gibt, wie man codierte Nachrichten mithilfe eines Funkgeräts sendet und empfängt. Sophie, die so penibel auf ihre Erscheinung achtet, dass sie sich jeden Morgen die Wimpern mit der Wimpernzange formt, stellt sich als ebenso penible Funkerin heraus, die mit ihren flinken Fingern um ein Vielfaches schneller morsen kann als alle anderen, sogar bei strömendem Regen. Sie üben, wie man Waffen im Dunkeln lädt und abfeuert, sie lernen, wie man in geduckter Position aus der Hüfte schießt und immer zweimal abdrückt, um sicherzugehen.

Zwei ehemalige Polizisten bringen ihnen Methoden bei, mit denen man lautlos einen Menschen töten kann, ein Wissen, das sie in den dunklen Gassen von Shanghai erworben haben. Es klingt lächerlich, jemandem in einem Klassenzimmer beizubringen, wie man ein Menschenleben beendet, dass man es auf eine Abfolge einfacher Schritte reduzieren kann. Ein schneller Ruck nach oben und hinten . Es geht das Gerücht, dass ein Schüler einen Ausbilder versehentlich auf diese Art umgebracht hat. Es sind viele solche Gerüchte im Umlauf – abschreckende Geschichten von unvorsichtigen Agenten und ihren tödlichen Fehlern oder den minimalen Irrtümern, die sie beim Einsatz verraten haben: der eine, der seine Suppe vom Löffel schlürfte, statt sie aus der Tasse zu trinken, ein anderer, der Handschuhe mit dem innen aufgestickten Schriftzug »Made in England« trug, bis hin zu demjenigen, der in die falsche Richtung schaute, bevor er die Straße überquerte.

Einer der ehemaligen Polizisten, ein liebenswürdiger Mann Mitte fünfzig, zeigt ihnen, wie man das speziell für sie angefertigte Stilett benutzt, das noch durch den dicksten Uniformstoff dringen soll. Perfekt, sagt er, für Nahkämpfe und »Entfernung von Wachen« – ein interessanter Euphemismus, wie Cristabel findet, als ob die Wache irgendwo anders hinbewegt worden wäre, statt tot mit einem Loch im Brustkorb dazuliegen.

»Alles kann als Waffe dienen«, sagt der ehemalige Polizist, »aber dieses Messer ist eine besonders gute.« Er hält es hoch. Sie befinden sich im Erdgeschoss eines Hauses, aus dessen hohen Fenstern man übers Gelände zu dem tiefen blauen Loch darunter schauen kann. Die Rekruten sitzen auf Klappstühlen, jeder hat ein eigenes Messer in der Hand, während der Ex-Polizist an einem Schreibtisch neben einer mit Stroh ausgestopften Puppe in Anzug und Homburger Hut lehnt.

Er fährt fort: »Das ist jetzt nichts für schwache Nerven. Mit einer Waffe kann man einen Menschen aus der Ferne erschießen, das ist so einfach, als würde man eine Taube erschießen. Will man ihn mit dem Messer töten, muss man ihm so nahe kommen, wie man sich sonst nur seinem Schatz nähert.«

Er legt das Messer auf den Tisch, nimmt einen Schluck aus einer Teetasse und sagt: »Einen Abzug drücken, das kann jeder. Aber wenn Ihr Gehirn Ihnen in die Quere kommt, wenn Sie ein Messer in der Hand halten, dann wird’s fatal.«

»Ich glaube nicht, dass mein Gehirn jemals irgendeiner Sache in die Quere gekommen ist«, sagt Sophie und erntet Gelächter.

Der Ex-Polizist lächelt höflich. »Es ist auch nicht immer die sauberste Angelegenheit. Wenn das Erstechen nicht ganz geklappt hat, müssen Sie Ihre Hände um seine Kehle legen. Dann müssen Sie weggehen und ihn vergessen. Das ist der wichtigste Teil.«

Cristabel hält ihr Messer lose auf dem Handteller und sucht den Schwerpunkt zwischen der schmalen Klinge und dem Messinggriff. Sie schaut weg und lässt das Gefühl zu, dass das Messer zu einem vertrauten Gegenstand wird. Ihr Blick wandert aus dem Fenster über die abschüssigen Wiesen, auf denen fensterlose Ziegelbauten stehen, in denen man Einzelhaft simulieren kann, bis hinunter zum Loch, in dem man die Rekruten später noch untertauchen wird, um zu prüfen, ob sie Kälte aushalten. Jeden Tag wird es jetzt ein bisschen steiler, der Pfad schmaler, die Luft dünner.

Der Ex-Polizist fragt: »Wer weiß noch, wo die verletzlichsten Teile am Körper der Zielperson sind?«

Cristabel hebt ihr Messer.

Manchmal fahren sie mit dem Kanu die Küste entlang und weichen dabei Felsenriffs und weißen Sandstränden aus. An klaren Tagen hat das Meer ein unglaubliches Türkisblau, und wenn die Sonne untergeht, weist der Himmel Streifen von extravagantem Rosa und Violett auf und beleuchtet die bergigen Inseln, die sie vom Ufer aus sehen können. Dann verspürt Cristabel ein durchdringendes Glück, ein fast schon schmerzhaftes Bewusstsein, lebendig zu sein und zu atmen. Die Bewegung des Kanus durchs Wasser, der stetige Takt ihres Vorwärtspaddelns, das Licht der Sonne auf dem Meer.

Auf den hohen Gipfeln beim Haus leben Bussarde. Sie kann sie manchmal sehen, wie sie auf der warmen Luft in Spiralen immer höher steigen, wie sie Kreise in den Himmel zeichnen mit ihren langfingrigen Flügeln und dabei ihre klagenden Schreie zur Erde schicken. Einmal, bei einem Morgenlauf durch die Landschaft, war sie einem begegnet, der auf dem Boden stand und mit einer gelben Kralle ein zappelndes Nagetier festhielt. Der Vogel war größer gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Ein König mit schäbigem Mantel, mit einem gefiederten Umhang in Rostrot und Creme, mit einem Hakenschnabel und einem kraftvollen, unbeirrbar starrenden Blick. Sie hatten sich gemustert, und sie empfand seinen Blick als die Beurteilung eines Gleichgestellten.

Ein Pfiff in der Ferne. Der Bussard flog mit seiner Beute davon, die blasse Unterseite seiner Flügel blitzte auf, während er nach oben flog, und Cristabel rannte zurück zum Haus und hörte dabei nichts als das Geräusch ihres eigenen Blutes in den Ohren und den brausenden Wind.