Sous Terre

Oktober 1943

Als der Schäfer-Bezirk auffliegt, geht alles furchtbar schnell. Ihr Funker wird von der Gestapo auf dem Dachboden über einer Apotheke festgenommen, von wo er seine verschlüsselten Nachrichten nach London geschickt hat, und der Junge, der in der Apotheke arbeitet, rennt die ganzen acht Kilometer, um Pierre und Gilberte zu warnen.

Die ersten achtundvierzig Stunden nach der Verhaftung eines Agenten sind die gefährlichsten. Vom Funker – mit Handschellen an die Gefängniswand gekettet, zerschlagen und blutend – wird erwartet, dass er so lange durchhält, ohne etwas zu verraten, egal was man mit ihm macht, um seinen Kollegen eine Chance zur Flucht zu geben.

Als Gilberte Pierre zum letzten Mal sieht, steht er vor dem Bauernhof, der ihm als Basis dient, und wirft Papiere in ein Feuer, wobei er ihr zuschreit, dass sie abhauen soll. Allez! Sie schleift ihr Fahrrad aus seinem Versteck im Kuhstall und radelt davon, hält nur einmal an, um ihre Brille in einen Fluss zu werfen, ihre Haare aufzumachen, etwas Lippenstift aufzutragen und ihren Rock ein bisschen höher zu rollen. Ein Deutscher fährt auf seinem Motorrad an ihr vorbei, und sie lächelt ihn so dreist mit dem ganzen eigenwilligen Charme von Sophie an, dass er fast von der Straße abkommt. In diesem Moment hasst sie sich selbst durch und durch, aber sie tritt weiter wild in die Pedale.

Sie hat einen Kontakt im nächsten Dorf, einen Friseur, der sie aufnimmt, ihr neue Kleidung besorgt – ein geblümtes Kleid und Schuhe mit Korksohlen – und ihr die Haare frisiert, sodass sie in einer Rolle über ihrer Stirn sitzen. Als Claudine Beauchamp wieder in die Welt hinauszieht, trägt sie einen Einkaufskorb und hat einen Ehering am Finger, eine junge französische Hausfrau, mit einem Foto von ihrem kleinen Sohn im Geldbeutel.

Sie nimmt wieder einen Zug und dann noch einen und noch einen und steigt immer erst in letzter Sekunde ein. Dabei achtet sie sorgfältig darauf, die Waggons zu wechseln, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wird. Sie hält sich genauestens an das, was sie in ihrer Ausbildung gelernt hat. Sie meidet Hotels, wo sie ihren Namen am Ende in ein Gästebuch schreiben müsste. Sie schläft kaum, sie isst kaum.

Während die Züge stetig durch die ländlichen Gegenden zuckeln, vorbei an Reihen von gekappten Bäumen und Kanälen, in denen das Wasser langsam dahinfließt, liest sie in ihrem Lyrikbuch, legt ihren frisch lackierten Fingernagel unter jedes Wort, um ihre müden Augen zu leiten – und sie folgt Victor Hugo, wenn er ihr sagt:

Je suis fait d’ombre et de marbre.

Comme les pieds noirs de l’arbre,

Je m’enfonce dans la nuit.

J’écoute; je suis sous terre.

Ich bin aus Schatten und Marmor gemacht.

Wie die schwarzen Füße der Bäume

Versink ich in der Nacht.

Ich lausche, bin unter der Erde.

Als der Zug hält, hört sie Türen schlagen. Einen Hund bellen. Normale Geräusche, die vielleicht doch nicht normal sein könnten. Bei der Arbeit im Verborgenen, genauso wie in einem Theaterstück, gibt es keine unwichtigen Details. Wenn man im ersten Akt eine Waffe hat, muss sie im dritten Akt abgefeuert werden. Alles muss bemerkt und erwogen werden. Ist das Auto ein Militärfahrzeug? Ist der Hund groß oder klein? Irgendwo in einem abgeschotteten Teil ihrer selbst ist sie sich bewusst, dass dieses pausenlose Nachdenken ermüdend ist, aber sie glaubt, dass es besser ist, wach und erschöpft zu sein, als schlafend und tot. Der bellende Hund wird von seinem zornigen französischen Besitzer zum Schweigen gebracht. Der Zug verlässt den Bahnhof.

Sie wendet sich wieder Victor Hugo zu, dem fesselnden Rätsel der Übersetzung. Bedeutet versinken dans la nuit , dass er durch die Nacht sinkt oder dass er in der Dunkelheit versinkt? Ihr Gehirn arbeitet auf Hochtouren, zerlegt das Gedicht in seine Einzelteile.

Irgendwann, nachdem sie kilometerlang in zerbröselnden Korkschuhen und mit Blasen an den Füßen über steile, staubige Straßen gewandert ist, landet sie in einem Bergdorf. Ein Kontaktmann der Résistance führt sie zu einem Funker, der sich in einem Lagerraum voller Kaninchenfelle versteckt hat und eine Botschaft nach London schickt. Im Handumdrehen kommt eine Botschaft zurück, die besagt, London wolle, dass sie im Oktober mit der Mondschwadron zurückkommt. Der Funker vertraut ihr an, es seien Gerüchte im Umlauf, dass ein großer Bezirk in Paris kollabiert sei, und jetzt purzelten die Agenten der Alliierten durch Frankreich wie die Dominosteine.

Auf einem Hochplateau außerhalb des Dorfes landet eine Woche später eine Lysander, um zwei neue Agenten abzuliefern und sie wieder mitzunehmen. Der Flieger nimmt sie einfach aus dem ganzen Spiel heraus.

London liegt in grauem Nebel. Keines der schmutzigen Fenster im Hauptquartier der Org scheint richtig schließen zu wollen. Überall zieht es pfeifend rein. Heizkörper knacken nachdenklich, doch wenn man sie anfasst, sind sie kalt. Sie trinken Tee, aber der Zucker ist ihnen ausgegangen. Eine der Sekretärinnen sorgt normalerweise dafür, dass die Vorräte immer aufgestockt werden, aber sie ist seit einer Woche nicht mehr gekommen. Die zwei uniformierten Männer, die Cristabels Abschlussgespräch leiten, schauen in die Zuckerdose, als wären sie verblüfft über ihre Leere. Sie sagen ihr versöhnliche Worte. Sie heißen sie zu Hause willkommen.

»Haben Sie von Pierre gehört?«, fragt sie. »Geht es ihm gut?«

Sie gehen auf das Thema Pierre gar nicht ein und machen weiter mit dem, was sie über die Situation in Paris wissen und über den Zusammenbruch des Zauberer-Bezirks. Ihrer Meinung nach hat das zur Ergreifung von Agenten in anderen Bezirken geführt, einschließlich des Schäfer-Bezirks, und zur Isolierung vieler Résistance-Gruppen. Zauberer war ehrgeizig in seiner Reichweite, seine Kontakte waren zahlreich, es hatte ein weites Netz aufgespannt.

Vor den Männern liegt eine aufgeschlagene Mappe, in der sie ab und zu blättern, als würden sie Details überprüfen. Cristabel wird klar, dass sie die beiden noch nie zuvor im Büro gesehen hat. Sie erklären, es gebe Vermutungen, dass der Zauberer-Bezirk schon im Juli infiltriert worden sei, als der Funker mehrfach den Sicherheitscheck ausgelassen hatte, obwohl er von London dafür gerügt worden war. Ein Funker sollte eigentlich wissen, dass jeder Nachricht ans Hauptquartier ein Sicherheitscheck vorangehen muss.

»Wenn er den Check weggelassen hat, wollte er doch bestimmt signalisieren, dass sie in feindlichen Händen waren, oder?«, meint Cristabel. Sie muss an Sophie denken, die so einen Fehler nie gemacht hätte.

Die Offiziere nicken. Sie sagen, dass sie danach leider auch zu dieser Schlussfolgerung gelangt seien.

Cristabel denkt nach über das Wörtchen »danach«.

Sie sagt: »Hören Sie, ich weiß nichts über den Zauberer-Bezirk. Aber ich kann Ihnen von Shepherd erzählen. Darüber weiß ich wirklich eine Menge.«

Wieder umschiffen die Männer ihre Äußerung. Sie sagen, sie glauben, dass einer der britischen Agenten des Zauberer-Bezirks, mit dem Decknamen Gabriel, nicht von der Gestapo festgenommen wurde und immer noch frei in der Stadt herumläuft. Sie haben Berichte bekommen, laut denen er gesehen worden ist. Aber von ihm direkt haben sie nichts gehört, und er scheint auch nicht erpicht darauf zu sein, das Gebiet seines aufgeflogenen Bezirks zu verlassen. Sie machen sich Sorgen – sie bemerkt die vorsichtigen Formulierungen, die Samthandschuhe –, dass er vielleicht kompromittiert worden sein könnte.

Sie wartet auf die Frage.

Die Männer tauschen einen Blick. Sie sagen, es sei ungewöhnlich, dass die Identität eines Agenten enthüllt werde, doch da die Sicherheit in dieser entscheidenden Phase des Krieges oberste Priorität habe, hielten sie es für notwendig. Der Agent mit dem Decknamen Gabriel sei ihr Cousin, Digby Seagrave. Ob sie vielleicht wisse, ob er irgendwelche Kontakte in Paris habe? Ob er in den Vorkriegsjahren mit irgendjemandem dort Kontakt gehabt habe? Gebe es irgendeinen Ort, an den er gegangen sein könnte?

In diesem Moment ist sie dankbar für die gefakte Befragung, die sie im New Forest absolvieren musste. Der Ausbilder hatte ihr damals geraten, immer nur die Frage zu beantworten, die man ihr stellte, statt vorausahnen zu wollen, wohin die Reise ging.

»Wir hatten eine Gouvernante, die aus Paris war«, sagt sie. »Ernestine Aubert. Ich weiß nicht, ob sie immer noch dort lebt.«

»Sind Sie jemals mit Ihrer Gouvernante in Paris gewesen?«, fragen sie.

»Nein«, sagt sie. »Wir sind immer in die Normandie gefahren.«

»Sind Sie mit jemand anders nach Paris gefahren?«

»Nein. Der einzige andere Ort in Frankreich, den wir besucht haben, war die Provence. Unsere Freundin Myrtle hat uns dahin mitgenommen, als ich meinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert habe.«

»Irgendwelche Familienurlaube?«

»Überhaupt nicht.«

Das sei schon mal hilfreich, sagen sie und machen sich ein paar Notizen. Sie verstehen, dass die Situation schwierig sein könnte angesichts der familiären Verbindung, aber ob ihr Cousin jemals Andeutungen gemacht habe, dass er eventuell … Sympathien  … nein, wahrscheinlich wäre es besser zu sagen Zweifel hatte? Ob er Zweifel gehabt habe? Ob sie von irgendeinem Grund wisse, warum er seinen Auftrag nicht ausführen sollte …?

Sie lassen den Satz in der Luft hängen. Sie weiß, dass man von ihr erwartet, die Lücken zu füllen, beschließt aber, ihnen hier nicht zu helfen. »Ich bin nicht sicher, was Sie mich gerade fragen«, erwidert sie. »Ich habe seit einem Jahr keinen Kontakt mehr zu meinem Cousin gehabt. Ich weiß nicht, was er in Paris macht. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso ich Ihrer Meinung nach darüber Bescheid wissen sollte. Das ist doch sicher nicht der Grund, warum Sie mich zurückgeholt haben, oder?«

Der Gereiztheit ihres Tons begegnen die beiden Männer mit ruhiger Gleichgültigkeit. Sie entgegnen, sie sei zu ihrer eigenen Sicherheit zurückgeholt worden, infolge des Zusammenbruchs ihres Bezirks. Sie suchten einfach nach Informationen, weil sie sich Sorgen machen, dass Digby kompromittiert sein könnte, sei es aus freien Stücken oder durch einen feindlichen Eingriff.

Einer der Männer nimmt ein Blatt Papier aus der Mappe und schiebt es vor den anderen, der es anschaut und dann sagt: »Sie haben auch einige Zeit in Österreich verbracht. Ist das korrekt?«

»Zum Skifahren«, sagt sie. Und in diesem Moment wird ihr klar, warum sie von Männern aus einer anderen Abteilung befragt wird: weil sie nicht mehr zu ihrem eigenen Team gehört. Sie ist mit einem möglichen Agenten des Feindes verwandt. Sie steht unter Verdacht.

Später steigt sie in den überfüllten Zug zurück nach Dorset, in dem sie sich auf einen Fensterplatz quetscht, von dem aus sie auf den Abendhimmel starrt, während sie London hinter sich lassen. Dunkle Wolken türmen sich über der Landschaft, sie wirken solide wie ein Schlachtschiff, und vereinzelte Regentropfen rinnen zitternd übers Fenster. Am Horizont zieht sich ein einzelnes zitronengelbes Band entlang, wie eine Lücke unter einer Tür. Die kahlen Bäume entlang der Schienen sind Klumpen von Ästen, skelettartige Hexenfinger, die wie wild nach oben deuten, Tausende von unverhüllten Anschuldigungen.

Sie ist so in Gedanken versunken, dass sie beim Erscheinen des Schaffners, der sich durch den Gang mit dicht an dicht stehenden Reisenden geschoben hat und jetzt bitte ihre Fahrkarten sehen will, automatisch in ihrer Manteltasche nach Claudines papiers sucht.

Ein nach Bier riechender Seemann, der mit dem Seesack auf dem Schoß neben ihr sitzt, sagt liebenswürdig: »Ich verlier ständig meine Fahrkarte. Ich würd meinen Kopf verlieren, wenn er nicht angeschraubt wär.« Sein großer Körper stößt bei jedem Ruckeln auf den Schienen gegen ihren, und sie verspürt den Drang, ihr Messer zu ziehen und es ihm mitten ins Gesicht zu rammen. Doch sie hat ja gar kein Messer mehr, und sie hat auch keine papiers . Sie hat nur einen einfachen Fahrschein nach Dorchester. (»Wir melden uns, wenn wir Sie brauchen sollten«, hatten die Männer von der Org gesagt, »und wenn Sie etwas von Ihrem Cousin hören sollten, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns Bescheid geben würden. Sofort.«)