Der König der Schwerter und Der Stern

Juni 1944

Madame Camille, die mystische Hellseherin und Beraterin von Königen und Königinnen, steht an ihrem Fenster und schaut zu, wie Männer durch den Hafen marschieren, beladen mit Gewehren und Rucksäcken. Ein Rot-Kreuz-Zelt ist aufgeschlagen worden, um Donuts an die Amerikaner zu verteilen, während sie zu ihren Schiffen gehen – ein zuckriger Geschmack von Zuhause, der während der unruhigen Kanalüberquerung höchstwahrscheinlich wieder hochgewürgt werden wird. Der Wind hat den ganzen Tag schon in Böen geweht, und das Meer schäumt und grollt.

Es war gut fürs Geschäft, die Amerikaner in der Stadt zu haben, die mehr Geld in den Taschen hatten, als sie auszugeben wussten, das muss sie schon sagen. Jeden Tag kam ein anderer junger Mann mit einer Zigarette hinterm Ohr vorbei, um sie zu fragen, was seine Zukunft für ihn bereithalte, wobei er lachte und so tat, als würde er es gar nicht richtig ernst nehmen.

Sie hat die Tarotkarten mit den hässlicheren Bildern weiter unten im Stapel versteckt, denn sie haben die Soldaten immer wieder erschreckt. Jene, die nach Sieg aussahen, hat sie weiter oben hineingesteckt. Den König der Schwerter. Den Wagen. In einem gezinkten Stapel gibt es keine Wahrheit, aber sie macht es trotzdem so – wie ein Arzt. Einen Löffel voll Medizin. Ab mit euch, Jungs. Das wird euch helfen. Nein, das wird es natürlich nicht. Sie hat die Karten gesehen, die an ihrem Ärmel hängen bleiben, die zufällig senkrecht stehen bleiben. Sie sprechen von einem katastrophalen Preis und zähen Bemühungen.

Madame Camille beobachtet, wie die Truppen langsam in ihre Schiffe steigen, die den ganzen Hafen füllen. Sie betrachtet die Reihen von grauen Gesichtern unter Stahlhelmen, wie sie in ihre Landungsfahrzeuge marschieren, bis sie so dicht gedrängt stehen wie die Sardinen. Sie werden nur widerwillig abfahren.

Abenddämmerung. Maudie sitzt auf ihrem Dach und blickt über die Stadt. Weymouth liegt ganz still da. Es ist eine erwartungsvolle Stille. Die Pubs und Cafés sind leer. Die Häuser, wo Matrosen und andere Soldaten einquartiert waren, haben jetzt ein frisch gemachtes Bett frei. Hinter der Stadt liegt ein neues Feldlazarett, in dem Ärzte sitzen und warten und Verbände anlegen.

Maudie schlägt ihr Tagebuch auf. Sie hat Buch geführt über alle ihre Männer. Hat sich aufgeschrieben, wo sie sie kennengelernt hat, ob sie mit ihr mitgegangen sind und wie sie waren. Seit der Krieg ausgebrochen ist, sind sie gekommen und gegangen wie Ebbe und Flut und haben ihre Länder mitgebracht. Von den österreichischen Flüchtlingen, die in den Salons Walzer spielten, bis zu den schwarzen Amerikanern, die in den Kirchen Spirituals sangen. Und jeden Samstagabend, wenn die Big Bands in der Co-op Hall spielten, dass die Schwarte kracht, tanzten sie alle miteinander Swing.

Ein schwarzer Soldat hat ihr kurz nach seiner Ankunft erzählt, dass es befremdlich für ihn war, einer Weißen ins Gesicht zu schauen, dass er lernen musste, sein Kinn zu heben. So was wie das hier, sagt er, als er ihr Kinn hochhebt, wäre undenkbar. Es ist alles undenkbar, aber es gefällt ihr, es trotzdem zu denken. Sie zieht einen Stift aus ihrem Overall, um einen weiteren Mann hinzuzufügen.

5. Juni 1944

Warren

riecht nach Seife. Amerikaner riechen besser. sie werden aber schnell betrunken & das merkt man auch an ihrem geruch. man kann viel über leute durch ihren geruch erfahren. man kann auch viel auf dem dach eines pommesladens in Weymouth erfahren obwohl es jetzt nicht mehr Weymouth genannt wird. die zeitungen nennen den ort jetzt eine »stadt an der südküste« damit die deutschen uns nicht so schnell auf die schliche kommen. alle zuckerstangen mit dem aufdruck »Weymouth« in der Mitte hat man vernichtet wie Blindgänger.

namen sind sowieso nicht wichtig. namen sind bloß wie ein nagel an dem man sachen aufhängen kann. ich sehe einen namen in meinem tagebuch & weiß noch wie es sich angefühlt hat. manchmal ein spiel, manchmal ein kampf. manchmal ist der eine mitgekommen obwohl du gedacht hättest dass es der andere sein würde.

warren bedeutet: seine hände, sein mund, wie er aussieht wenn er seine uniform nicht mehr anhat und auf einer decke auf dem dach liegt, neben einem radio aus dem Billie Holiday singt. er nennt mich eine scharfe braut aber er ist noch schärfer und ich werd mich neben ihn legen.

er sagt wenn er durchkommt wird er die Army verlassen. er sagt, sie sind froh ihn einsetzen zu können aber sie wollen ihn auf den fotos nicht in der ersten reihe. er findet es sinnlos für weiße zu arbeiten die sein hübsches gesicht nicht auf ihren fotos haben wollen. er fragt was ich danach tun werde und ich frage mich was

Warren streckt die Hand aus und nimmt ihr den Stift weg. Er sagt, er muss bald gehen. Er sagt, lass uns keine Zeit verschwenden.

Als Maudie die Augen wieder aufschlägt, ist es zwei Uhr morgens, und sie ist allein. Sie schaut hoch, um zu sehen, was sie geweckt hat, und sieht einen stetigen Strom von Flugzeugen, die über den sternenübersäten Himmel ziehen. Mehr, als sie je zuvor gesehen hat. Bomber, militärische Transportflugzeuge. Flugzeuge mit Segelfliegern im Schlepptau. Eines nach dem anderen, ein endloser fliegender Konvoi. Ein tiefes, durch Mark und Bein gehendes Dröhnen. Sie wirft die Decke weg, mit der Warren sie zugedeckt hat, und legt sich nackt aufs Dach. Sie schaut zu, wie sie vorüberziehen, und lässt sich von der Nachtluft die Haut kühlen.