Let’s face the music and dance

Mai 1944

Flossie steht im alten, von einer Mauer umgebenen Kräutergarten hinterm Haus, von dem ein Drittel jetzt von einem Gehege für zwei Ferkel eingenommen wird, die Betty ihrem Schwager abgekauft hat, einem Bauern. Mr Brewer hat einen Bereich für sie abgeteilt, in dem sie frei herumlaufen können, und hat ihnen einen raffinierten Unterstand aus Wellblech gebaut. Dahinter steckt der Gedanke, das Problem mit dem Weihnachtsschinken dauerhaft zu lösen, doch wenn Flossie sie so anschaut, wie sie ihr mit ihren schüchternen Augen und weißblonden Wimpern entgegentraben, mag sie lieber gar nicht drüber nachdenken.

Sie hat sie Fred und Ginger getauft, und während sie ihnen einen Eimer Kartoffelschalen in den Pferch schüttet, singt sie ihnen etwas vor – den Takt schlägt sie mit dem Fuß –, und die beiden grunzen glücklich, während sie fressen: kehlige Grunzlaute, die sich mit kleinen Schnaufern abwechseln. Es ist so befriedigend, zu sehen, wie sie sich über ihr Futter freuen.

Es ist ein heller, windiger Samstag im Mai, und wieder mal ist Flossie eine Außenseiterin in ihrem eigenen Zuhause. Sechs amerikanische Soldaten sind jetzt auf Chilcombe einquartiert worden. Sie gehören zu den Infanterie-Einheiten, die im Wald auf dem Hügelkamm ihr Lager aufgeschlagen haben, oben bei den Hügelgräbern, wo ein großes Schild warnt:

ZIVILISTEN IST ES VERBOTEN , SICH HIER AUFZUHALTEN ODER MIT DEN TRUPPEN ZU SPRECHEN !

Das schreckt den Fanclub der Dorfkinder nicht ab, die sich ums Lager herumdrücken, in der Hoffnung, dass ihnen vielleicht einer der Soldaten einen Streifen Kaugummi oder ein Päckchen Pfefferminzbonbons zuwirft.

Mittlerweile sind so viele Amerikaner hier, als wäre Dorset ein riesiger Campingplatz und Parkplatz für die Army. Trotz fortgesetzter Bemühungen, die Straßen zu verbreitern und die Brücken stabiler zu machen, sind mehrere große Militärfahrzeuge in den schmalen Dörfern stecken geblieben, und die blühenden Heckenreihen sind bedeckt mit Staub von den ganzen Konvois, die hier auf den Landstraßen durchkommen.

Um zu vermeiden, dass sie von der deutschen Luftwaffe entdeckt werden, haben die Amerikaner ihre Fahrzeuge mit Tarnnetzen abgedeckt und sich selbst – ihre Truppen, ihre Zelte und ihre Versorgungseinheiten – in jeden verfügbaren Raum gequetscht: in jeden Wald, jedes Gehölz und unter das Laubdach mancher Wege. Wenn hier trotzdem deutsche Flieger auftauchen, eröffnen sämtliche Flugabwehrgeschütze ein derartiges Sperrfeuer, dass die Bomber entweder gleich umdrehen oder einen sofortigen Abschuss in Kauf nehmen müssten.

Flossie fühlt sich von ihren amerikanischen Logiergästen überhaupt nicht gestört. Trotz ihrer Neigung, sich ständig auf oder über Möbelstücke zu lehnen (»Als ob man ihnen die Wirbelsäule rausgenommen hätte«, meint Betty), haben sie sich beliebt gemacht durch ihre Bereitschaft, ihre exotischen Leckereien wie Milchpulver oder Dosenfrüchte mit ihnen zu teilen. Ihre gutmütige Freigebigkeit erinnert Flossie an Hans, obwohl es sie traurig macht, dass sie viel willkommener sind, als er es jemals war. Sie werden im Dorf fast wie Berühmtheiten behandelt und haben sogar Betty zu den Freuden des AFN -Radiosenders bekehrt – dem American Forces Network – und in ihr einen unerwarteten Geschmack am rhythmischen Jazz von Louis Jordan und Count Basie geweckt. (»Das hat schon ziemlich Pep«, sagt sie und trommelt mit ihrer Hand auf dem Küchentisch mit.)

Es gibt auch amerikanische Truppen mit schwarzen Soldaten, wobei Flossie allerdings bemerkt, dass sie von den weißen Truppen getrennt sind und andere Aufgaben erfüllen. Jedes Mal, wenn sie mit dem Rad von ihren Schichten als Landarbeiterin von Dorchester nach Chilcombe zurückfährt, sieht sie sie, wie sie mit Versorgungsfahrzeugen herumfahren. Betty hat ihr erzählt, in Weymouth habe es Kämpfe zwischen schwarzen und weißen Truppen gegeben, und weiße amerikanische Soldaten hätten im Shipwreck verlangt, dass man sie vor den Schwarzen bediente. Doch die Dorfbewohner wollten davon nichts wissen. (»Außerdem«, meinte Betty, »haben die farbigen Gentlemen so feine Manieren.«)

Flossie unterhält sich gerade mit Fred und Ginger, als sie es hört: das Dröhnen eines Militärmotorrads, das die Auffahrt hochkommt. Es kommen und gehen eigentlich immer irgendwelche Leute, deswegen weiß sie, dass sie gerufen wird, wenn jemand gekommen ist, um sie zu besuchen. Nach einer Weile hört sie einen von den Amerikanern durch die Küche kommen und sagen: »Ich bin mir sicher, dass sie nichts dagegen hat, sie ist ein Schatz. Hier ist sie ja, Sie können sie gleich selber fragen.«

Der Besucher mit dem Motorrad trägt einen Dufflecoat und eine dunkle Hose, wie sie auch die Offiziere bei der Marine tragen. Er ist stämmig und blond, und sein kantiges Gesicht ist glatt rasiert.

»Was fragen?«, erkundigt sich Flossie, die sich umgedreht hat und sich die Hände an ihrer Latzhose abwischt.

»Ob wir Ihren Rasen benutzen dürften«, sagt der Mann. Er hat einen schottischen Akzent und einen festen Blick.

»Wofür benutzen?«

»Für Spiele«, sagt er. »Rugby. Fußball …«

»Baseball«, sagt der Amerikaner.

»Tauziehen. Alles Mögliche«, sagt der Besucher. »Wir suchen nach einem Ort, wo unsere Männer und die amerikanischen Truppen ein bisschen Bewegung an der frischen Luft kriegen können. Um die Moral hochzuhalten. Wenn was kaputtgeht, würden wir es natürlich bezahlen.«

»Ich wüsste nicht, was dagegenspräche«, meint Flossie. »Es gibt ein paar Felder, die Sie benutzen könnten, wenn Sie jemand finden, der sie mäht.«

»Das könnten wir doch unsere Jungs machen lassen«, meint der Amerikaner.

»Das wäre nett«, sagt der schottische Offizier. »Noch eine Frage: Ich habe zufällig gesehen, dass Sie oben im Flur ein Grammofon haben.«

»Ja, stimmt.«

»Seit Kriegsbeginn schleppe ich ein paar Schallplatten mit mir rum, in der Hoffnung, mal eine Gelegenheit für einen musikalischen Abend zu finden. Sie wären nicht zufällig bereit, uns Ihr …«

»Ihnen mein Grammofon zu leihen?«

»Ich habe mir gedacht, wir veranstalten das Ganze einfach hier«, schlägt er vor. »Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht zu viel Umstände macht.«

Flossie überlegt kurz. »Wir müssten mal wieder aufräumen. Das ganze Haus ist voller Staub, und wir haben ein Loch in der Decke.«

»Da könnten unsere Jungs Ihnen sicher auch behilflich sein«, meint der Amerikaner.

»Dann bin ich einverstanden«, sagt sie und streckt dem Marineoffizier die Hand hin. »Flossie Seagrave.«

Er erwidert ihren Handschlag. »George«, sagt er.

Sein Akzent, denkt sie, könnte aus den Highlands sein. Er hat so einen leicht singenden Tonfall. »Bloß George?«

»Die Männer nennen mich George«, antwortet er. »Oder sonst Padre.« Und erst in dem Moment erkennt sie den weißen Kragen eines Militärkaplans unter seinem Dufflecoat.

George kommt am nächsten Wochenende dröhnend die Auffahrt hochgefahren, mit einer Kiste voller Schallplatten, die er hinten auf seinem Motorrad befestigt hat. Er drückt sie Flossie in die Hand, mit dem Versprechen, dass noch mehr nachkommen. Sie ist überrascht, als sie sieht, dass es nicht die beliebten Big-Band-Lieder sind, die sie erwartet hat, sondern Elgar, Haydn, Mendelssohn. George probiert eine Schallplatte aus und dreht so laut auf, wie es nur geht, um die Akustik zu testen. Schwellende Streicher erfüllen die hohe Empfangshalle.

»Ich habe das noch nie so laut aufgedreht«, sagt Flossie. »Das klingt ja großartig.«

»Wie ist es auf der Galerie – wie klingt es da oben?«, will er wissen, und sie schießt die Treppe hoch, um sich auf die Galerie zu stellen, von der man über die ganze Empfangshalle blickt.

»Hier oben gefällt mir der Klang auch«, ruft sie. »Fast wie in den obersten Rängen im Theater.«

»Perfekt«, sagt er. »In dem Moment, als ich hier reinkam, wusste ich, dass dieser Raum für Musik wie gemacht ist.«

Flossie kommt die Treppe wieder herunter und sagt: »Wir sollten sie wirklich mehr benutzen, aber hier ist es immer so schrecklich kalt, sogar an sonnigen Tagen.«

»Ich bin sehr dankbar, mir die hier mal wieder anhören zu können«, sagt er und tätschelt seine Plattenkiste. »Wir haben auf dem Schiff kein Grammofon.«

»Sie sind auf einem Schiff?«

»Die meiste Zeit, ja.«

»Und was machen Sie so an Bord?«

»Hauptsächlich ein offenes Ohr haben«, sagt er, »aber ich halte auch Gottesdienste ab, an Deck, in voller Montur. Ich musste erst mal lernen, lauter als der Ozean zu predigen.«

»Wer wird zum Musikhören herkommen?«

»Diejenigen, die es brauchen«, erwidert er.

Am nächsten Tag machen sich die Amerikaner an die Arbeit, die Eichenhalle wieder bewohnbar zu machen. Sie gehen ihre Arbeit mit dem Eifer von Infanteristen an, die auf dem Gipfel ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit sind, aber sonst nicht viel zu tun haben. Sie bilden Reihen, um unerwünschte Möbelstücke hinauszutragen und in den Nebengebäuden zu stapeln, sie klettern aufs Dach, um das große Loch mit Planken zuzunageln, und sie reinigen die Halle von oben bis unten. Sogar die Rüstung wird poliert, bis sie wieder kampfbereit ist.

»Unser größtes Problem«, erklärt Flossie Betty, während sie zuschauen, wie die Amerikaner die Fliesen schrubben, »sind die fehlenden Stühle. Ich bin mir nicht sicher, wie viele kommen werden, und sie können ja nicht auf dem Boden sitzen. Wir sollten es ihnen schön und bequem machen, immerhin sind sie – na ja, sie werden ja nicht mehr lange in Dorset bleiben.«

Ein junger Gefreiter aus Milwaukee, der in der Nähe von Flossies Füßen den Boden wischt, schaut auf und sagt: »Wir haben uns eigentlich dran gewöhnt, auf dem Boden zu sitzen, Ma’am.«

»Ich könnte Ihnen zumindest Polster raussuchen«, sagt Flossie. »Wir haben jede Menge Polster. Und Kissen. Und Bettzeug. Ja, ich glaube, das könnte unser Problem tatsächlich lösen.«

Sie bittet den Gefreiten, gemeinsam mit seinen Kollegen im Haus sämtliche Polster, alle freien Matratzen und das ganze Bettzeug zusammenzusuchen. Die Matratzen werden in den Ecken der Empfangshalle ausgelegt, dann werden die Kissen und Polster darübergebreitet, damit die Gäste darauf sitzen und sich an die Wand lehnen können. Dann werden auch noch welche auf der Galerie verteilt, damit es sich weitere Zuhörer dort oben gemütlich machen können. Federbetten und Wolldecken werden über die Matratzen gelegt, um ihnen ein einladenderes Aussehen zu geben, und dann holt Flossie noch ein paar Kerzenleuchter hervor, um die Empfangshalle schmeichelhaft zu beleuchten. Betty wird mit der Aufgabe betraut, anständigen Kaffee aufzutreiben, den man in der Pause servieren kann, und die Amerikaner versprechen, Donuts aus ihrer Feldküche mitzubringen. Flossie lässt sich von den Amerikanern auch noch ein bisschen Holz hacken, damit sie zum ersten Mal seit Jahren mal wieder das Feuer im Kamin anmachen kann.

Erst als sie vorm Kamin steht und die Spiegel an den Wänden sieht, fällt ihr ihre Mutter wieder ein, und dann wird ihr klar, was sie noch machen könnte.

George, der sich als einfallsreicher Mann erweist, gelingt es, einen Bus von der Army zu akquirieren, der die Gäste ihres ersten musikalischen Abends nach Chilcombe bringt. Die Sonne geht gerade unter, und die Krähen sammeln sich lärmend in den Bäumen, als sie eintreffen. Flossie, die auf der Schwelle wartet, schaut zu, wie die Männer aus dem Bus steigen. Es sind hauptsächlich Amerikaner, in kurzen Bomberjacken mit seitlich getragenen Mützen, aber es sind auch ein paar Offiziere von der britischen Marine gekommen, die dunkle, zweireihige Jacken anhaben. George, der auf seinem Motorrad angereist ist, trägt ein schickes Marinejackett über seinem Hemd mit dem Priesterkragen. Sie sieht, wie die Männer am efeubedeckten Haus emporschauen, und dann fallen ihre Blicke auf sie, die mit Betty und Bill davorsteht.

Sie hat eine Weile gebraucht, bis sie es wiedergefunden hat, da sie in letzter Zeit fast nur noch ihre Gärtnerkleidung trägt, aber jetzt hat sie es doch gefunden, und Betty hat es so geändert, dass es ihr jetzt richtig passt: ein kornblumenblaues Kleid, das sie einmal als Miranda in Der Sturm getragen hatte und das jetzt in ein Abendkleid verwandelt worden ist. Vielleicht ein bisschen zu edwardianisch geraten, mit dem eckigen Ausschnitt und den weich drapierten Stoffbahnen, es ähnelt eher den züchtigen Kleidern, die man in den Zehnerjahren zum Tee getragen hat, als den Tanzkleidern der Vierzigerjahre mit ihren fliegenden Tellerröcken. Aber sie hofft, dass es seinen Zweck erfüllen wird: eine feierliche Atmosphäre zu schaffen. Flossie ist der Meinung, dass die Männer, wenn sie in der Empfangshalle sitzen und die Schallplatten so aufmerksam anhören wollen, wie sie hofft, diese Empfangshalle auch in feierlicher Stimmung betreten müssen. Die Brewers, die sie flankieren, haben sich ebenfalls in Schale geworfen: Bill trägt einen dreiteiligen Anzug mit Krawatte, Betty ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen.

Sie begrüßt jeden einzelnen ihrer Gäste mit warmen Worten, während sie an ihr vorbei mit den Mützen in der Hand in die mit Kerzen erleuchtete Halle treten. Als sie drinnen sind, machen sie es sich auf den Matratzen bequem, betrachten die Gemälde an den Wänden oder die oberen Bereiche des Hauses, die im Schatten liegen. Betty geht zwischen ihnen durch und verteilt Aschenbecher. Die Lautstärke ihres Geplauders, stellt Flossie mit Genugtuung fest, ist auf die eines erwartungsvollen Theaterpublikums gesunken. Ihre Gesichter werden angeleuchtet von den Flammen im Kamin. Die Szene erinnert sie an ein mittelalterliches Schloss oder ein Langhaus der Wikinger: Männer, die sich um ein Feuer in einem großen, dunklen Raum geschart haben.

Flossie hat das Grammofon auf einen Tisch in der Mitte der Empfangshalle gestellt, neben eine Vase mit Tulpen, wie auf einer Bühne. Sie ist Georges Schallplatten durchgegangen und hat ein paar von ihren eigenen daruntergemischt, um ein Programm zusammenzustellen, das nicht nur tröstet und aufrichtet, sondern auch die wunderbare Akustik der Halle voll ausschöpft. Sie geht zum Tisch, wartet, bis die Unterhaltungen verstummt sind, dann lässt sie behutsam die erste Schallplatte aus ihrer Hülle gleiten und legt sie aufs Grammofon. Sie hebt die Nadel und setzt sie auf die Rille.

Nach dem ersten Abend wird diese musikalische Soirée zweimal pro Woche veranstaltet. Es entwickelt sich ein harter Kern von Stammgästen, von denen einer ein professioneller Cellist aus Chicago ist, der mit Anfragen zu Musik kommt, die er eines Tages selbst zu spielen hofft. Doch der Rest der Gäste wechselt häufig, weil George immer wieder neue mitbringt.

Flossie überlegt, wie George die Männer herauspickt, die die Musik brauchen oder das, was auch immer die Musik ihnen schenkt. Sie kann keine Gemeinsamkeiten bei ihnen erkennen. Die meisten wirken fröhlich und sorglos, obwohl ihr durchaus auffällt, dass manche ständig nervös mit den Händen herumfummeln. Eines Abends bringt er drei dunkelhaarige, gut aussehende Männer mit, die zu den Freien Französischen Truppen gehören, also spielt sie ein bewegendes Konzert von Leclair, um ihnen eine Erinnerung an ihre Heimat zu schenken – nur um hinterher zu entdecken, dass sie aus Korsika stammen und nie in Frankreich gewesen sind.

Es ist schwierig, die Reaktion der Männer an diesen Abenden einzuschätzen. Wenn die Amerikaner tagsüber kommen, um mit ihren Footballs über ihren Rasen zu rennen, kämpfen sie spielerisch miteinander wie Hundewelpen und necken sich pausenlos. Da ist Ernsthaftigkeit verboten. Es ist wahrscheinlich eine wirkungsvolle Methode, sich das Grauen vom Leib zu halten, denkt sie sich. Doch an den Musikabenden sind sie still, fast in sich gekehrt. Manche ziehen die Stiefel aus und sitzen im Schneidersitz in Strümpfen da, wie die Schuljungen.

Bei ihrem Anblick muss Flossie oft an Hans denken, wie es ihn bewegt hat, als sie Klavier spielte. Sie spielt den Männern nicht oft Bach vor, denn seine Musik trägt zu viel von Hans in sich, aber wenn sie es tut, dann schaut sie sich im Saal um und beobachtet ihre Gesichter – zurückgelegt, die Augen geschlossen, oder sie starren gedankenverloren zu den hohen Fenstern empor –, und dann denkt sie an einen anderen Soldaten, der sein Zuhause und seine Familie genauso vermisst wie sie.

Die Männer schauen sich selten an, während die Musik spielt, als ob es die Höflichkeit gebieten würde, jedem seinen eigenen Raum zum Zuhören zu lassen. Manchmal schauen sie Flossie beim Gehen gar nicht mehr an, obwohl sie sich immer bemüht, etwas Leichtes zum Abschluss herauszusuchen. Doch wenn sie wiederkommen, bringen sie vielleicht einen Blumenstrauß für sie mit oder irgendetwas Selbstgemachtes, eine geschnitzte Holzschale, ein von Hand gezeichnetes Lesezeichen – Symbole ihrer Wertschätzung. Im Gegenzug betrachtet sie es als ihre Herausforderung, für jede Soiree ein neues Kleid anzuziehen, weswegen sie an solchen Abenden von den Melkständen in Dorchester nach Hause zurückrast, um in alten, ausgeblichenen Kostümen zu wühlen.

»Die glauben wahrscheinlich, dass wir Engländer immer so rumlaufen«, grummelt Betty, während sie ihre Schuhe wienert.

»Ich weiß, es sieht albern aus«, räumt Flossie ein, die sich gerade die Haare hochsteckt, »aber ich will mir ein bisschen Mühe geben.«

Die Männer fragen immer wieder nach Elgars Nimrod, obwohl es sie ungeheuer mitzunehmen scheint. Es fällt ihr schwer, mit anzusehen, wie sie um Fassung ringen, während die Kesselpauken wirbeln und die Melodie zu ihrem Höhepunkt aufsteigt. Es sieht aus, als würde die Musik ihnen so etwas wie Todesqualen bereiten. Vielleicht, denkt sie sich, ist es genau das, was sie brauchen: etwas, was ihnen gestattet, ihrem Schmerz nachzugeben, während er ansteigt, in seiner wunderschön orchestrierten Form – eine, die die Unvermeidlichkeit dessen formuliert, was auch immer kommen wird, und sie dann sanft mit diesem Wissen entlässt. Sie beziehen daraus keinen Trost, wird ihr klar, sondern Akzeptanz – es ist keine Betäubung der Schmerzen, sondern ihre klare Artikulation.

In der letzten Maiwoche erklärt ihr einer der amerikanischen Offiziere, dass die musikalischen Soireen ein Ende haben müssen. Die Matrosen müssen zu ihren Schiffen zurück, und die Soldaten werden in ihre Lager zurückgerufen, um ihre letzten Anweisungen zu bekommen: der einzige Ort, an den sie jetzt noch gehen werden, ist Frankreich.

Am letzten Abend wirft sie einen Blick auf George, der auf seinem üblichen Platz sitzt, auf der Treppe. Sie sieht, dass seine Hände gefaltet sind, seine Augen geschlossen, seine Stirn gerunzelt. Doch als die Musik verklingt, schlägt er die Augen auf und verfällt automatisch wieder in seine Pfarrerrolle – er steht auf und legt einem Soldaten, der gerade die Treppe hinuntergeht, die Hand auf den Rücken.

Als sie zusammen nach draußen gehen und zusehen, wie ein Bus voll winkender Männer die Auffahrt hinunterfährt, fragt Flossie: »Was werden Sie nun machen, George?«

»Ich gehe mit ihnen.«

»Was?«, fragt sie. »Aber Sie kämpfen doch nicht, oder? Sie haben doch keine Waffe?«

»Nein. Was schade ist, weil ich ein richtig guter Schütze bin. Aber ich gehe trotzdem mit ihnen.«

»Könnten sie Ihnen nicht ausnahmsweise eine Waffe geben? Es kommt mir ein bisschen unfair vor.«

»Ich bin auf einem Kriegsschiff. Mit großen Kanonen.«

»Na gut, dann sehen Sie zu, dass Sie immer hinter einer Kanone stehen«, sagt sie, und er muss lachen, obwohl sie sofort das Gefühl hat, dass ihre Bemerkung unangebracht und zu flapsig war.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich meine Schallplatten zur sicheren Aufbewahrung bei Ihnen lasse?«, fragt er. »Bis ich wiederkomme. Und sollte ich nicht …«

»Oh, sagen Sie das nicht, George«, unterbricht sie ihn schnell. »Ich hab mir dieses alberne Kleid nicht angezogen, um es jetzt vollzuheulen.«

»Ein sehr bemerkenswertes Kleid übrigens.«

»Ziemlich auffällig, ich weiß, aber manchmal ist es gut, sich schön zu machen.«

»Da gebe ich Ihnen recht«, sagt er und hebt die Hand an seinen Kragen.

Flossie lacht und sagt: »Ehrlich gesagt hat es mir großen Spaß gemacht, mal wieder aus meinen Latzhosen rauszukommen. Und Ihrer wunderschönen Musik zu lauschen. Ich habe es sehr genossen.«

»Die Männer werden es nicht vergessen«, sagt er. »Diesen Ort. Ihre Freundlichkeit. Sie. Ich auch nicht.« Er schenkt ihr ein schnelles Lächeln und schaut sie einen Augenblick an, dann zieht er seine Jacke straff, nickt kurz und geht zu seinem Motorrad. Sie schaut ihm zu, wie er die Maschine mit einem Tritt anlässt und über die Auffahrt davonfährt. Dann geht sie seitlich am Haus vorbei, in ihrem langen silbernen Kleid, um ihre Schweine zu füttern.