Januar 1944
Cristabel wird in der ersten Woche des neuen Jahres schließlich doch wieder in die Baker Street bestellt. Es ist ein bitterkalter Tag in London. Ein paar vereinzelte Schneeflocken schweben von einem schweren Himmel herab. Im Hauptquartier der Org wird sie in ein karges Besprechungszimmer geführt, das nur von einer nackten, von der Decke hängenden Glühbirne beleuchtet wird. Sie hört die Stimme ihrer Stiefmutter: Lampen, meine Liebe, sollte man niemals über dem Kop f aufhängen. Das lässt einen furchtbar altern. Da sieht man praktisch aus wie eine Mumie .
Ihre Anweisungen bekommt sie so höflich und sachlich, wie sie erwartet hatte. Wären Teppiche im Gebäude gewesen anstelle des billigen Linoleumbodens, hätte sie sich gedacht, dass ganz schön viel daruntergekehrt worden war. Man sagt ihr, man habe zwar immer noch nichts von ihrem vermissten Cousin gehört, aber man erkenne an, dass Gilberte eine effiziente Agentin sei und dass es keinen Grund gebe, ihre Rückkehr an die Front länger hinauszuzögern. Aufgrund dieser harmlos wirkenden Herangehensweise vermutet sie, sie hat ihre Rückkehr nur der Tatsache zu verdanken, dass sie mehr Agenten brauchen. Sie hält sich vor Augen, dass es letztlich, wie es Perry einst formulierte, eine Frage der Zahlen ist.
»Sie haben meine Rückkehr an die Front bereits hinausgezögert«, antwortet sie, »aber ich kann es selbstverständlich kaum erwarten, anzufangen, egal mit welcher Mission ich betraut werde. Ich hoffe, es gibt keine Fragezeichen mehr bezüglich meiner Integrität.«
Sie schütteln die Köpfe und erwähnen das Protokoll, und sie liest aus ihrem steifen Lächeln dasselbe Gefühl von Verzweiflung, das sie verspürt, was nahelegt, dass sie auch die ganze Liste von möglichen Gründen für Digbys Schweigen durchgegangen sind – Digby ist gefangen und nicht in der Lage zu kommunizieren; Digby hat irgendeine Verletzung erlitten oder einen Nervenzusammenbruch gehabt; Digby wird gezwungen, für die Deutschen zu arbeiten; Digby arbeitet freiwillig für die Deutschen und hofft auf einen Sieg der Nazis –, ohne irgendetwas Konkretes zutage zu fördern, also haben sie sich wieder dringenderen Angelegenheiten zugewandt. Sie persönlich hat die letzte Option natürlich gestrichen, aber alles andere bleibt möglich.
»Nur dass wir uns recht verstehen«, sagt sie. »Glauben Sie, mein Cousin könnte irgendein Risiko für unseren Einsatz in Frankreich darstellen?« Es ist am leichtesten, ganz objektiv und professionell über ihn zu reden.
Sie blinzeln und verneinen und sagen, sie hofften, dass das nicht der Fall sei. In sämtlichen Zeugnissen seiner Ausbildungsstätten wird seine Loyalität zu seinen Agentenkollegen betont. Außerdem gelte es jetzt, einen größeren Zusammenhang zu berücksichtigen.
Cristabel nickt und denkt an die zunehmende Zahl der Truppen, die in der letzten Zeit nach Dorset gekommen sind. Des Weiteren ist ihr auf dem Weg zum Besprechungszimmer aufgefallen, dass in vielen von den abgeteilten Büros Feldbetten aufgestellt worden sind und dass vor den Zimmern, in denen die höchsten Offiziere sitzen – die Colonels und Brigadegeneräle mit den stählernen Blicken –, viele Besucher warten. Die, die bereits drinnen sind, kommen nicht wieder heraus, sie hört nur ab und zu, wie der barsche Befehl ertönt: »Reinkommen!«
Eine Sekretärin wird losgeschickt, und mehrere Aktenmappen aus Pappe werden ins Besprechungszimmer gebracht. Dann bittet man die Sekretärin, den Raum zu verlassen und die Tür hinter sich zuzumachen. Eine Landkarte von Nordfrankreich wird auf dem Tisch auseinandergefaltet.
»Die andere Möglichkeit wäre die, dass sich Digby unters Volk gemischt hat«, sagt Perry, als sie sich nach ihrer Besprechung auf einen Drink treffen. Er hat einen dunklen viktorianischen Pub in Whitehall ausgesucht, der voll mit Pfeifenrauch und hustenden alten Männern in schwarzen Anzügen ist: Parlamentsabgeordnete, Beamte, die ganze trockene Maschinerie der Macht. Ein monochromer Hintergrund, in dem Perry mit seiner Uniform mehr oder weniger verschwindet. Cristabel genießt es wider Willen – dieses Gefühl, dabei zu sein, in ihrer eigenen Uniform.
Sie hatte Perry angeschrieben, vorgeblich um nach Lebensmitteln für Flossie zu fragen, aber am Ende schlug sie vor, dass sie auf das neue Jahr trinken sollten, weil sie dachte, dass sie mit ihm vielleicht über Digby reden konnte. Perry hatte immerhin vorgeschlagen, dass Digby sich der Org anschloss, und er verstand sich auf die Tätigkeit von Geheimagenten. Außerdem hatte sie die Vermutung, dass er bereits viel besser über die Situation in Paris Bescheid wusste als sie, da er Zugang zu höheren Ebenen von Information hatte.
Perry fährt fort: »Es ist eben immer ein Risiko, wenn man unausgebildetes Personal für geheime Missionen einsetzt. Kein Wunder, dass manche von ihnen von der Piste abkommen. Unsichtbarkeit kann für Uneingeweihte berauschend sein.« Sein kreideweißes Gesicht wird vom Winterlicht angeleuchtet, das schräg durch das mit Reif bedeckte Fenster fällt. Er wirkt distanzierter als je zuvor, asketisch wie ein Heiliger, ein Geheimcode von einem Mann.
»Wir sind nicht unausgebildet«, wendet Cristabel ein.
»Vier Monate, oder? Zwischen deiner Rekrutierung und deinem Einsatz. Obwohl ich annehme, dass das reichen könnte für die Art von kurzfristiger Rolle, die die Org von dir zu spielen verlangt.«
»Das ist kein Osterspaziergang«, sagt Cristabel. »Wir müssen die Verbindungsperson für immer mehr Résistance-Gruppen spielen, jede davon mit ihrer eigenen Meinung, wie der Krieg gewonnen werden sollte.«
»Noch so ein Thema, das viel zu heikel ist, um Anfänger damit zu betrauen. Es ist eine grundlegende Sicherheitsregel, dass man jedes Mal, wenn man sein Netzwerk vergrößert, auch das Risiko vergrößert, enttarnt zu werden«, doziert Perry. »Oder, wie mein alter Mentor es immer formuliert hat: Drei können ein Geheimnis bewahren, wenn zwei von ihnen tot sind.«
»Du hast Digby doch selbst für die Arbeit in Frankreich empfohlen«, sagt sie.
»Er spricht Französisch – er war das, was sie wollten.«
Cristabel nippt an ihrem Drink. »Aber du selbst hättest ihn nicht eingesetzt.«
Perry schüttelt den Kopf. »Digby ist zu sehr der Sohn seiner Mutter.«
Cristabel hat sofort ein Bild vor Augen: Das Foto, das Rosalind neben ihrem Bett stehen hatte, das von Digby und ihr, wie sie ihre fein geschnittenen Gesichter nebeneinanderhielten, in zwillingshafter Schönheit wie ein Katzenpaar.
Perry schwenkt den Whisky in seinem Glas. »Es gibt Menschen, die sofort alle Ausgänge sehen, sobald sie einen Raum betreten. Ich glaube, du könntest noch vor deiner jetzigen Rolle Expertin darin geworden sein, wenn man sich anschaut, wie sehr du soziale Bindungen verabscheust.«
»Auf drei Uhr von mir aus gesehen ist eine doppelte Tür, die auf die Straße führt«, sagt Cristabel, »und eine Tür auf elf Uhr, die zu den Toiletten führt. Hinter mir ist eine Tür für die Bedienungen, ungefähr auf sieben Uhr, aber ich würde mal vermuten, die führt in die Kellerräume, und ein Torbogen hinter der Bar, der in ein Hinterzimmer führt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es deinem Cousin jemals einfallen würde, nach den Ausgängen zu suchen oder zu erwägen, warum das nötig sein könnte«, sagt Perry. »Seine Mutter war ähnlich beeinträchtigt.«
»Wir hatten in Schottland einen Ausbilder, der uns erzählt hat, dass Churchill unter einer Landkarte schläft, auf der alle denkbaren Punkte für eine Invasion von England eingezeichnet sind, damit sein erster Gedanke beim Aufwachen gleich den Bedrohungen gilt, denen wir ausgesetzt sind«, berichtet Cristabel.
Perry hebt sein Glas. »Er ist ein sturer Hund, aber er weiß, wie man einen Krieg führt.«
Cristabel trinkt ebenfalls und sagt dann: »Du hättest Digby nicht vorgeschlagen, wenn du der Meinung gewesen wärst, dass er ein Risiko darstellen könnte.«
»Ich habe geglaubt, er könnte eine Chance auf Erfolg haben«, sagt Perry. »Er besitzt ja durchaus ein gewisses Charisma. Außerdem hat er mir selbst gesagt, dass er mal ein bisschen Abwechslung von diesen ganzen Panzern brauchte. Bei seiner Liebe zum Rampenlicht dachte ich mir, dass ihm diese laute Arbeit gefallen wird, auf die ihr Leute euch spezialisiert habt.«
»Laut?«
»Sachen in die Luft sprengen. Allerdings ist das meiner Meinung nach nicht die Art, wie ein Geheimdienst arbeiten sollte.«
»Ich nehme an, du wirst mir jetzt gleich verraten, wie er deiner Meinung nach arbeiten sollte, was vermutlich mit der Arbeit zu tun hat, die ihr so macht.«
»Allerdings«, sagt er. »Wir haben Agenten da draußen, die noch lange dort sind, nachdem eure Leute nach Hause gegangen sind, begleitet von lautem Applaus und Zeitungsartikeln. Ihr werdet ihre Namen nie erfahren, aber sie sind wichtig.«
»Was machen sie denn?«
Perry streicht mit der Hand über die polierte Tischplatte, als wollte er sie glätten. »Sie sammeln Informationen. Ist das nicht wunderschön ausgedrückt? Fingerabdrücke. Stundenpläne. Schriftstücke. In den Schriftstücken eines Staates finden wir seine Schwächen.«
»Was wir tun, hebt die Kampfmoral. Unsere Arbeit lässt die Franzosen wissen, dass sie nicht alleine sind.«
»Cristabel, es ist ja schön und gut, wenn ein Pulk weingetränkter Franzosen auf einem Hügel sitzt und bereit ist, seine Waffen abzufeuern, wenn die Alliierten kommen, aber bevor wir nicht die genauen Positionen der deutschen Küstenverteidigung kennen, haben die Alliierten keine Chance, überhaupt zu landen.«
Das Argument muss sie ihm lassen. »Na gut, dann eben beide. Beide sind wichtig.«
»Im Moment schon noch«, antwortet er, »aber es ist unwahrscheinlich, dass nach dem Krieg die Kampfmoral des französischen Bauernstandes ein entscheidendes Thema sein wird. Und deswegen wird eure Organisation ihr Ende finden, sobald wir den Sieg errungen haben. Irgendwie eine absurde Vorstellung, dass ihr auf euren eigenen Untergang hinarbeitet.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen.«
»Das ist schon beschlossene Sache. Von höchster Stelle entschieden.« Er deutet auf die Männer, die um sie herum sitzen. »Es gibt keinen Bedarf für zwei Geheimdienste. Eurer wird sein natürliches Ende finden – und was willst du dann tun?«
Cristabel schaut sich um und betrachtet die Angehörigen dieser exklusiven Gesellschaftsschicht. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie oft gefragt werden, was sie als Nächstes tun werden. Ihre Vormachtstellung scheint so schlicht und einfach wie eine Fahrt mit der Rolltreppe zu sein: von der Privatschule über Oxbridge nach Sandhurst in die Geschäftswelt oder ins Parlament, Moorhuhnjagd, Fliegenfischen, sich eine Frau aussuchen, so wie man seine Wäsche aus der Reinigung abholt, Söhne, Portwein, Zigarren, die burgunderroten Salons der eigennützigen Entscheidungen.
Wohingegen sie ständig ausgebremst wird und sich Fragen gefallen lassen muss. Eine Reihe von Straßensperren, an denen jedes Mal wieder ihre Identität geprüft wird. Um sie daran zu erinnern, dass sie nicht da ist, wo sie hingehört.
»Ich denke nicht an die Zeit nach dem Krieg«, sagt sie. »Ich denke an meine Freunde in Frankreich. Den Bauernstand.«
Perrys Mund zuckt. Ihn haben die Franzosen schon immer irritiert, und das ist durch seine Abneigung gegen de Gaulle nur noch schlimmer geworden. Und wie auf ein Stichwort beginnt er jetzt, über ihn zu reden, er sagt, dass de Gaulle unglaublich arrogant sei, ein General im Exil, der sich aufführt, als hätte er eine Armee zu befehligen, nicht bloß eine geliehene Wohnung in Mayfair und gelegentlich etwas Sendezeit auf der BBC .
Cristabel hat mehr Mitleid mit den isolierten Franzosen. Sie weiß, dass der Widerwillen, sich einem Eroberer zu beugen, manchmal die beste, die einzige Waffe sein kann.
»Er gibt ihnen Hoffnung«, sagt sie.
»Er gibt ihnen Illusionen«, schnieft Perry.
»Hoffnung ist eine Illusion«, erwidert sie. »Deswegen ist sie ja so mächtig.« Sie sieht, wie er einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr wirft, und fügt hastig hinzu: »Perry, wissen deine Agenten vielleicht, wo Digby ist und was er macht?«
»Frankreich ist nicht mein Bereich«, sagt er, und sie merkt, dass er sich von ihr entfernt hat, sich abgeschottet hat wie eine schlafende Eule.
»Wenn ich dich fragen würde, könntest du es dann für mich herausfinden?«
Er betrachtet sie. »Und, wirst du mich fragen?«
»Warum sollte ich fragen müssen, Onkel Perry?«, sagt sie. »Ich bin sicher, wenn deine Agenten irgendwelche Informationen über einen britischen Agenten haben, würden sie sie uns ganz selbstverständlich mitteilen.«
Sein Lächeln ist milchig trüb wie Gift. »Onkel«, wiederholt er. Und dann fügt er hinzu: »Hinterhältigkeit steht dir nicht besonders gut zu Gesicht, Cristabel.«
Sie sagt nichts, fühlt sich aber schuldig wie ein kleines Kind.
Er sagt: »Ich habe noch einen Termin bei White’s. Ich würde dich ja mitnehmen, aber ich kann nicht. Es ist ein Herrenclub.« Er steht auf und streicht seine Jacke glatt. »Sie nehmen es sehr genau mit ihren Aufnahmekriterien. Der arme Master Kovalsky muss vor der Tür warten wie ein treuer Hund. Du kommst sicher auch mit der U-Bahn nach Hause, oder?«
Cristabel geht zur U-Bahn, um zum Bloomsbury Hotel zu gelangen, das von der Org gebucht worden ist. Dort soll sie wohnen, bis es Zeit wird, wieder zum Flughafen zu fahren. Die muffige Bahn ist halb leer, nur ein stämmiger Geschäftsmann döst auf dem Sitz gegenüber. Sie hebt die Zeitung auf, die er weggelegt hat, und während der Zug durch seine schwarzen Tunnel braust, liest sie, wie die Partisanen durchhalten, gegen alle Erwartungen: die Widerstandskämpfer in Jugoslawien und diejenigen, die den Deutschen in Polen und auf dem Balkan das Leben schwer machten. Sie denkt an alle, die sich gerade mit geliehenen Waffen in den schwitzenden Händen in Ruinen verstecken und ihre letzten Gebete murmeln.
Sie überfliegt die Kleinanzeigen. Die Geburten, Eheschließungen, Todesfälle. Vermisst auf See. Auf dem Felde gefallen. Eltern, die um Informationen über Söhne in Kriegsgefangenenlagern bitten. Münzen- und Medaillenankauf gegen bar. Kühlschränke und Pelzmäntel zu verkaufen. Eine junge Witwe bittet um Unterstützung für ihre Kinder. Eine berühmte Hellseherin wünscht ihren Freunden und Kunden ein friedliches und siegreiches 1944.
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Da wird ihr klar, was sie Perry hätte antworten sollen. Dass das Spekulieren über die Zukunft ein Luxus ist, den sich nur solche Menschen erlauben können, die davon ausgehen, dass sie eine haben. Der Zug fährt ratternd in die Haltestelle ein. Sie legt die Zeitung wieder neben den schlafenden Geschäftsmann und geht zu ihrem vorübergehenden Zuhause.