März 1944
Cristabel hatte sich immer gewünscht, dass ihr Leben eine Geschichte wäre. In jedem ihrer geliebten Abenteuerbücher hatte es einen einführenden Brief des Autors gegeben, der mit den Worten begann: »Meine lieben Jungen«. Das gab ihr das Gefühl, zu einem Club zu gehören, der zu großen Dingen bestimmt war. Henty sprach nie herablassend zu seinen Jungen. Sie waren ebenso vertraut mit den Gewissheiten des Lebens wie er: dass das britische Empire das beste auf der ganzen Welt war, aber dass man Mut nicht nur auf englischer Seite finden konnte, denn, liebe Jungen, wir alle haben unsere Schlachten zu schlagen.
Abgesehen von Onkel Willoughby war Henty der Erste, der sie voller Zuneigung anredete. Er war der Erste, der darauf beharrte, dass ihr Benehmen wichtig war, und der Erste, der ihr die Idee in den Kopf setzte, sie könnte eine Spur in der Welt hinterlassen, was bedeutete, dass sie existiert hatte.
Deswegen fühlt sie sich bestätigt, wann immer sie heute ihre Militärpistole in ihr Halfter schiebt oder den Reißverschluss an ihrem tarnfarbenen Fallschirmanzug zuzieht: als wäre sie endlich in ihrer rechtmäßigen Geschichte angekommen. Immerhin war die von Henty beschriebene Welt eine, in der es ständig vor Kriegen köchelte, in der ein mutiger Junge nur auf eine Brigg zu springen brauchte, um kurz darauf Militärattaché in der preußischen Armee zu sein oder einen Musketierzug durch den Morgennebel zu führen, und die kleine Cristabel war mit ihnen mitmarschiert, mit hoch erhobenem Holzschwert.
Doch neben diesem Gefühl von Rechtmäßigkeit empfand sie immer ein gewisses Unwohlsein, eine leichte Beschämung. Sie leidet unter dem nagenden Gefühl, dass sie irgendwie gesehen werden könnte, sobald sie in ihre Geschichte einsteigt. Weil die Fantasierolle des Kindes in der Geschichte nicht mit der realen Rolle des Kindes übereinstimmt. Denn wenn der Duke of Wellington oder Admiral Nelson jemals gesehen hätten, dass sich ein kleines Mädchen ihren Streitkräften angeschlossen hatte, wäre dieses Mädchen nach Hause geschickt worden.
Sie hat nie an sich selbst gezweifelt und sieht auch keinen Grund, warum sie jetzt damit anfangen sollte, aber ihr wird immer klarer, dass sie nur aufgrund einer Aneinanderreihung von zeitlich begrenzten Schlupflöchern dort ist, wo sie jetzt ist – auf dem Boden einer Halifax, die über Nordfrankreich holpernd durch Turbulenzen fliegt. Sie ist eine Anomalie. Der Fallschirmanzug, den sie anhat, ist nicht für eine Frau gedacht: Er spannt an der Brust, und seine Ärmel sind zu lang. Sie passt von Natur aus nicht in diese Geschichte, und sie hatte immer angenommen, dass sie hineinpassen würde. Dass es etwas sein würde, dem sie sich so leicht anschließen könnte, als würde sie bei einer Parade mitlaufen.
So hatte es sich während der ganzen Ausbildung in Schottland und auch bei ihrer ersten Mission in Frankreich angefühlt – dass sie mit anderen mitmarschierte. Doch jetzt, nachdem sie gesehen hat, wie schnell man von der Org beiseitegewischt werden kann, und nach dem Gespräch mit Perry ist sie sich nicht mehr so sicher. Perry hat wahrscheinlich recht mit seiner Behauptung, dass es die Org nach dem Krieg nicht mehr geben wird, und selbst wenn, ist es wenig wahrscheinlich, dass man sie behalten und langsam, aber sicher befördern würde, bis sie am Ende die Position eines Brigadiers hätte.
Sie schlingt die Arme um ihre Knie und runzelt die Stirn. Es ist irritierend, so darüber zu denken, und ebenso irritierend ist es, wenn man feststellt, dass es einen kränkt. Doch Onkel Willoughby hat ihr immer eingeschärft, sie solle sich nie damit beschäftigen, was die Lamettahengste treiben, sondern sich immer schön um den Mann vor sich und den hinter sich sorgen.
Als sie ihren Fallschirmspringerhelm aufsetzt, überlegt sie, was Henty selbst zu ihr gesagt hätte, wenn sie sich jemals begegnet wären. Sie stellt sich vor, dass er ein bisschen erstaunt gewesen wäre beim Anblick einer Frau in Militärkleidung, aber dann hätte er sie sicher herzlich gegrüßt. Er stammte immerhin aus einer Zeit, in der man Männer als Riesen betrachtete und ihre Art, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, darin bestand, über die Köpfe anderer hinwegzudröhnen. Wie sehr sie sich so eine kräftige Stimme gewünscht hätte und jemanden, der ihr sagte, dass sie recht hatte.
Der Disponent macht die Luke auf und wirft Arme voll britischer Propaganda-Flugblätter hinaus. Er ruft: »Sicht wird schlechter!«
Cristabel schiebt sich vorwärts, damit sie ihre Fallschirmleine an den Flugzeugrumpf anklipsen kann, und dann späht sie durch die Luke auf eine graue Wolkenschicht. Sie sieht überhaupt nichts: keine Straßen, keine Felder, kein Empfangskomitee. Sie wird blind springen müssen. Der Wind heult durch das rüttelnde Flugzeug, und die Angst ballt sich in ihrer Kehle zusammen. Sie schluckt immer wieder, in dem Versuch, sie wieder zurückzudrängen.
Der Disponent unterhält sich über die Sprechanlage schreiend mit dem Piloten, dann kommt er zu ihr herüber, um ihr direkt ins Ohr zu rufen: »Wir können da unten niemanden sehen, aber wir kriegen keine bessere Chance mehr. Wollen Sie’s trotzdem versuchen?« Sie nickt. Sie hat schon einmal einen Versuch, in Frankreich zu landen, abgebrochen, sie möchte nicht noch einen. Der Disponent unterrichtet den Piloten von ihrer Entscheidung, das Licht schaltet von Rot auf Grün, und sie springt, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen kann.
Die Wolken kommen ihr entgegengerast, und sie wappnet sich instinktiv, Knie hoch, Ellbogen rein, als wäre es feste Materie, doch sie fällt natürlich einfach hindurch. Ihr Fallschirm öffnet sich mit einem Wummph , während sie durch die Wolke stürzt, eine feuchte, neblige Masse, in der sie trudelnd die Orientierung verliert. Dann kommt sie plötzlich auf der anderen Seite wieder heraus, und eine französische Hügelkette rast ihr entgegen. Sie liegt atemlos keuchend auf dem Rücken und ist froh, auf der Erde gelandet zu sein und nicht auf dem Dach der Kathedrale von Rouen. Als sie hochschaut, ist das Flugzeug nirgends zu sehen. Ihre Geschichte ist auch verschwunden, jetzt ist sie wieder auf sich selbst gestellt. Sie hievt sich hoch.
Sie muss mehrere Stunden durch Felder und über Landstraßen stapfen – jedes Mal, wenn sie ein Auto hört, springt sie in einen Graben –, bevor sie einen Bahnhof erreicht. Von dort reist sie in die Kleinstadt in der Normandie weiter, wo sie ihren Organisator suchen soll, der sie eigentlich in Empfang hätte nehmen sollen, als sie abgesprungen ist. Er ist ein sachlicher Waliser – Deckname Antoine – und nimmt ihre Verspätung kaum zur Kenntnis. Stattdessen führt er sie sofort in einen Lagerraum im hinteren Teil der Garage, in der er arbeitet. »Hier geht es hoch her«, sagt er und hebt ein uraltes Fahrrad hinter einem Stapel Pappe hervor: ein Rennrad für Männer mit hoher Stange und Rennlenker. »Das ist Ihres. Hoffe, Sie haben kräftige Beine. Wiegt eine Tonne.«
»Ich komme schon zurecht«, versichert sie. »Warum geht es hoch her?«
»Alle verlieren langsam die Geduld. Franzosen und Deutsche. Alle wollen nur noch wissen, wann die Alliierten auftauchen. Wir haben massenweise neue Rekruten, aber keiner von ihnen weiß, wie man eine Waffe benutzt, und wir sind so knapp mit Funkern, dass unser armes Mädel Nachrichten für drei Bezirke verschicken muss. Sie schläft überhaupt nicht mehr. Haben Sie Aufputschmittel mitgebracht? Die Dinger sind das Einzige, was sie noch am Leben hält.«
Cristabel nickt. »Sie kann meine haben.«
Er wühlt in seinen Taschen nach ein paar Zetteln. »Sie müssen ihr heute Abend ein paar Nachrichten von mir bringen. Die meisten gehen von mir an London, und die meisten sind verärgert. Ich habe es so satt, immer nur schlecht gepackte Behälter zu kriegen, in denen nichts drin ist, was wir brauchen können.«
»Wo ist sie?«
Er beschreibt ihr den Weg, dann fügt er hinzu: »Ich glaube, Sie könnten sich kennen. Sie hat gesagt, ich soll nach einem großen englischen Mädchen mit Oberklassenakzent Ausschau halten, denn Sie schulden ihr offenbar noch ein paar Drinks.«
Sie findet Sophie – Deckname Sidonie – in der Verkleidung einer Bezirkskrankenschwester vor, die in einem abgelegenen Steinhäuschen wohnt, umgeben von endlosen Reihen von Apfelbäumen. Es ist ebenso bizarr wie wunderbar, so weit weg von zu Hause ein vertrautes Gesicht zu sehen. Sophie hat die durchschnittliche Lebensdauer einer Funkerin – sechs Wochen – schon um mehrere Monate übertroffen. Doch als sie sie in die Arme nimmt, merkt Cristabel, wie dünn ihre Ausbildungsgenossin geworden ist. Sie hat die fieberhafte Intensität eines Menschen, der weiß, dass er seine Zeit nur geliehen hat.
»Ich freu mich so, dich zu sehen«, sagt Sophie mit glänzenden Augen. »Ich kann’s gar nicht erwarten, wieder nach Hause zu kommen und groß auszugehen, wie wir es uns immer ausgemalt hatten. Ich muss die ganze Zeit dran denken. Und daran, wie es sein wird, alle wiederzusehen.«
»Die Invasion kommt bald«, sagt Cristabel. »Im Hauptquartier sind sie auch unglaublich beschäftigt.«
»Das erzählen die uns jetzt schon eine ganze Weile, Süße«, sagt Sophie. »Die Franzosen glauben mittlerweile, dass Stalin vor den Alliierten ankommen wird. Man erzählt sich hier den Witz, dass Stalin über den Ärmelkanal zu Churchill rüberrufen wird, er soll ihm Bescheid geben, ob die Überfahrt sicher ist.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich – und in der Zwischenzeit liegt die Gestapo auch nicht auf der faulen Haut. Das sind solche Fieslinge, das kann man gar nicht in Worte fassen. Aber Männer konnten noch nie besonders gut mit Zurückweisung umgehen, nicht wahr?«
»Ich habe ein paar Nachrichten für dich von Antoine«, sagt Cristabel und wühlt in ihren Taschen. »Die müssen heute Nacht noch an London raus.«
Sophie führt Cristabel in ein Schlafzimmer, in dem ihr Funkgerät in einem schmalen Kamin versteckt ist. Normalerweise würde sie von unterwegs arbeiten, aber im Moment muss sie so viele Nachrichten verschicken, dass Antoine ihr einen festen Platz gesucht hat, an dem sie ununterbrochen arbeiten kann.
»Bin seit Januar hier«, sagt sie und hebt den Lederkoffer, in dem sich ihre Ausrüstung befindet, auf den Schreibtisch. »Home, sweet home.«
»Was ist das?«, fragt Cristabel, die auf einen Stapel Umschläge schaut, die hinter einer Uhr auf dem Kaminsims klemmen.
»Briefe«, sagt sie. »Ich dachte mir, es würde komisch aussehen, wenn ich nie irgendwelche Post bekomme, also hab ich mir selbst ein paar Briefe geschrieben. Von einer ausgedachten Tante. Es ist schön, ein bisschen Gesellschaft zu haben. Wenn du willst, kannst du mal reinlesen, aber sie schreibt nicht besonders gut.«
Cristabel lächelt. »Worüber schreibt sie denn so?«
»Ach, die hat so einen kleinen Sohn«, sagt Sophie, die sich inzwischen an den Tisch gesetzt hat, »fast schon zwei Jahre alt, unglaublich. Sie erzählt mir von ihm. Was er so treibt und so. Komm, zeig mir mal deine Nachrichten.«
Cristabel hält sie ihr wortlos hin. Sophie lässt die zwei oberen Metallschließen des Köfferchens aufschnappen, dann nimmt sie Cristabel die Nachrichten aus der Hand, ohne sie anzuschauen.
Das Funkgerät ist aus Metall, voll mit schwarzen Knöpfen, und es passt haargenau in seinen speziell angefertigten Koffer. Rasch stellt Sophie es auf, steckt das Funkgerät ein, das seine Frequenz bestimmt, und wickelt die Antenne aus, die einfach nur ein dreißig Meter langer Draht ist, den sie aus dem Fenster hängen lassen muss. Dann nimmt sie Cristabels Nachrichten und codiert sie, wofür sie einen Stift und einen Notizblock benutzt, den sie in einem Geheimfach im Deckel des Koffers verwahrt hat.
Nachdem das erledigt ist, setzt sie ihre Kopfhörer auf, schiebt einen Ärmel hoch, sodass sie ihre Armbanduhr sehen kann, dann schaut sie Cristabel an und fragt: »Bleibst du?«
Sie wissen beide, dass sie sie in Gefahr bringt, sobald sie anfängt, die Nachricht in Morsecode abzutippen. Die Gestapo ist mittlerweile so gut darin, Funker aufzuspüren, dass Sophie innerhalb von zwanzig Minuten alles übermittelt, empfangen und zusammengepackt haben muss. Sie muss den Draht einholen und aufwickeln, den Code-Notizblock wegräumen, unzählige fummelige Aufgaben, die man nicht beschleunigen kann, damit der Koffer wieder versteckt ist, bevor die Lieferwagen mit den Detektoren ihren Aufenthaltsort entdecken können.
Cristabel nickt. »Ja, ich bleibe hier.«
Sophie zieht eine Pistole aus einem Halfter unter ihrer Bluse und reicht sie Cristabel. Die stellt sich ans Fenster und schaut über den Obstgarten aufs offene Land. Freie Sicht. Sie denkt an all die Nachrichten, die Sophie schicken muss, ohne jemanden zu haben, der für sie Wache hält, und sie verspürt einen nervösen Stich. Sie weiß, dass die Tätigkeit einer Funkerin gefährlich ist, aber es zu wissen, ist eine Sache, es ist jedoch eine ganz andere Sache, zu sehen, wie isoliert und weit weg von jeder Hilfe ihre Freundin hier arbeitet.
Sophie legt die Fingerspitze auf die Morsetaste und beginnt, Antoines Nachrichten zu übermitteln. Ganz schwach kann Cristabel das Pizzicato-Piepen des Morsecodes hören. Beim Training war es Cristabel schon immer schwergefallen, der raschen Abfolge von Punkten und Strichen zu folgen.
»Nicht zählen«, sagt Sophie, »einfach nur zuhören. Es ist wie ein Lied. Dah dah didy didit .«
Cristabel schaut sie jetzt an. Sophie hat ihre Augen geschlossen, um dem Code zuzuhören, der in Wellen durch die Luft gesungen kommt, während die Spitze ihres Bleistifts knapp über dem Papier schwebt. Die Org nennt ihre Funker »Pianisten«, und der Name trifft den Nagel auf den Kopf: Das hier ist delikate, störanfällige Hörarbeit. Die Geschicktesten werden so geschätzt, dass man sie normalerweise von einem Ort zum nächsten bringt, um sie in Sicherheit zu wissen, und ihre Funkgeräte werden separat transportiert, durch Kuriere, bevor sich beide an einem unbekannten Ort wiedertreffen, wie verbotene Liebende. Doch Sophie und ihr Funkgerät haben hier eine Heimat gefunden. Cristabel bemerkt eine Streichholzschachtel auf dem Kaminsims, die schwarze Asche von verbranntem Papier im Kamin. Sie tritt gegen den Rost, um sie zu verteilen.
Sophie nimmt die Kopfhörer ab und reicht Cristabel eine decodierte Nachricht, die sie fein säuberlich aufgeschrieben hat, wie eine Hausaufgabe. »Dann mach dich jetzt mal lieber auf den Weg, Süße«, sagt sie. »Heute Nacht wird wieder was abgeworfen. Eine Person, fünf Behälter.« Dann fängt sie an, ihre Ausrüstung zügig wieder wegzupacken.
»Die Mädels von der WAAF schlagen sich darum, deine Nachrichten zu empfangen«, erzählt Cristabel, während sie Sophie hilft, den Koffer wieder im Kamin zu verstecken.
»Wirklich? Das ist ja schön«, sagt Sophie und sieht zufrieden aus. »Ich vergesse immer, dass da auch Mädels sitzen. Ich denk immer nur ›London‹ – eine wortkarge Person, wahrscheinlich ein Kerl.«
»Sie sagen, du hättest magische Finger«, sagt Cristabel und gibt ihr die Pistole zurück. »Du machst nie Fehler.«
»Gut zu wissen, dass ich wenigstens für etwas gut bin«, meint Sophie und steckt die Waffe wieder weg. Dann drückt sie Cristabel noch einmal fest an sich. »Hab’s ganz schön weit gebracht für ein Mädchen aus Hackney, was?«
Cristabel nickt. »Allerdings. Du hast dich weiß Gott bewährt.«
Sophie küsst ihre Freundin auf beide Wangen. »Es ist großartig, dich hier zu haben«, sagt sie. »Jetzt aber los, sonst kriegt Antoine einen Anfall. À bientôt! «
Als sie mit dem Fahrrad davonfährt, schaut Cristabel sich noch mal zu dem Häuschen um, wie es in der Abenddämmerung daliegt, umgeben von Apfelbäumen, und immer mehr in den Schatten fällt. Sie denkt an das Bild, wie Sophie sorgfältig die Zettel verbrennt, auf die sie ihre Nachrichten schreibt, eine kleine Flamme zwischen ihren Fingerspitzen.
Mitten in der Nacht fährt Cristabel zum Landeplatz, schießt auf ihrem Rennrad über mondhelle Straßen dahin wie ein Radrennfahrer, der sich bei der Tour de France aus dem Pulk gelöst hat. Sie steht auf den Pedalen, wenn sie bergauf fahren muss, duckt sich auf den Lenker, wenn die Straße abschüssig ist. Antoine ist mit dem Lieferwagen einer Bäckerei vorausgefahren, und tatsächlich ist er schon da, am Rande eines Feldes in einem Birkenwäldchen. Er schaut auf seine Uhr und wirkt verärgert. Er sagt, dass das Flugzeug sich verspätet habe und dass zu viele Menschen da seien, um es zu begrüßen. Cristabel erhascht einen Blick auf eine Gruppe von jungen Franzosen, die rauchend und redend hinter den Bäumen stehen und sich ihre Waffen in den Hosenbund geschoben haben.
»Warum sind das so viele?«, zischt sie.
»Irgendjemand im Dorf hat geplaudert«, sagt er.
Als sie die Halifax endlich näher kommen hören – ein dunkles, immer lauter werdendes Brummen –, wird der Himmel im Osten bereits hell. Es fühlt sich riskant an, im grauen Halblicht über das Feld zu laufen und dem Piloten ein Signal zu geben. Die weißen Fallschirme kommen heruntergeschaukelt, schwingen faul hin und her, sie sehen aus wie riesige, prall aufgeblähte Zielscheiben. Der Neuankömmling – ein Franzose mittleren Alters, der begeistert von seinen Landsleuten begrüßt wird – bewegt sich ähnlich langsam. Das kann kein Agent sein, denkt sie sich, er scheint nichts dagegen zu haben, mitten auf dem offenen Feld mit einem Fallschirm auf dem Rücken zu stehen. Er bückt sich sogar, um sich eine Handvoll Erde zu greifen.
»On y va« , sagt Antoine. »Vite!«
Sie verstecken die Behälter im Wald, weil es zu hell ist, um sie ungesehen irgendwo anders hinzubringen. Dann packen sie den Mann mitsamt Fallschirm in den Laderaum des Bäckereifahrzeugs, damit Antoine ihn zum nächsten Bahnhof fahren kann. Die anderen folgen ihm auf einer zusammengewürfelten Auswahl von Zweirädern. Nur Cristabel nimmt eine andere Strecke, und als sie ankommt, bekommt sie einen Schreck, als sie sie immer noch in einer Gruppe auf dem Bahnsteig zusammenstehen sieht. Sie mustert rasch die anderen Fahrgäste. Auf diesen Frühzug scheinen viele zu warten, von denen einige gar keinen Koffer dabeihaben.
»Das ist doch lächerlich«, sagt sie zu Antoine, während sie ihren Spiegel aufklappt, als ob sie ihr Make-up kontrollieren wollte.
Er antwortet leise: »Sie sagen, dass sie bei ihm bleiben müssen, um ihn zu beschützen.«
»Wer ist das überhaupt?«
»Einer von de Gaulles Lakaien«, antwortet Antoine. »Auf dem Weg nach Paris.«
»Vielleicht wollen sie ihm auch noch ein Schild um den Hals hängen, damit es auch wirklich jeder mitbekommt?« Sie lässt ihre Puderdose zuschnappen und steckt sie in ihren Rucksack.
»Bringen wir ihn zu unserem sicheren Unterschlupf, Gilberte, dann können wir sie machen lassen.«
Der Zug fährt dampfend in den Bahnhof ein, und die Gruppe steigt geschlossen in die erste Klasse ein. Antoine folgt ihnen, aber setzt sich auf einen anderen Platz und schlägt eine Zeitung auf. Cristabel bleibt im Gang des nächsten Waggons stehen, von wo aus sie Antoine durch die angrenzende Tür im Blick hat. Die Alarmglocken in ihrem Kopf läuten dröhnend. Sie hört ihre eigenen Atemzüge über dem Geräusch des anfahrenden Zuges.
Es braucht nur dreierlei: die Bewegung von Antoines Zeitung, als er sie bewusst langsam herabsinken lässt, den flüchtigen Blick auf eine Gestalt in einem schwarzen Regenmantel, die sich durch die erste Klasse bewegt, und einen zornigen Franzosen, der seine Stimme erhebt.
Cristabel zieht das nächste Fenster so weit runter, wie es nur geht. Der Zug rattert jetzt durch eine neblige Landschaft, der Sonnenaufgang kündigt sich durch ein oranges Glühen am Horizont an. Ein Schrei in der ersten Klasse, ein gebellter deutscher Befehl. Hände hoch! Sie sieht, wie Bäume auf sie zukommen, und fasst den Rand des Fensters mit beiden Händen, wobei sie gleichzeitig einen Fuß auf den unteren Rand stellt. Sie wirft noch einen letzten Blick auf den Zug und kann erkennen, wie eine weitere Gruppe von Männern sich ihren Weg durch den Gang in ihre Richtung bahnt. Sie hebt also den anderen Fuß auch noch auf die Kante, duckt sich kurz und sitzt im Fenster wie ein langgliedriger Vogel. Dann fällt ein Schuss, und sie ergreift die Flucht.
Sie hätte nicht so landen dürfen, wie sie gelandet ist, ungeschickt auf einem Fuß. Sie hat sich den Knöchel so stark verdreht, dass sie vor Schmerz aufschreien musste. Sie hätte nicht gehen dürfen mit diesem verletzten Knöchel. Sie hätte nicht zu dem Ort zurückkehren dürfen, den sie gerade erst verlassen hatten.
Sie hätte wegrennen müssen. Sie hätte fliehen müssen.
Immerhin hat sie die Stellen gemieden, an denen man sie hätte sehen können, sie ist gerobbt und dann geduckt über die gefurchten Felder gerannt, wobei sie sich auf die Lippen gebissen hat, um ihre unwillkürlichen Schmerzensschreie zu unterdrücken. Sie hat sich flach unter einen Strauch gelegt, als ein deutsches Patrouillenauto an ihr vorbeifuhr, und ist so liegen geblieben, wobei sie ihre Hände in den Boden gekrallt hat. Immerhin ist sie unter Einsatz von Ellbogen und Knien über die Erde gerobbt, als sie wieder weg waren, bis sie endlich Sophies abgelegenes Häuschen in der Ferne ausmachen konnte. Und immerhin hat sie innegehalten, als sie nah genug war, um zu sehen, dass die Tür des Häuschens schief in den Angeln hing, wie ein abgebrochener Zahn in einem eingeschlagenen Mund. Sie hat sich einen Blick darauf gestattet und noch einen zweiten Blick, dann hat sie sich gezwungen, umzudrehen und durch die Apfelbäume zurückzukriechen.