Schattenspiel

November 1943

Schlaflosigkeit wird man nur schwer wieder los. Cristabel ist um fünf Uhr morgens aufgewacht und ans Meer gegangen, wo sie das einzige Lebewesen außer den Silbermöwen mit ihren traurig klingenden Rufen ist: lange Rufe, dann wiederholte Krächzer. Dah dah dit dit dit dit. Dah dah dit dit dit dit.

Die vormenschliche Welt vor Sonnenaufgang ist von einer wilden, mitreißenden Freiheit geprägt. Das Meer ist dickflüssig und schwer, ein Wind aus Nordost erzeugt hohe, harte Wellen. Es liegt ein Gefühl von unglaublicher Aktivität in der Luft. Die langen Gräser an der Küste biegen sich und zittern, biegen sich und zittern, es sieht aus, als würden auch über sie Wellen hinweglaufen.

Der Kiesstrand unterhalb von Ceal Head liegt im tiefen Schatten, die Klippen zeichnen sich schwarz vor dem Himmel ab. Das erste goldene Licht der Morgendämmerung wird auf die entfernten Gebäude am Meer in Weymouth fallen, bevor sie sich mühsam ihren Weg nach Chilcombe bahnen.

Beim Theater liegen Blätter auf dem Boden verstreut. Die Gemüsegärten sind umgegraben und mit einer Schicht Kompost bedeckt worden. Jemand hat alle Himbeerzweige herausgerissen und säuberlich mit Zwirn verschnürt.

Als sie die Scheunentüren aufstößt, findet Cristabel Spaten und Schubkarren vor. Sie stößt sie mit dem Fuß beiseite und klettert zum hinteren Teil der Scheune, wo sie unter einem Haufen Sackleinwand einen Stapel von hölzernen Kulissen findet, ein Durcheinander von Bühnenscheinwerfern und Truhen voller Kostüme. Ein paar ausgefranste ausgestopfte Tiere. Ein Weinpokal aus Pappmaschee. Sie zieht die Dinge eins nach dem anderen hervor und wischt den Staub ab.

Gegen sieben Uhr hat sich die Fläche zwischen den Knochen mit flach ausgelegten Kulissenstücken gefüllt – eine Schlossmauer, ein Baum, ein Tor –, zusammen mit ein paar Kostümen, Requisiten und ausgestopften Tieren. Die Sonne ist inzwischen über den Horizont gekrochen und hat Weymouth mit ihrem ersten Licht gesegnet, doch das Theater liegt immer noch im Schatten, und sie friert. Im Häuschen findet sie einen alten Picknickkessel und einen wackligen Petroleumkocher, den sie wieder ins Leben zurücklockt. Sie dreht die rußig gelben Flammen zurück zu einem zischenden Blau und stellt dann den Kessel auf das unsichere Gestell. Das Getränk, das am Ende herauskommt, ist eher Rost als Tee, aber sie tut einfach Zucker rein und nimmt es mit nach draußen. Dort setzt sie sich mit einer abgestoßenen alten Tasse auf die Kulissen und schaut zu, wie das Sonnenlicht sich Zentimeter für Zentimeter weiter an sie heranschiebt.

Im Osten, wo der Himmel langsam hell wird, kann sie die scharfen Umrisse des edlen Profils von Ceal Head erkennen und die hervorspringenden Landzungen dahinter, eine Reihe von noblen Nasen, die sich ins Wasser erstrecken wie die Scherenschnittporträts einer viktorianischen Familie, vom Vater bis zum Kind und immer so weiter, bis in die Zukunft. Das Meer rollt in Wellen auf sie zu, und der Klang, wenn es in der Ferne und dann wieder ganz nah ans Ufer schlägt, ist ein dumpfer Kampf, mit Echos und Effekten und Nacheffekten.

Eine helle Stimme hinter ihr sagt: »Ich hab noch nie einen Löwen gesehen.«

Sie dreht sich um und entdeckt einen ungefähr fünfjährigen Jungen in Wollpulli und Shorts. Er hat einen struppigen Terrier an einem Strick dabei und steht neben dem Löwenkopf in der Mitte ihres Theaterplunders.

»Warum besteht er nur aus einem Kopf?«, fragt er. »Wo ist der Rest?«

»Er besteht nur aus einem Kopf, damit er an der Wand in meinem Haus aufgehängt werden konnte«, erklärt Cristabel. »Mein Großvater hat ihn erlegt.«

»Oh«, macht der Junge und streichelt dem Löwen nachdenklich das Maul. »Ich würde gerne den Kopf meines Lehrers an die Wand hängen. Oder den Kopf von Hitler. Meine Mutter sagt, dass er ein Teufel ist. Was ist das alles für ein Zeug hier?«

Cristabel nimmt einen letzten sandigen Schluck Tee und steht auf. »Das haben wir früher in unseren Theaterstücken verwendet. Vor langer Zeit. Ich habe mir gedacht, ich könnte es mal aufräumen, während ich hier bin. Ich habe sonst nämlich nichts zu tun.«

»Ich hab noch nie ein Theaterstück gesehen«, sagt der Junge.

»Ich habe früher meine eigenen Stücke aufgeführt, als ich so alt war wie du«, erzählt Cristabel. »Wir haben immer ein Bettlaken als Vorhang benutzt. Warte, ich zeig’s dir.«

Sie wühlt zwischen den Kostümen und zieht einen samtenen Umhang heraus, dann sucht sie noch ein Stück Faden in der Scheune, das sie zwischen den Walknochen festbindet. Als sie den Umhang über den Faden hängt, ruft eine Frauenstimme: »Da bist du ja, Norman!«

Cristabel dreht sich um und sieht eine Frau auf sich zukommen, die aussieht wie Betty Brewer in groß. Bestimmt ist das eine von Bettys jüngeren Schwestern. Diejenige, die den Bauern geheiratet hat. Die Frau trägt einen Stahlhelm, einen schicken, etwas offiziell anmutenden Mantel und dazu ein Armband.

»Ach, Sie sind’s, Miss Cristabel«, sagt die Frau. »Wir haben einen Bericht über ungewöhnliche Aktivitäten am Strand erhalten. Sie geben hier doch dem Feind keine Signale, oder?«

»Nein. Tut mir leid. Nichts dergleichen. Joyce, stimmt’s?«

»Ganz genau, und wie ich sehe, haben Sie auch schon meinen Norman kennengelernt. Ich hoffe, er fällt Ihnen nicht auf die Nerven. Was machen Sie denn jetzt so, Miss Cristabel? Ich dachte, Sie wären irgendwo im Einsatz.«

»Ich bin bei der Erste-Hilfe-Einheit. Im Moment habe ich Urlaub.«

»Erste Hilfe? Sehr vernünftig. Man kann nie wissen, wann man mal Erste Hilfe braucht. Sie müssen mal einen Vortrag im Gemeindesaal halten, wenn Sie Zeit haben. Wir suchen immer nach Rednern.«

»Ist das der neue Saal?«

»Ja, natürlich«, sagt Joyce. »Wenn alles glattgeht, führen wir dieses Jahr zu Weihnachten unsere erste Pantomime auf.«

Norman meldet sich zu Wort. »Die Erste-Hilfe-Dame kennt sich mit Theaterstücken aus.«

»Natürlich«, sagt Joyce. »Die haben Sie doch genau hier aufgeführt, war das nicht so? Ich kann mich erinnern, dass ich davon gehört habe. Es hieß, dass die Leute sogar aus London gekommen sind, um zuzuschauen.«

»Haben Sie auch mal eins gesehen?«, erkundigt sich Cristabel.

Joyce lacht. »Das ist nicht die Art von Veranstaltung, zu der man mich einladen würde. Obwohl Betty – deine Tante Betty, Norman – auch manchmal mitgespielt hat. Sie durfte sogar einmal eins von ihren Kostümen behalten, als sie eine Fee gespielt hat, das war ein wunderschönes Stück. Jetzt passt natürlich keine von uns mehr rein, zu dumm.«

»Ein Sommernachtstraum« , sagt Cristabel. »Da haben wir Eintrittskarten verkauft. Da brauchte man gar keine Einladung.«

»Na, wenn Sie Zeit oder Lust haben, Miss Cristabel, würden wir uns sehr freuen, wenn Sie Ihre professionelle Meinung zu unserer kleinen Pantomime abgeben würden. Das Weihnachtskomitee trifft sich immer donnerstags, nach dem Whist, Sie können einfach vorbeikommen. Ich werd den anderen erzählen, dass wir uns unterhalten haben.«

Cristabel lächelt vage.

»Wenn ich wieder herkomme, kannst du mir dann ein Stück vorspielen?«, fragt Norman.

»Norman!«, mahnt Joyce.

»Das tue ich«, verspricht Cristabel, »also musst du wirklich wieder herkommen.«

»Bitte machen Sie sich nicht zu viel Mühe seinetwegen, Miss Cristabel«, sagt Joyce und nimmt ihren Sohn bei der Hand.

»Was meinst du, was in dem Stück vorkommen sollte, Norman?«, fragt Cristabel.

Norman überlegt. »Tiere, die Menschen fressen?«

»In Ordnung«, sagt sie.

Cristabel sieht ihnen nach, als sie davongehen, dann betrachtet sie die Walknochen, die halb verborgen sind hinter dem zerknautschten Umhang, als wären sie verkleidet. Sie hätte dem Jungen nicht versprechen sollen, extra für ihn eine Aufführung zu machen. Sie kann nicht alles alleine machen. Trotzdem, wenn der Umhang jetzt ein Laken wäre, könnte sie mit einer Taschenlampe von hinten hindurchleuchten und eine Art einfaches Schattentheater aufführen.

Eigentlich gar keine so schlechte Idee. Vielleicht sollte sie Hurrikan-Lampen benutzen, um Schatten aus verschiedenen Richtungen zu erzeugen. Vielleicht noch ein paar Geräusche, wie in den Radiohörspielen. Sie könnte das Stück in der Abenddämmerung aufführen, damit die Schatten sich besser abzeichnen, und auch den Freiwilligenverband für Vaterlandsverteidigung benachrichtigen, damit sie nicht verhaftet wird. Wenn Digby nur hier wäre, könnte er ein paar von den Stimmen übernehmen. Dann überfällt sie der Gedanke an ihn vollkommen und blendet alles andere aus. Sie schließt die Augen und wartet darauf, dass der Schmerz verschwindet. Sie ist ja nicht mal sicher, ob es überhaupt Schmerz ist, es könnte genauso gut Grauen sein, es könnte Wut sein, sie schafft es einfach nicht, sich ihr Gefühl näher anzuschauen, seine einzelnen Teile zu identifizieren.

Nach einer Weile schlägt Cristabel die Augen auf. Die Sonne steht jetzt über den Klippen und bewegt sich langsam ins Theater. Sie muss zurück zum Haus, denn sie hat noch nichts gegessen und bekommt bald einen Riesenhunger. Aber vorher muss sie noch schnell ein bisschen in der Scheune wühlen und schauen, ob da noch was ist, was sie brauchen kann.