Les Enfants Perdus

März 1944

Cristabel hat eine Adresse, die sie in einem zugigen Büro in der Baker Street auswendig gelernt hat. Ein möglicher Schlupfwinkel. Ein Bistro an einer Straße im Außenbezirk von Rouen, das Teil einer Fluchtlinie ist, auf der man Leute aus Frankreich hinausschmuggelt. Sie kann nicht den ganzen Weg dorthin zu Fuß zurücklegen, denn mittlerweile ist ihr schon schwindlig vor lauter Schmerzen, also ergreift sie die Gelegenheit und hält einen Jungen an, der mit einem Pferdekarren die Straße entlangfährt. Sie erzählt ihm eine völlig absurde Geschichte, dass sie beim Wandern gestürzt sei, und bietet ihm Geld an, wenn er sie mitnimmt. Er mustert ihren schlammverschmierten Rock und ihre schmutzige Bluse, sagt aber nichts, sondern bedeutet ihr mit einem Kopfnicken, dass sie auf den Karren steigen soll.

Während sie über die schmalen Straßen holpern, sieht sie dunklen Rauch in den Himmel hinter ihnen steigen: Irgendetwas brennt. Der Junge schaut ebenfalls zurück, schüttelt den Kopf und treibt sein Pferd zum Trab an. Er setzt Cristabel in Humpelentfernung vom Bistro ab, einem Fachwerkhaus mit Geranien in den Blumenkästen.

Drinnen trifft sie eine alte Frau an, die gerade Gläser poliert. Cristabel sagt die sinnlose Parole auf – Ich war gerade mit Onkel Maurice auf dem Land  – und bekommt die richtige Antwort – Ich kann mich noch gut an Maurice erinnern  –, doch mehr bekommt sie an Unterhaltung schon nicht mehr hin. Die alte Frau führt sie hastig in den Lagerraum im hinteren Teil des Bistros, wo Cristabel ihren Rucksack abnimmt und sich neben Kisten mit leeren Cidre-Flaschen setzt. Sie merkt, wie ihr Tränen übers Gesicht strömen, obwohl sie ganz ruhig sitzen bleibt und keinen Laut von sich gibt. Sie lehnt sich an eine Kiste und stützt ihren Kopf ab.

Später bringt ihr die Frau ein trockenes Stück Brot und teilt ihr mit, dass noch heute Nacht jemand sie abholen wird. Als er kommt, wird Cristabel auf den Rücksitz eines kleinen Fiats gepackt. Man sagt ihr, dass sie sich hinlegen soll, und breitet eine Decke über ihr aus. Der Arzt, ein kleiner Mann Mitte fünfzig, mit lockigen Haaren und einem ergrauenden Bart, gibt ihr ein Taschentuch und sagt ihr, dass sie sich auf die Lippe beißen soll und das Blut dann ins Taschentuch spucken soll, falls sie aufgehalten werden.

Die Fahrt ist langsam und gleichmäßig, und obwohl Cristabel nicht krank ist, spürt sie die schwebende Ruhe, die man als Patient empfindet, während sie den Nachthimmel aus ihrer liegenden Stellung vorüberziehen sieht. Als sie angehalten werden – einmal an einer Straßensperre der Wehrmacht und einmal vom französischen Militär – und sie Blut spuckt, wie man es ihr gesagt hat, wirkt der rote Fleck auf dem Taschentuch sehr glaubwürdig. Die Soldaten leuchten sie mit ihren Taschenlampen auf dem Rücksitz an, und sie hustet und drückt sich das Taschentuch an den Mund, sodass sie den blutigen Beweis sehen. Sie hört den Arzt in ernstem Ton sagen, dass er Tuberkulose vermutet. Die Soldaten weichen sofort zurück, die Dunkelheit umschließt sie wieder, und das Auto kann unbehelligt weiter durch die Nacht rollen.

Als sie beim Haus des Arztes angekommen sind, hilft man ihr hinein und legt sie ins Bett. Der Arzt gibt ihr etwas gegen den Schmerz in ihrem Knöchel, der auf das Doppelte seines normalen Umfangs angeschwollen ist, und sagt, dass ihr das Mittel auch beim Einschlafen hilft. Sie hört ihn sagen, dass eine hohe Dosis Schmerzmittel genauso gut wirkt, als würde man von seiner Oma zugedeckt, aber sie hat weder eine Antwort noch eine Stimme, mit der sie antworten könnte, also schließt sie einfach nur die Augen.

Als sie sie wieder aufschlägt, sieht sie Holzbalken an der Decke und Streifen goldenen Lichts, die durch die Lücken in den Fensterläden fallen. Das Licht verwirrt sie im ersten Moment, denn es hat den flachen Neigungswinkel der Abendsonne, und sie hört fröhliche Stimmen von draußen. Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr: Sie hat den ganzen Tag über geschlafen. Sie hievt sich aus dem Bett, hüpft über den Holzboden zum Treppenabsatz und geht vorsichtig eine schmale Treppe hinunter. Sie befindet sich in einem niedrigen, langen Haus mit Ziegelmauern, großen Kaminen und gefliesten Böden. An der Wand stehen ein paar alte Möbel: ein geschrubbter Holztisch, ein Bücherregal mit durchhängenden Brettern, eine Messinglampe.

Als sie hinaustritt, wobei sie sich am Türrahmen festhalten muss, um das Gleichgewicht zu halten, sieht sie den Arzt zusammen mit einer hübschen Frau Mitte vierzig und einem ungefähr siebenjährigen Mädchen. Sie sitzen an einem Tisch unter einem Walnussbaum, der am Rand einer kleinen Wiese steht, umgeben von Wald. Alle stehen auf, um sie zu begrüßen. »Kommen Sie«, sagt der Arzt, »Sie müssen doch Hunger haben.«

»Ich muss weg«, sagt sie.

»Mit diesem Knöchel können Sie nirgendwohin«, sagt er. »Essen Sie mit uns, und danach werde ich ihn mir mal anschauen. Aber jetzt setzen Sie sich erst mal. Sagen Sie uns, wie wir Sie nennen sollen.«

»Claudine«, sagt sie und lässt sich helfen, als sie sich an den Tisch setzt. Ein weißes Tischtuch ist darübergebreitet, und in der Mitte steht ein Krug mit Blumen. Die Ehefrau des Arztes, die sich selbst als Wanda vorstellt, richtet gerade einen Teller mit Brot und Käse her – Scheiben von scharfer Räucherwurst, hart gekochtes Ei, Kopfsalat und Radieschen. Dazu gibt es ein Glas Rotwein, kräftig und erdig, eingeschenkt vom Arzt selbst. Er stellte sich als Édouard vor, wobei er ihr eine Hand auf die Schulter legt – und dann bringt Wanda einen Trinkspruch aus: auf die Freundschaft und auf den Sieg.

Nach dem Essen hebt Édouard ihren Fuß auf einen Stuhl und untersucht vorsichtig ihren Knöchel. Er runzelt die Stirn. »Der könnte gebrochen sein«, meint er. »Wir brauchen eine Schiene, und Sie dürfen ihn nicht belasten.«

»Ich bin hier nicht in Sicherheit«, sagt sie.

»Sie können auf dem Dachboden wohnen«, schlägt er vor. »Wir haben auch unser Radio da oben. Sie wären nicht die Erste, die wir dort versteckt haben, Claudine.«

»Können Sie herausfinden, was mit meinem Organisator und unserer Funkerin passiert ist?«, sagt sie leise. »Antoine und Sidonie. Beide sind britische Agenten.«

»Ich werde mich erkundigen«, verspricht er. »Aber jetzt müssen Sie sich ausruhen. Oder noch einen Wein trinken. Beides tut Ihnen gut. Vom Arzt verschrieben.«

Ein paar Tage später, als Édouard gerade ihren Knöchel neu verbindet, erzählt er ihr mit gedämpfter Stimme, dass Sidonie und Antoine durch einen ortsansässigen Verräter enttarnt wurden. Sobald sie über die Anwesenheit britischer Agenten informiert waren, hatte die Gestapo einfach geduldig gewartet, bis die Fallschirme abgeworfen wurden, um Antoine festzunehmen, die landenden Agenten und ihre nützlichen Behälter. Dann schnappten sie sich Sidonie, führten eine Reihe von raschen Vergeltungsmaßnahmen durch – sie brannten Höfe nieder und erschossen ein paar Zivilisten – und brachten ihre Gefangenen nach Fresnes, ein Gefängnis im Süden von Paris.

Cristabel hat von Fresnes gehört: Dort halten sie die Agenten der Alliierten und die Kämpfer der Résistance fest, dort versuchen sie, sie zum Reden zu bringen. Ihre Gedanken schrecken zurück, wenn sie sich ausmalt, was man ihren Kollegen antun könnte, denn sie kann sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen leicht in die Knie gehen würde. Aber immerhin waren sie vorläufig noch am Leben. Sie überlegt, ob die Gestapo Sophies Häuschen beobachtet hatte, als sie dort war. Hatten sie sie gesehen? Oder schlimmer: War sie diejenige gewesen, die sie überhaupt erst hingeführt hatte? Bei dem Gedanken wird ihr ganz schlecht. War es möglich, dass sie ihre Sicherheit kurz aus den Augen verloren hat?

»Unser Sohn war letzten Monat auch in Fresnes«, sagt Édouard ruhig. »Sie haben ihn erwischt, wie er gerade Flugblätter der Résistance in der Schule verteilt hat.«

»Wo ist er jetzt?«

»Irgendwo anders, hoffen wir. Wir wissen es nicht. Wir können nur beten.«

»Es ist hart, wenn man so gar nichts weiß«, sagt Cristabel.

Er schaut sie an. »Es ist wirklich hart.«

»Was wird mit dem Verräter passieren?«, will sie nach einer kurzen Pause wissen.

»Noch nichts. Aber ich habe gehört, dass man sich um sie kümmern wird.« Sein Mund zuckt. »Ich bin nie glücklich mit diesem Aspekt unseres Kampfes, aber angeblich ist es nötig.« Er wickelt weiter den Verband um ihren Knöchel, bevor er hinzufügt: »Sie sollten eine Weile hierbleiben, Claudine. Bis Sie wieder gehen können. Wir werden versuchen, eine Botschaft nach London zu schicken, dass Sie in Sicherheit sind.«

Cristabel bleibt noch den ganzen April und bis in den Mai bei ihnen. Das Wetter wird wärmer. Die ersten Schwalben kommen, die in großen Bögen ums Haus schießen. Sie hören nichts mehr von Sidonie und Antoine, doch Édouard benutzt einen Kontakt, um über die neutrale Schweiz eine Botschaft nach London zu schmuggeln und ihnen mitzuteilen, dass, auch wenn ihr Bezirk nicht mehr existiert, Claudine überlebt hat – und dass ihr Gesicht zum Glück nicht auf irgendwelchen »Gesucht«-Plakaten erschienen ist, was wohl darauf hindeutete, dass sie ungesehen überlebt hatte.

Trotz alldem verändert Cristabel ihr Äußeres, so weit sie es kann. Sie färbt ihr Haar mit stark riechenden Chemikalien, die ihr Wanda besorgt hat, und erzielt am Ende ein streifiges Rostbraun. Wanda besorgt ihr auch verschiedene Sachen: Sommerkleider und Strickjacken, die ein vorheriger weiblicher Flüchtling hinterlassen hat, jemand anders, der ebenfalls seine alte Haut abstreifen musste.

Versteckt auf dem Dachboden, stützt sich Cristabel neben dem Radio auf und lauscht den messages personnels auf BBC Radio Londres, gesendet direkt im Anschluss an die Sechs- und Neun-Uhr-Nachrichten. Es sind surrealistische Schnipsel, die sie an Myrtles Gedichte erinnern – Mein goldener Tiger geht in der Nacht, Natalie bleibt in Ekstase –, doch dazwischen sind codierte Nachrichten versteckt, die für die Résistance-Gruppen bestimmt sind. Sie gibt sie weiter an Wanda und Édouard, damit sie sie mit ihrem Netzwerk verteilen.

Cristabel schlägt auch vor, dass örtliche Widerstandskämpfer sie aufsuchen, falls sie Waffentraining brauchen, und sie kommen fast schüchtern, als würden sie zu ihrem ersten Tanz gehen, mit rostigen Pistolen, die sie in ihren Tornistern versteckt haben. Junge Bauernsöhne, Lehrer mittleren Alters. Sie geht mit ihnen hinaus auf die Wiese, wobei sie sich auf die Holzkrücken stützt, die Édouard für sie besorgt hat, und lässt sie auf uralte Eichenbäume zielen, dass die zerfurchten Stämme durch den Einschlag der Kugeln zersplittern.

Es sind keine anderen Häuser in Sichtweite, nur kühle, geräumige Wälder, und das Haus selbst hat eine betont ruhige Atmosphäre. Es liegt nahe an der Erde, mit einem rot gedeckten Dach und blaugrauen Fensterläden. Breite Streifen von Weidenröschen füllen den Garten, wo die Hühner im Matsch picken. Jeden Morgen beobachtet Cristabel, wie Wanda sorgfältig den Frühstückstisch deckt und wie Édouard seiner kleinen Tochter mit großer Zärtlichkeit behilflich ist.

Wanda ist Polin. Ein paar andere Emigranten, die in der Nähe wohnen, kommen abends öfter vorbei, und dann sitzen sie am Gartentisch und erzählen sich rudimentäre Nachrichten aus ihrer alten Heimat oder erinnern sich an ihr altes Leben. Wenn sie so im sonnengefleckten Garten sitzen, scheint der Krieg wie ein entfernter, unfassbarer Streit. Das monströse Spiel eines verwöhnten Kindes, das donnernd Gegenstände durch die Luft schmeißt und mit dem Fuß aufstampft.

Nach dem Essen klettert Édouards Tochter Annick auf seinen Schoß, er setzt sich zurecht, damit sie auch bequem sitzt, und streicht ihr mit der einen Hand über den Kopf, während er die andere nach seinem Glas Calvados ausstreckt. Annick holt einen alten Fotoapparat, den sie um den Hals trägt, eine mitgenommene schwarze Leica, und schaut durch den Sucher, während ihr Vater redet.

»Meine Tochter wird später mal Fotografin«, sagt Édouard. »Sie will alles einfangen.«

»Oder Detektivin«, sagt Annick. Sie wendet die Kamera auf Cristabel.

»Oh, mich bitte nicht fotografieren«, sagt Cristabel und hebt eine Hand.

Hinter der Kamera sagt Annick: »Da ist gar kein Film drin. Vater kauft mir eine Rolle, wenn es wieder welchen in den Läden gibt.«

Édouard schaut Cristabel über den Kopf seiner Tochter hinweg an. »Sie werden ein andermal wiederkommen müssen, damit sie Sie richtig fotografieren kann.«

»Das werde ich auch«, sagt Cristabel.

Annick sagt: »Claudine schießt mit Pistolen. Mein Bruder könnte auch mit Pistolen schießen.«

»Er kommt bald wieder zu uns nach Hause, so Gott will«, sagt Wanda.

»Vergiss nicht, Mama, er kann ganz schnell laufen«, sagt Annick. »Schneller als alle anderen in seiner Klasse.« Sie fasst wieder den Fotoapparat, blinzelt durch sein kleines blindes Auge. Die Blende geht zu und wieder auf.

Édouard ermuntert Cristabel häufig, an ihren nachmittäglichen Gesprächen unterm Walnussbaum teilzunehmen. »Sagen Sie uns, was Sie dazu meinen, Claudine«, sagt er dann, und obwohl sie sich normalerweise eine Entschuldigung einfallen lässt, warum sie lieber nur zuhört, liegt sie später im Bett und führt Gespräche mit sich selbst über das, was sie meint. Dabei entdeckt sie oft, dass es weniger klar umrissen ist, als sie gemeint hätte. Es hilft ihr, die Gedanken von Sophie und Antoine abzulenken. Und von Digby, obwohl er ihre innerlichen Debatten oft mit dahingeschwätzten eigenen Meinungen unterbricht.

Wenn sie über Bücher reden, springt Édouard manchmal auf, läuft nach drinnen und zieht Romane aus seinem Bücherregal, und dann sagt er: »Ich kann nicht glauben, dass Sie Madame Bovary noch nicht gelesen haben!«

»Ich lese keine Romane«, sagt Cristabel und muss an die Liebesromane mit den kitschigen Umschlägen denken, die sich neben Flossies Bett stapeln. »Es kommt mir immer so unseriös vor.«

Édouard schreit auf: »Unseriös? Romane sind voll von Gefahren und Leidenschaft und den ganzen Dingen, die ein Leben ausmachen.«

»Ohne Leidenschaft wären wir nur Maschinen«, sagt Wanda mit einem Blick auf ihren Mann.

Wandas Feststellung klingt wie ein Ausspruch, der auch von Taras hätte sein können. Cristabel wird bewusst, dass sie lange nicht mehr an Taras gedacht hat. Es ist eine Überraschung, hier wieder an ihn zu denken, an diesem Tisch in einem normannischen Wald, obwohl es ein Ort ist, an dem es ihm sicher auch gefallen würde. Ein Ort, an dem sich Exilanten versammeln, um über Leidenschaft zu reden.

Cristabel kann sich nicht entsinnen, jemals von Leidenschaft gesprochen zu haben, obwohl sie das Gefühl hat, es könnte ihr sogar liegen, wenn sie wüsste, wie sie es anfangen sollte. Sie stützt das Kinn auf die Hände und merkt, wie Leon in ihrem Hinterkopf auftaucht, als würde er zwischen den Bäumen, die das Haus umgeben, auf sie warten. Würde sie mit Leon über Leidenschaft reden? Sie probiert das Wort in Gedanken aus. Stellt sich vor, wie ihr Mund ganz nah an seinem Ohr ist. Nein, nicht über Leidenschaft. Mit Leon würde sie über Lust reden.

Als sie aufblickt, fängt sie einen Blick von Wanda auf und ist verlegen, als hätte man sie bei etwas ertappt. Wanda lächelt.

Die Männer und Frauen, die zu ihr kommen, um schießen zu lernen, wollen mehr tun, als bloß auf Bäume zu zielen, aber mit so wenigen Waffen und ohne Funkgerät sind die Möglichkeiten natürlich beschränkt. Doch Cristabel erinnert sich, wie ein Ausbilder bei der Org einmal sagte, dass subversives Verhalten eine der besten Waffen sei, um die Moral des Feindes zu unterminieren. Also trägt sie ihrer kleinen Truppe von Freiwilligen kleine Akte der Auflehnung auf, die zu nichts anderem dienen, als zu behindern, zu verlangsamen, zu frustrieren. Zu diesem Zweck schneiden sie Telefonleitungen durch, durchlöchern Treibstofftanks, blockieren sie Straßen und sabotieren Zugstrecken.

Doch jeder Akt des Widerstands birgt auch eine gewisse Gefahr, und wenn sie sich zu Édouard, Wanda, Annick und ihren Freunden an den Gartentisch setzt, wo sie bei Einbruch der Dunkelheit Kerzen anzünden, spürt sie, wie sie die Gefahr förmlich anzieht.

Eines Nachmittags, als sie gerade durch den Wald spazieren, erzählt Cristabel Édouard, dass sie Bedenken hat, noch sehr viel länger bei ihnen zu bleiben. »Ich will nicht, dass irgendjemandem von euch etwas zustößt.«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, Sie müssen bleiben.«

»Wenn Sie es nicht tun, werde ich mir selbst ein neues Versteck suchen.«

»Sie sind vielleicht Ihre Krücken losgeworden, aber Sie humpeln immer noch«, antwortet Édouard, doch als er ihre Miene sieht, fügt er hinzu: »Ich werde versuchen, etwas für Sie aufzutun.«

Eine Weile gehen sie langsam und unter Schweigen weiter, bis Édouard sie fragt, ob sie den französischen Ausdruck les enfants perdus kennt, die verlorenen Kinder. Sie schüttelt den Kopf.

»Ich muss oft daran denken«, sagt er. »Er hat eigentlich eine militärische Bedeutung und steht für eine kleine Gruppe von Freiwilligen, die zu einem gefährlichen Angriff ausrücken. Sie gehen sozusagen als Erste. Auf Niederländisch heißt es verloren hoop . Auf Englisch forlorn hope . Niemand hat erwartet, dass sie es überleben, aber wenn doch, wurden sie befördert. Es war eine Chance für Menschen, die nichts zu verlieren hatten.«

Édouard schaut hoch zum Blätterdach. »Als mein Sohn nicht nach Hause kam, wurde ich krank. Mir wurde so übel, als wäre ich seekrank. Als könnte ich nicht länger durch diese Welt laufen, ohne dass mir schlecht wird. Mein geliebter Sohn. Ich wurde fast verrückt von der Vorstellung, dass er plötzlich zur Tür hereinkommen könnte. Eine ganze Weile hab ich am Eingang geschlafen, für den Fall, dass ich ihn hören würde. Für den Fall, dass er es nicht mehr bis zur Tür schaffen sollte. Ich hätte ihm helfen können.«

Er schaut sie an. »Ihm kann ich nicht helfen, Claudine. Aber ich kann Ihnen helfen.« Er ergreift für einen Moment ihre Hand, dann wendet er sich wieder dem Weg zu.

Sie hört es nur, wenn sie auf dem Dachboden sitzt. Es ist ein warmer Abend. Die Rosen, die sich an der Hausfassade emporranken, haben angefangen zu blühen. Ihre Blüten sind pfirsichfarben, vielschichtige Blüten, mit einem einschläfernden Duft, der durchs offene Fenster hereinzieht.

Annick spielt gerade im Garten, während Édouard und Wanda in der Küche sind. In monotonem Singsang erklingen die unsinnigen Nachrichten von BBC Radio Londres, und Cristabel sitzt im Schneidersitz mit ihrem Notizbuch und einem Stift da und hat Madame Bovary aus der Hand gelegt, um sich zu konzentrieren. Der Verband ist inzwischen weg, aber der Knöchel tut immer noch weh, und sie reibt ihn gerade mit einer Hand, als der Sprecher plötzlich sagt: Les sanglots longs des violons de l’automne . Der Satz aus einem Gedicht von Verlaine bedeutet, dass die Invasion der Alliierten in Europa unmittelbar bevorsteht.

Ein paar Sekunden verschlägt es ihr den Atem. Sie erstarrt, als würde sie erwarten, dass die ganze Welt um sie herum in wildes Gerangel ausbricht, doch die Wälder bleiben still, man hört nur die Vögel singen. Der Radiosprecher fährt unbeirrt fort. Cristabel springt auf und rast nach unten. »Édouard! Wanda! Sie kommen!«