Vollmond

Juni 1943

Es ist eine feuchte Juninacht. Das Haus und seine Bewohner sind unruhig. Cristabel hört, wie Wasserhähne laufen, Bettfedern knarzen, jemand im Schlaf ruft. Sie liegt auf ihrem Bett, teilnahmslos unter dem Gewicht der unbeweglichen Luft, und lauscht den Regentropfen, die draußen in großen Abständen fallen. Ihr Wecker klingelt. Es ist zehn Uhr.

Sie zieht ihren Morgenmantel an und geht zu dem, was sie ein »frühes Frühstück« nennen. Sie ist die Einzige im Esszimmer, wo ein müder weiblicher Fähnrich ihr im Schein des flackernden elektrischen Lichts Tee und Toast bringt. Durch die Fenster sieht man nur Nacht und Regen. Während sie isst, sieht sie Joan, eine vorgesetzte Offizierin von der Org, die auf sie zukommt.

»Kopf hoch«, sagt Joan. »Die Wettervorhersage für nachher ist besser. Ich wette, du wirst heute Abend noch fahren.«

»Das sagst du jeden Abend«, sagt Cristabel und nimmt sich noch ein Stück Toast.

Sie wohnt jetzt schon seit einer Woche in der »Abfahrtsschule«. In diesem georgianischen Herrensitz, versteckt im dicht belaubten Bedfordshire, ist nicht nur das Personal der Luftwaffe eines nahe gelegenen Flughafen untergebracht, sondern auch die Agenten, die darauf warten, nach Europa geflogen zu werden. Jeden Abend hat man sie zum Flughafen rausgefahren, und jeden Abend ist ihr Flug wieder abgesagt worden, weil Wolken den Mond verhüllt haben. Die Piloten brauchen den Mond zum Navigieren, sie haben also jeden Monat nur ein zwölftägiges Zeitfenster vor und nach Vollmond für ihre Flüge nach Frankreich. Sie sind als »die Mondschwadron« bekannt, denn sie starren mit der Inbrunst von Astronomen oder Liebenden zum Nachthimmel empor.

»Komm, zieh dich an, damit du bereit bist«, sagt Joan.

Als sie in Cristabels Zimmer sind, hilft Joan ihr in die Kleidung der Person, die sie in Frankreich werden wird: Claudine Beauchamp, Literaturstudentin, die Verwandte auf dem Land besucht, um sich von einer langen Krankheit zu erholen. Claudine trägt wollene Unterwäsche und eine Winterjacke – Joan hat gesagt, dass es kalt wird auf dem Flug –, eine beige Bluse mit einem sorgfältig gefertigten französischen Etikett innen am Kragen, einen braunen Wollpullover und ein graues Tweedkostüm. An den Füßen hat sie Baumwollstrümpfe und vernünftige schwarze Wanderschuhe, denen man bewusst ein gebrauchtes Aussehen gegeben hat.

Claudines Haare sind länger, als die von Cristabel früher gewesen sind, und hinten hochgesteckt, denn Sophie hat darauf bestanden, dass sie unmöglich nach Frankreich gehen kann, wenn sie aussieht wie ein Mädchen, das eigentlich lieber ein Junge gewesen wäre, ein garçon manqué . In ihrer Jackentasche stecken eine Brille, ein Buch mit französischen Gedichten und ein Lippenstift von Lancôme, den sie dank Sophie auch auf die Lippen auftragen kann, wenn nötig. Cristabel steckt ihre Hand in die Tasche und ertastet die stabile Hülle. Sie mag seine Form, obwohl sie ihn nicht gerne benutzt.

Der schwarze Chrysler, der sie zum Flughafen bringt, schnurrt behutsam über rutschige, regennasse Straßen, vorbei an hohen Hecken, die hie und da mit bleichen Heckenrosenblüten gesprenkelt sind. Der eingezäunte Flughafen vermittelt einen provisorischen Eindruck, ein paar getarnte Wellblechhütten stehen auf einer matschigen Wiese. Er ist hauptsächlich nachts in Betrieb, um zu vermeiden, dass die Deutschen auf ihn aufmerksam werden, und seine Piloten starten und landen im Dunkeln. Große Halifax-Bomber, langnasige Schatten, warten auf den betonierten Startbahnen, das Bodenpersonal in Regenmänteln mit Kapuze führt technische Tests durch.

Die Geheimhaltung des Flughafens geht so weit, dass das Gebäude, in dem die Agenten auf ihre Flüge warten, aussieht wie die Scheune eines Bauern mit Verschalungsbrettern. Doch als Joan die Tür aufmacht, schlägt ihnen zur Begrüßung der vertraute Militärmief von Zigarettenrauch und Männerstimmen entgegen. Cristabel wirft einen letzten Blick auf den Nachthimmel, der immer noch unter Wolken liegt, bevor sie eintritt.

Es ist ein leerer, fensterloser Bau, voll mit Flugpersonal, das Landkarten studiert, Karten spielt oder Kaffee aus Thermoskannen trinkt. Ein Labrador liegt schlafend in einer Ecke. Sie sieht den Agenten, mit dem sie ausgeflogen wird, Henri, der gerade in seinen Fallschirmanzug gesteckt wird. Der Anblick erinnert sie an die Scheune bei ihrem Theater, in der sie sich ihre Kostüme anzogen und auf ihren Auftritt warteten.

Henri ist Franzose, sie ist mit ihm zusammen in Schottland ausgebildet worden, obwohl er damals noch nicht Henri hieß. Sie kennt seinen richtigen Namen, die Lieblingsspiele seiner Kinder, seine Liebe zum Angeln, seine ruhige Überlegtheit, aber das muss jetzt alles beiseitegeschoben und zurückgelassen werden. Jetzt ist er nur noch Henri. Sie fängt seinen Blick auf und nickt ihm zu.

Joan begleitet Cristabel zu einem Tisch und reicht ihr einen Packen falscher Dokumente, Geburtsurkunde, Lebensmittelmarken, Reisegenehmigungen – perfekte Fälschungen, aus denen sie ihr eigenes Gesicht ernst anschaut, mit seiner neuen Frisur und den frisch gezupften Augenbrauen. Sie bekommt sogar ein abgegriffenes Foto eines älteren französischen Ehepaars: ihre neuen Eltern. Dann geht Joan mit ihr die Einzelheiten ihrer Mission durch.

Cristabel kennt ihre Mission in- und auswendig. Nachdem sie ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, war sie nach London bestellt worden, ins Hauptquartier der Org – standesgemäß versteckt in einem Gebäude in der Sherlock Holmes’schen Baker Street, wo man ihr erklärte, dass sie nach Frankreich geschickt werde, um Kurierdienste auszuführen. Die Org hat Frankreich in verschiedene Regionen aufgeteilt, die »Bezirke« genannt werden, und in jedem davon sitzt ein Organisator, der das Sagen hat, zusammen mit einem Kurier und einem Funker. Frauen sind entweder Kurierinnen oder Funkerinnen.

Cristabel soll für einen Organisator namens Pierre arbeiten, der in einem Bezirk namens »Schäfer« arbeitet. Zur Arbeit der Org gehört es auch, bereits aktive geheime Truppen mit Waffen zu versorgen, deswegen wird man Cristabel in Frankreich neben Behältern voller Waffen absetzen, die dann an die Kämpfer der Résistance verteilt werden sollen. Sie hat ihren Decknamen, Claudine, und einen Namen für ihre Einsätze, Gilberte, und so werden sie auch ihre Agentenkollegen nennen.

»Warum braucht Pierre einen neuen Kurier?«, fragte sie.

Ausdruckslose Blicke wurden im Büro getauscht.

Sie fügte hinzu: »Wenn er oder sie durch einen Fehler enttarnt worden ist, würde ich ungern denselben Fehler machen – deswegen frage ich.«

Man erklärte ihr, dass Pierre sie aufklären werde, und dann wurden Henri und sie Colonel Buckmaster vorgeführt, dem Leiter ihrer Abteilung, der sie mit einem merkwürdigen schnellen Blinzeln betrachtet hatte, bevor er sagte: »Viel Glück, Kinder«, und ihnen Geschenke in die Hände drückte. Cristabel bekam eine goldene Puderdose. Sie gab sie an Joan weiter, während sie das Büro verließen. »Hier, ich werd sie sowieso nie benutzen.«

»Du kannst sie doch verkaufen, wenn es nötig sein sollte«, meinte Joan und gab sie ihr zurück. »Außerdem kann so ein Spiegel ganz nützlich sein, wenn man mal kurz schauen will, wer hinter einem ist.«

Es folgten ein paar Tage Däumchendrehen in London, bevor sie nach Bedfordshire weiterreisten. Cristabel verbrachte diese Zeit mit dem Studium von Michelin-Landkarten von Frankreich und dem Auswendiglernen der Angaben zu ihren Kontakten. Einmal nahm Joan sie mit zum Mittagessen im betriebsamen Lyons Corner House in der Oxford Street, und als sie hinausgingen, sah Cristabel Philippa Fenwick, Arm in Arm mit einem hinreißenden Offizier der Luftwaffe, wie sie gerade aus einem topmodischen Kaufhaus auf der anderen Straßenseite trat. Philly sah hinreißend glamourös aus in ihrem roten Sommerkleid mit einem gepunkteten Schal im Haar, wie sie gerade angeregt irgendetwas ausrief.

Cristabel hätte beinahe die Hand gehoben, um sie zu rufen. Sie konnte sich Phillys Reaktion vorstellen – »Liebling! Wie aufregend, dich hier zu treffen! Du siehst ja so nobel aus in deiner Uniform!« –, doch sie hielt sich im Zaum. Sie sollte jetzt eigentlich nicht gesehen werden. Also trat sie zurück in einen Türeingang und sah Phillys helle Gestalt verschwinden, während ihr Gelächter durch die Straße hallte.

Einer von der Halifax-Staffel, der Disponent, der dafür verantwortlich ist, dass die Agenten im richtigen Moment aus dem Flugzeug springen, kommt in der Scheune zu Joan und Cristabel hinüber und hält den Daumen hoch.

»Und – findet der Absprung heute statt?«, fragt Joan.

»Es klart definitiv auf«, erwidert er.

»Das sind ja gute Neuigkeiten, Gilberte«, sagt Joan, die auch hier schon darauf achtet, ihren Codenamen zu benutzen.

Joan verteilt überall an Cristabels Körper Päckchen von französischen Geldscheinen und hilft ihr, ihre Pistole und das Halfter anzulegen, bevor sie den Reißverschluss ihres Tarnanzugs zuzieht. In seinen zahlreichen Taschen befinden sich Cristabels Messer, eine Taschenlampe, ein Kompass, ein feiner Seidenschal, auf dem eine Landkarte ihres Bezirks aufgedruckt ist, und ein Spaten, mit dem sie ihren Fallschirm vergraben kann. Zum Schluss reicht Joan ihr einen kleinen Behälter mit zwei Zyanidkapseln.

»Du musst draufbeißen, bevor du sie schluckst«, sagt Joan.

Cristabel fragt sich, woher sie das wissen. »Ich will keine«, sagt sie.

»Könnte nützlich sein, diese Möglichkeit zu haben«, gibt Joan kurz angebunden zurück.

Cristabel steckt die Kapseln in eine ihrer Taschen, dann setzt sie sich auf einen Stuhl, um sich von Joan ihre Knöchel zum Schutz bandagieren zu lassen. Als sie auf ihre Bandagen hinunterblickt, fühlt sie sich an die Wickelgamaschen erinnert, die die Soldaten im letzten Krieg getragen haben, diese bandagierten Beine von aufrechten Männern, die sich mit verschränkten Armen vor ihren Baracken fotografieren ließen. Dann watschelt sie zum Scheunenausgang, um ein bisschen frische Luft zu schnappen, denn sie fühlt sich so sperrig wie ein schlecht verpacktes Paket.

Es regnet immer noch. Während Cristabel draußen eine Zigarette raucht, fährt eine Limousine mit vorgezogenen Vorhängen vor. Eine große Gestalt in Uniform steigt aus und geht auf die Scheune zu, bevor sie plötzlich stehen bleibt und sich zu ihr wendet. »Sind meine Augen so schlecht, oder kennen wir uns?«

»Wir kennen uns überhaupt nicht. Was um alles in der Welt suchst du denn hier, Leon?«

»Was für eine Überraschung«, sagt er und mustert sie von oben bis unten. »Ich bin hergeschickt worden, um jemanden abzuholen. Er kommt zurück von dort, wo du jetzt wahrscheinlich hingehst, n’est-ce pas

»Ich geh nirgendwohin, wenn es nicht aufhört zu regnen«, sagt sie und bietet ihm eine von ihren neuen Gauloises an.

»Aber deine Hände zittern gar nicht«, sagt er anerkennend. »Mir gefällt dein Aufzug.«

»In diesem Aufzug ist es unglaublich heiß«, erwidert sie, während sie ihm Feuer gibt.

»Vielleicht wärst du besser dran …«

»Nicht jetzt, Leon«, sagt sie, aber sie muss doch lächeln.

»Im Flugzeug wirst du dankbar sein«, sagt er. »Weißt du, was ich diese Woche gelernt habe? Die Spanier nennen Fallschirme die weißen Rosen des Todes. Fast schon romantisch, oder?«

»Fast.«

»Moment.« Er geht zurück zum Auto und kommt mit einem Flachmann zurück, den er ihr in die Hand drückt. »Wir müssen auf deine Mission anstoßen.«

Sie nimmt einen vorsichtigen Schluck und verzieht das Gesicht.

Leon wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mein Gast wird bald eintreffen.«

Cristabel fallen wieder die Kapseln in ihrer Tasche ein. »Leon, nur für den Fall, dass …«

Er hebt eine Hand, um sie zu unterbrechen. »In Russland wird nicht gesprochen zwischen dem ersten und dem zweiten Drink.«

»Du bist doch nie in Russland gewesen«, gibt sie zurück, aber nimmt doch noch einen angewiderten Schluck aus dem Flachmann, bevor sie ihn ihm zurückgibt. »Leon, es kann gut sein, dass ich nicht zurückkomme.«

»Das werden viele nicht«, sagt er, schaut in die Scheune und winkt einem Mann darin zu. Dann dreht er sich zu ihr. »Du wirst da durchkommen, Cristabel Seagrave. Du hast ein starkes Herz.«

»Ich wollte nicht sentimental klingen«, sagt sie.

»Wann wärst du jemals sentimental gewesen?« Er legt eine Hand auf ihre Brust. »Das ist keine Sentimentalität. Das ist das, was dich am Leben erhalten wird.«

Sie legt ihre Hand auf seine, ziemlich ungeschickt. »Ich habe das Gefühl, ich sollte jetzt irgendetwas Tiefsinniges sagen. Wie in einem Buch.«

»Ich will nichts aus einem Buch.« Er beugt sich vor, küsst sie und zieht den Augenblick in die Länge. »Komm auf einen Wodka vorbei, wenn du wieder zurück bist.«

Cristabel schaut ihn an, sein dichtes schwarzes Haar, seine dunklen Augen, die Art, wie sich sein Mund zwischen verschiedenen Gesichtsausdrücken bewegt, ohne sich für einen entscheiden zu können. Sie weiß auf einmal ganz genau, wie sein Mund schmeckt, wenn er sich ihr öffnet. Dann schaut sie an ihm vorbei zum Himmel. »Es hat aufgehört zu regnen.«

Der Disponent der Halifax-Staffel erscheint neben ihr und deutet mit einem Nicken auf den Mond, der jetzt durch die dünner werdenden Wolken fast komplett zu sehen ist. »Sieht aus, als hätten Sie Glück.«

Plötzlich ist auch Joan da, und die beiden helfen ihr in ihren schweren Fallschirm, passen die Gurte an ihre Schultern an und schnallen ihr den Gummihelm auf dem Kopf fest. Sie begleiten Henri und sie durch die Pfützen und über die Startbahn zum Flugzeug, wo der Pilot und seine Crew sie mit Handschlag begrüßen, bevor sie in den Tiefen des Fliegers verschwinden. Joan drückt ihr fest die Hand und wünscht ihr alles Gute. Cristabel schaut nur einmal zurück und sieht eine große Silhouette im Eingang zur Bar stehen, dann wird sie in den Bauch der Halifax hochgezogen.

Der Flugzeugrumpf ist wie eine hohle Röhre, angefüllt mit Rohren und Metallteilen, und es riecht nach Benzin. Die Sitze sind herausgenommen worden, um Platz für zusätzliche Treibstofftanks zu schaffen, deswegen müssen Henri und Cristabel auf Schlafsäcken am Boden sitzen und sich an ihre unhandlichen Fallschirme lehnen, direkt neben einem Stapel Pappkartons mit Brieftauben, wobei jeder Karton mit einem Minifallschirm ausgestattet ist. Die Behälter mit den Waffen, die zusammen mit den Agenten abgeworfen werden sollen, hängen unter der Halifax in ihrer Bombenaufhängevorrichtung. Der Pilot ist in der Nase des Flugzeugs verschwunden, und der hintere Schütze ist in seine Glaskuppel im rückwärtigen Teil gestiegen. Cristabel kann den Austausch von Funknachrichten hören, die üblichen Checks vorm Abflug.

Plötzlicher, als sie erwartet hatte, fangen die Propeller an zu rattern, einer nach dem anderen, dann kommt das Dröhnen der Motoren dazu, als die Halifax sich über die Startbahn bewegt. »Ich würde an Ihrer Stelle versuchen, ein bisschen zu schlafen«, sagt der Disponent und zieht eine Decke über die Tauben.

Cristabel nickt. Sie ist nicht in der Lage zu sprechen. Schon vor ihrem Fallschirmtraining ist sie einmal in einem Flugzeug mitgeflogen und hatte den Start als außergewöhnlich Furcht einflößend empfunden. Sobald sie erst mal in der Luft sind, kann sie wieder atmen, aber den holpernden, hüpfenden Übergang des Fliegers vom Land in die Luft findet sie zermürbend.

»Alles klar?«, fragt der Disponent, als sie über die Startbahn beschleunigen.

»Ja«, bringt sie heraus, bevor sie die Augen zumacht und sich vom Dröhnen des Flugzeugs einlullen lässt. Der Lärm der vier Motoren erinnert an Ventilatoren, es kommt rhythmisch näher und entfernt sich wieder, ein kreiselndes, hypnotisches Geräusch, das alles andere ausblendet.

Die Halifax verlässt England, fliegt über den Ärmelkanal und versucht, möglichst an Höhe zu gewinnen, um im Anflug auf die französische Küste die Flugabwehrgeschütze zu meiden. Das Sperrfeuer der deutschen Flugabwehr weckt Cristabel auf. Das Flugzeug steigt steil in die Höhe, und alles darin kommt ins Rutschen und Wackeln, sie kann seine Vibrationen in den Händen spüren, ein mechanisches Rumsen und Rattern, ein leichtes Zittern. Der Disponent sitzt ganz in der Nähe. »Hier oben können sie uns nicht treffen«, verkündet er gut gelaunt, und sie überlegt, wie viele andere Agenten ebenfalls hier aufgewacht sind und überrascht waren, dass man auf sie geschossen hat, während sie schliefen.

Sie hievt sich hoch, um aus dem kleinen kreisförmigen Fenster zu spähen, und kann einen Blick auf den Ärmelkanal erhaschen, allerdings in einem seltsamen Neigungswinkel, und seine bewegte Oberfläche erinnert sie an faltige Haut, mit Tupfern von weißen Wellen. Dann dreht das Flugzeug scharf ab, das Meer rutscht aus ihrem Blickfeld, und wieder hört man das elektrische Knattern der Flaks, sieht man Wölkchen von schwarzem Qualm. Sie setzt sich wieder hin und sucht sich etwas zum Festhalten.

Als sie sich an einer sicheren Stelle über Frankreich befinden, fliegt der Pilot tiefer, damit er mithilfe der mondbeschienenen Flüsse navigieren kann. Der Disponent macht die Ausstiegsluke auf, um die Tauben in ihren Kisten abzuwerfen, jede versehen mit einem Blatt Reispapier und einem Stift, in der Hoffnung, dass Nachrichten mit ihnen nach Großbritannien geschickt werden. Die kalte Luft, die mit voller Wucht hereinströmt, macht solchen Lärm, dass der Disponent schreien muss, um sich verständlich zu machen. »Wenn ich eine fangen würde, würde ich sie zu Pastete verarbeiten!«

Cristabel kann vereinzelte Wolkenfetzen unter sich weggleiten sehen und den Schatten der Halifax, die über die Felder und Bauernhöfe gleitet wie ein Drache. Sie stellt sich vor, wie die Menschen sie hören, während sie über sie hinwegfliegt. Französische Menschen. Deutsche Menschen.

Es ist drei Uhr morgens, als sie sich der Absprungzone nähern, dem Gebiet, wo ein Empfangskomitee auf Gilberte und Henri warten sollte. Die Halifax fliegt noch ein bisschen tiefer, streift über das Land in 270, 240, 210 Metern Höhe, nahe genug über dem Boden, dass die Besatzung die Blinksignale der Taschenlampen erkennen kann.

Auf einmal verlangsamt das Flugzeug, es fliegt eine Kurve. Vom Piloten kommt eine Nachricht über die Sprechanlage, und der Disponent öffnet die Ausstiegsluke wieder, winkt die Agenten heran und sagt: »Wir haben sie entdeckt. In Bereitschaft gehen.« Er zieht ihre Gurte nochmals straff, dann klipst er ihre Fallschirme an eine feste Leine im Flugzeugrumpf, die die Fallschirme aufreißen wird, sobald sie hinausspringen. Er klopft ihnen ein letztes Mal auf die Schulter, dann geht er neben ihnen in die Hocke, während sie neben der Luke warten.

Cristabel mustert Henris konzentriertes Gesicht, als er auf den Boden hinunterblickt. Sie überlegt, ob er wohl gerade an seine Familie denkt, irgendwo in diesem Land unter ihnen. Sie legt ihre Hand kurz auf seine und drückt sie leicht. Er schaut sie an, sie umarmen sich ungeschickt und rufen sich gegenseitig »Bonne chance« ins Ohr.

»Die Kisten als Erstes«, befiehlt der Disponent, »dann Gilberte, dann Henri.«

Cristabel nickt. In der Ausbildung haben sie auch immer die Frauen als Erstes runtergeschickt, um sicherzustellen, dass die Männer folgten, und ihr ist es lieber so. Weniger Zeit, nervös zu werden.

Die Halifax kreist wieder gleichmäßig. Das Licht über der Luke blitzt rot auf, und die Agenten spähen durch die Luke, um zu sehen, wie die Behälter mit den Waffen auf einmal an ihren Fallschirmen vorbeizischen. Cristabel schiebt sich näher an die Luke heran und lässt ihre Beine über die Öffnung hängen. Dann schaltet das Licht auf Grün, der Disponent schreit: »Los!«, und ohne zu zögern, springt sie hinaus in die Luft.

Als sie ins Nichts fällt, spürt sie, wie sie rasend schnell hinunterrast, und ihr bleibt fast das Herz stehen, doch dann gibt es einen Ruck, als sie auf den Propellerwind trifft, und der seidene Fallschirm, der sich über ihr öffnet, macht ein raschelndes Geräusch. Es gibt einen weiteren Ruck, als der Fallschirm sich ganz entfaltet hat und sie sich im Kreis dreht, die Sterne fliegen an ihr vorbei in einem verschwommenen Wirbel, ein wilder Tanz im Mondenschein. Dann beruhigt sich die Bewegung, und sie segelt nur noch gelassen zu Boden, und das ist der Teil, den sie beim Fallschirmspringen am meisten liebt, der Teil, der nie lang genug dauert. Die schwerelose Begeisterung, wenn sie über das Land gleitet, dahinschießt wie ein Falke, während ihr die Luft um die Ohren pfeift.

Viel zu schnell kommt ihr der Boden entgegengerast, und sie landet mit einem dumpfen Aufprall. Eine Sekunde später trifft ihr Fallschirm auf den Boden, mit einem lauten Fffffp wie ein Stapel Bettlaken. Sie rappelt sich hoch und befreit sich aus ihrem Geschirr, als sie Gestalten sieht, die auf sie zurennen. Ganz kurz hält sie den Atem an und tastet nach ihrer Pistole, doch dann hört sie, dass sie ihr etwas auf Französisch zurufen: »Bienvenue!« Die Halifax dreht über ihr ab, sie erhascht einen Blick auf den Piloten, der zu ihr herunterblickt, bevor er in die Nacht davondröhnt, mit einem letzten Flügelwackeln zum Abschied.