Die Amerikaner

Juli 1944

In der ersten Juliwoche holpert Édouard mit Cristabel in seinem alten Fiat über die Straßen zur nächsten Stadt. Er sagt, er habe ein paar Amerikaner in einem Jeep gesehen. »Die waren riesig!«, ruft er über das schrille Wimmern des Motors hinweg. »Und sie haben Kaugummi gekaut! Ich dachte immer, das machen die bloß im Film!«

Sie finden sie tatsächlich – eine drei Mann starke Kundschaftertruppe in einer Hotelbar, wo der Bürgermeister der Stadt eine Landkarte auf einem Tisch ausgebreitet hat und darauf zeigt. Die Amerikaner sind sonnengebräunt und staubig, stecken in Kampfkluft, mit Stiefeln und Helmen, und haben die Hände in die Seiten gestemmt. Sie sind die ersten Vertreter der Invasionstruppen, die in der Stadt eingetroffen sind, und sehen aus wie Gesandte von einem anderen Planeten.

Cristabel geht auf sie zu und sagt in ihrem englischsten Englisch, dass sie eine britische Agentin sei, die mit der örtlichen Résistance zusammenarbeite. Sie schlägt ihnen vor, die Baker Street in London zu kontaktieren, sollten sie ihre Worte bezweifeln. Die Amerikaner betrachten sie, mit ihrem schlecht gefärbten Haar, ihrem zerknitterten Kleid und den zerfledderten Sandalen, die ihr Wanda geliehen hat.

»Sprechen Sie Französisch?«, fragt der eine, der offenbar das Sagen hat, ein Oberleutnant.

»Diese Leute halten mich für eine Französin«, sagt sie, deutet auf den Bürgermeister und den Barmann, als Vertreter der Normandie. Man hört ein verächtliches Schnauben vom Barmann, der gerade Cognac in drei tulpenförmige Gläser schenkt.

»Wir brauchen einen Übersetzer, der die Gegend gut kennt«, sagt der Oberleutnant. Er wendet sich wieder der Karte zu. »Was können Sie uns zu dieser Straße durch den Wald sagen?«

Nachdem der Oberleutnant ein paar Anrufe vom Büro des Hotels aus getätigt hat, um sich ihre Identität bestätigen zu lassen, sitzt Cristabel plötzlich im Jeep und gibt den Amerikanern eine schnelle Führung durch die Gegend. Sie sitzt neben einem Soldaten mit unbeweglicher Miene, der ein Maschinengewehr in der Hand hält. Manchmal halten sie an, und dann feuert der Leutnant Fragen auf Cristabel ab, die sie dann einem verblüfften Bauern übersetzen muss. Wo sind hier die nächsten Deutschen stationiert? Wie viele sind es?

Die Anwohner kommen an ihre Türen, starren den vorüberbrausenden Jeep an und wissen nicht, was für einen Reim sie sich darauf machen sollen. Sie wissen zwar, dass die Alliierten an den Stränden der Normandie gelandet sind, aber sie wissen auch, dass es heftige Kämpfe gegeben hat und dass der Kampf um Frankreich noch nicht gewonnen ist.

Die Amerikaner fahren durch verschlafene Dörfer, vorbei an Häusern mit geschlossenen Fensterläden, an kopfsteingepflasterten Plätzen und tröpfelnden Brunnen, sonnenwarmen Steinmauern und Feldern. Unter einem weiten europäischen Himmel. Sie brausen sogar durch eine kleine Stadt, die Cristabel einmal vor einer halben Ewigkeit mit Mademoiselle Aubert, Flossie und Digby besucht hat. Sie hatten sich auf der Suche nach einer Herberge verlaufen und in einer Bar nach dem richtigen Weg gefragt. Ein lauter Deckenventilator. Eine gähnend langweilige Mademoiselle Aubert.

»Könnte sein, dass wir noch eine Aufgabe für Sie haben«, sagt der Oberleutnant nach einer Weile. »Könnten Sie nach Paris fahren?«

»Ja«, sagt Cristabel rasch.

»Wir müssen unbedingt mehr über die Truppenstärke der Deutschen in der Stadt erfahren. Wir können nicht näher ran, und wir müssen noch heute Nacht zurück nach Saint-Lô, aber wenn Sie vielleicht …«

»Ja«, wiederholt sie. »Sagen Sie mir, welche Informationen Sie brauchen. Und wie ich Sie erreichen kann.«

Édouard besteht darauf, sie mit seinem Arztausweis so weit wie möglich zu fahren. Es verkehren kaum noch Züge. Der Großteil des Eisenbahnnetzwerks ist außer Betrieb gesetzt worden, entweder durch die Bomben der Alliierten oder durch Sabotageakte der Résistance. Während Édouard und Cristabel auf die Hauptstadt zufahren, sehen sie britische Bomber über sich hinwegfliegen, dunkle Linien hinter kleinen Kreuzen am Abendhimmel. Deutsche Militärfahrzeuge, die mit Zweigen bedeckt sind, kommen ihnen manchmal in rasendem Tempo entgegen. Cristabel hat ihr Taschentuch bereit, um wieder Blut zu husten, doch Édouards Fiat scheint die Deutschen im Moment nicht so sehr zu interessieren.

Sie werden nur einmal angehalten, ein paar Kilometer vor Paris, an einer Straßensperre, wo ein einzelner Wehrmachtssoldat Édouards Pass kurz überprüft und ihnen dann mit einem Nicken signalisiert, dass sie weiterfahren können.

»Haben Sie gesehen? Der sah doch kaum älter aus als sechzehn«, sagt Édouard, als sie weiterfahren. »Was für ein Ort für so einen Jungen.«

»Wahrscheinlich gehen ihnen langsam die erwachsenen Männer aus«, erwidert Cristabel und vergewissert sich, dass sie wirklich alles, was sie braucht, in ihrem Rucksack hat: Papiere, Geld, Zigaretten, ein Messer und Édouards Ausgabe von Madame Bovary  – er wollte unbedingt, dass sie das Buch mitnimmt.

Édouard biegt in eine Seitenstraße ab, um sie aussteigen zu lassen. Er beugt sich vom Fahrersitz herüber, um sie mehrfach auf beide Wangen zu küssen, ihr noch eine Tüte Pastinaken in die Hand zu drücken und ihr einzuschärfen, sie solle behaupten, sie wäre bei Freunden auf dem Land gewesen, um sich mit Vorräten einzudecken.

»Ich muss jetzt los«, sagt sie. »Ich möchte nicht nach der Sperrstunde aufgegriffen werden.«

»Bitte seien Sie vorsichtig«, sagt er.

»Ich komme wieder«, erwidert sie. »Versprochen. Danke für alles.«

Er drückt sie fest an sich, und sie hört ihn noch sagen: »Mein liebes Kind«, fast wie zu sich selbst, dann zieht er sich zurück und nickt ihr zu. »Gehen Sie. Gehen Sie, schnell. Wir werden uns wiedersehen.«

Die Amerikaner haben ihr einen Kontakt gegeben – den eines Agenten namens Jules, angeblich einer ihrer zuverlässigsten Agenten in Paris – und ein Restaurant, wo sie diesen Kontaktmann finden kann. Cristabel sucht sich ein billiges Hotel, in dem sie übernachten kann. Sogar für eine Agentin in einem schäbigen Hotel mitten in einem Krieg ist es aufregend, zum ersten Mal in Paris zu sein. Sie lehnt sich aus dem Fenster und lauscht der Stadt. Irgendwo da draußen ist Digby.

Am nächsten Tag steckt sie sich eine Nelke an die Bluse, wie vereinbart, und geht zum Restaurant, um Jules zu suchen. Es ist kein Bistro in irgendeiner Seitenstraße, wie sie erwartet hätte, sondern ein teures Lokal auf der breiten Prachtstraße, den Champs-Élysées. Die Tische, die davorstehen, sind von langstiefeligen Nazi-Offizieren besetzt, die die Sonne genießen. Es ist seltsam, sie so entspannt zu sehen, wenn man weiß, dass nur ein paar Hundert Kilometer entfernt Krieg geführt wird.

Sie geht hinein unter dem Vorwand, einen Kellner nach dem Weg fragen zu müssen. Sie lässt die Blicke über die Gäste schweifen, sieht aber niemanden, der infrage kommen könnte. Als sie gerade wieder gehen will, wird von einem Tisch in der Nähe eine Hand ausgestreckt, die sie am Handgelenk packt.

»Haben Sie die Zeitung nicht gesehen?«, fragt eine Frau in langsamem, majestätischem Französisch. »Ich hatte sie so schön auf dem Tisch ausgebreitet.«

Cristabel dreht sich um und sieht die Zeitung, nach der sie Ausschau halten sollte, offen auf dem Tisch liegen, vor einer Frau, die sie kurz begutachtet und dann gleich wieder abgehakt hatte. Sie ist Mitte fünfzig, trägt einen modisch gestreiften Rock in Grau und Schwarz mit einem dazu passenden Jackett, das über einem gewaltigen Busen zugeknöpft ist, und hat silberfarbenes Haar, das ordentlich unter einem schicken Federhut aufgesteckt ist. Ihr Gesicht ist breit, und um ihren Hals hängen diverse Gegenstände: eine Ansammlung von Perlen, ein Zwicker an einer Silberkette und ein Seidenschal, der von einer Brosche in Pferdeform zusammengehalten wird. An ihren kräftigen Händen trägt sie juwelenbesetzte Ringe mit dunklen Steinen, Rubinen und Granaten. Eine Pelzstola hängt von ihrer Stuhllehne, und eine Krokodillederhandtasche mit einem kleinen Hund darin steht neben ihren Füßen.

»Ich freue mich, dass Sie hier sind«, sagt die Frau und steht auf. »Ich kann es kaum erwarten, hier rauszukommen. Sie haben hier einen neuen Koch, und der ist ein einziges Desaster.« Sie greift sich ihre Stola und die Handtasche, zieht ein ordentliches Bündel Geldscheine unter dem Hund hervor und legt das Geld auf den Tisch. Als sie zusammen auf die Straße zugehen, bleibt sie stehen und fasst Cristabel noch einmal beim Arm. »Aber wir müssen uns doch freuen, dass wir uns sehen.« Sie küsst sie auf jede Wange, einmal, zweimal, dreimal. »Und jetzt gehen wir.«

Sie heißt Lieselotte de Brienne. Sie ist halb Deutsche, halb Amerikanerin – »eine komplizierte Mischung«, wie sie Cristabel erzählt, während sie über die sandigen, baumgesäumten Wege in den Jardins des Champs-Élysées gehen. Doch sie hat die meiste Zeit ihres Lebens in Frankreich zugebracht, nachdem sie einen wohlhabenden französischen Industriellen geheiratet hatte, der im Moment in ihrem Sommerhaus in Avignon ist. »Er hat Paris nie so geliebt wie ich«, sagt sie. Vor dem Krieg hat sie regelmäßig Salons in ihrer Pariser Wohnung veranstaltet, mit Schriftstellern, Künstlern, Politikern, und hat diese Tradition auch während der Besatzungszeit beibehalten. Dadurch ist der amerikanische Geheimdienst auf sie aufmerksam geworden, der ihr vorschlug, sie könne doch einfach mal ein paar hochrangige Nazi-Funktionäre einladen, die ganz erpicht darauf seien, sich mit französischen Intellektuellen zu treffen.

»Ich bin gerade französisch genug, um ihren Egos zu schmeicheln«, sagt sie über ihre deutschen Gäste, »gerade deutsch genug, um sie an ihre Mütter zu erinnern, und gerade amerikanisch genug, um sie in dem Irrglauben zu wiegen, dass ich ein bisschen dumm bin. Das ist das Wichtigste, verstehen Sie? Sie glauben, ich interessiere mich nur für Kaviar und Klatsch, und dann sagen sie Dinge, die sie eigentlich gar nicht vor mir sagen dürften. Oder wenn nicht vor mir, dann eben vor dem netten Mädchen, das ich angeheuert habe, damit es ihnen fleißig nachschenkt. Aber jetzt habe ich genug über mich gesprochen. Was machen Sie denn so?«

»Ich arbeite für eine britische Organisation …«, beginnt Cristabel.

»Das hab ich nicht gemeint. Was machen Sie wirklich? Außerhalb von diesem hier«, sagt Lieselotte. Sie nimmt ihren Hund aus der Tasche und stellt ihn auf den Weg, woraufhin er neben ihr hertrabt.

»Man hat mir verboten …«

»Wenn Sie Ihre Vorsichtsmaßnahmen nie lockern, werden unsere Unterhaltungen sehr langweilig werden, befürchte ich.«

»Das ist ja gerade der Sinn von Vorsichtsmaßnahmen.«

»Dann erzählen Sie mir eben, so viel Sie können, und wir werden tun, was wir können«, sagt Lieselotte, als sie vor einem dekorativen Brunnen stehen bleiben, der allerdings kein Wasser mehr enthält, sondern mit trockener Kehle dasteht.

Cristabel zögert. »Ich habe ein Theater.«

»Ein Theater? Das ist ja großartig.«

»Ist es nicht. Es könnte großartig sein. Aber das ist es nicht.«

»Was spielen Sie dort? Was sind Ihre Themen?«

»Wir haben Shakespeare aufgeführt. Ich würde nicht behaupten, dass wir besondere Themen gehabt hätten, obwohl wir einmal versucht haben, Elemente einzubauen, die vom Bürgerkrieg in Spanien inspiriert waren. Einer von meinen Schauspielern wollte das unbedingt. Aber rückblickend würde ich sagen, es war ein bisschen forciert.«

»Mich hat politisches Theater noch nie überzeugen können. Ich lass mich nicht gerne herumkommandieren«, sagt Lieselotte. »Führen Sie Regie?«

»Ja.«

»Also, das ist ja absolut perfekt. Eine angehende Theaterregisseurin ist genau die Art von Person, die ich zum Lunch einladen würde. Ich hatte Schwierigkeiten, mir einen Grund einfallen zu lassen, warum ich mich mit einer schwindsüchtigen Kunststudentin unterhalten sollte – oder was auch immer sie mir gesagt hatten, wofür Sie sich ausgeben. Haben Sie die neueste Inszenierung der Antigone schon gesehen? Im Théâtre de l’Atelier?«

Cristabel lacht. »Ich bin schon sehr lang nicht mehr im Theater gewesen.«

»Dann gehen wir hin. Jeder spricht darüber.«

»Ich bin hier, um uns Informationen über die militärische Einsatzbereitschaft der Deutschen zu beschaffen, nicht um ins Theater zu gehen.«

»Das eine muss das andere doch nicht ausschließen. Wollen wir zulassen, dass sie uns jedes Vergnügen nehmen? Ich glaube nicht«, sagt Lieselotte. »Wir werden unser Glück im Lucas Carton versuchen. Da bekomm ich normalerweise immer einen Tisch.«

Sie dirigiert Cristabel aus dem Park und um die Place de la Concorde herum, einen offenen Platz mit einem riesigen Obelisken in der Mitte. Große rote Flaggen mit Hakenkreuzen hängen an den eindrucksvollen Gebäuden, die den Platz umgeben, und in einer Ecke steht ein Schild mit Hinweisen auf Deutsch in Frakturschrift – Soldatenkino, Soldatencafé. Die einzigen Autos in Paris sind deutsch: Es gibt kein Benzin mehr für die Franzosen.

»Ich wollte Sie etwas fragen«, sagt Cristabel, als sie Richtung Restaurant gehen. »Zwei von unseren Leuten werden in Fresnes festgehalten. Ihre Decknamen sind Antoine und Sidonie. Wenn Sie irgendetwas über sie herausfinden könnten, wären wir Ihnen sehr dankbar.«

Lieselotte nickt. »Wo wohnen Sie?«

»In einem Hotel am linken Seine-Ufer.«

»Es gibt ein Restaurant am Boulevard Saint-Germain, in dem wir beim Sommelier Botschaften hinterlassen können. Ich werde Ihnen später sagen, wo Sie es finden«, sagt Lieselotte.

Als sie zum Eingang des Lucas Carton kommen, tritt gerade ein gut aussehender Wehrmachtsoffizier heraus, in Begleitung einer jungen Frau mit hohen Absätzen und in einem Seidenkleid. Sowie er Lieselotte sieht, begrüßt er sie mit überzogener Höflichkeit und beugt sich schwungvoll herab, um ihr die Hand zu küssen.

»Lieber Herr Schulte, ich hoffe, wir sehen Sie am Donnerstag, wie immer«, sagt Lieselotte auf Deutsch.

»Ich würde es um nichts in der Welt verpassen wollen«, erwidert er. Dann deutet er auf Cristabel und fragt: »Wird Ihre Freundin auch dabei sein?«

»Ich hoffe«, sagt Lieselotte. »Claudine ist Theaterregisseurin. Ich hab ihr von Anouilhs neuer Inszenierung der Antigone erzählt, sie hat sie noch gar nicht gesehen.«

»Dann müssen Sie mich die Karten besorgen lassen«, sagt der Deutsche eifrig. »Es ist ein faszinierendes Theaterstück.«

»Ach, leider hat Claudine ihre Zweifel, ob es moralisch sei, in Kriegszeiten ins Theater zu gehen«, sagt Lieselotte in neckendem Ton. Cristabel fällt auf, dass Lieselotte auf Deutsch schneller spricht, und die Sprache scheint ihr vertrauter zu sein als das Französische.

Der Offizier lächelt Cristabel an und sagt in bemühtem Französisch: »Die alten Griechen glaubten, es sei eine Bürgerpflicht, ins Theater zu gehen. Ich kann ihnen da nur zustimmen. Ich werde selbstverständlich die Karten für Sie besorgen.«

»Sie sind zu freundlich«, sagt Lieselotte, und er verbeugt sich, bevor er mit seiner Begleiterin weitergeht.

»Ich kann keine Theaterkarten von ihm annehmen«, sagt Cristabel, als sie das Restaurant betreten. Das elegante Innere des Lokals ist mit Jugendstilholzverzierungen versehen. In den geschwungenen Spiegeln sind modisch gekleidete französische Restaurantgäste und uniformierte Nazis zu sehen, die von Kellnern in weißen Jacken bedient werden.

»Sie können und Sie werden«, sagt Lieselotte und stellt ihren Hund unter den Tisch. »Wir sollten alles von ihm annehmen, was wir nur können. Es gehört schließlich alles nicht ihm, oder? Nichts, was diese Kerle hier haben, gehört ihnen. Außerdem müssen Sie etwas von mir annehmen. Ich würde Ihnen gerne ein paar Sachen zum Anziehen kaufen und Sie zu meinem Friseur schicken. Und ich glaube nicht, dass ich ein Nein akzeptieren werde.«

Lieselotte bestellt eine Flasche Champagner, dann sieht sie aus dem Fenster und betrachtet die Pariserinnen, die auf Fahrrädern vorbeifahren, mit weißen Sonnenbrillen und rotem Lippenstift. Sie tragen ihre Haare vorne aufgetürmt oder haben sie unter bunte Stoffturbane geschoben, und sie treten mit ihren Keilabsatzschuhen in die Pedale. Ihre Röcke flattern im Wind, und die Frauen fliegen vorbei wie die Fahnen unten am Boulevard Malesherbes.

»Schauen Sie sich diese wunderbaren Mädchen an«, sagt Lieselotte. »Was für ein Trotz!«

Im Laufe der nächsten Wochen bricht Cristabel regelmäßig auf ihrem eigenen Fahrrad auf. Sie hat es vor einem Laden gestohlen, nicht ohne eine geschriebene Entschuldigung und eine Rolle Bargeld zu hinterlassen, denn der Preis für ein Fahrrad im besetzten Frankreich ist fast so hoch wie der für ein Auto. Damit fährt sie durch die Stadt und ihre Außenbezirke, um heimlich die Positionen der deutschen Truppen auszuforschen.

Sie findet heraus, in welchen Gebäuden die deutschen Einheiten untergebracht sind, und geht extra in die Cafés und Bars der Umgebung, um vorsichtig nach Kontaktleuten zu suchen, die ihr vielleicht mehr über die Stärke der Truppen sagen könnten. Jede nützliche Information, die sie zutage fördert, gibt sie Lieselotte weiter, damit diese sie wiederum an die Amerikaner weiterleitet.

Cristabel erwirbt ein gewisses Geschick in der Kunst, neutrale Fragen zu stellen, die sie eventuell zu jemand führen könnten, der bereit ist zu reden. Sie stellt fest, dass es hilft, beim Konsum alkoholischer Getränke gesehen zu werden, denn so wirkt man eher wie jemand, der die Vorsicht auch mal über Bord wirft. Eine redselige beschwipste Frau ist vielleicht nervtötend, aber nicht verdächtig, und es gibt jede Menge Frauen, die sich durch diesen Krieg trinken. Ein billiger Branntwein auf nüchternen Magen nimmt den Dingen ihre Ecken und Kanten. Sogar Onkel Willoughby, der den Krieg immer als das tollste Abenteuer schilderte, hatte nur selten keinen Drink in der Hand, und jetzt versteht sie auch, warum.

Durch ihre vorherigen Aufträge in Frankreich kennt sie schon diese für Agenten so typische ständige Selbstwahrnehmung, aber jetzt fühlt sie sich doppelt gefordert. Denn neben der Arbeit, die sie für die Amerikaner tut, hält sie in der Stadt immer auch noch Ausschau nach Digby. Das läuft ihrem Auftrag zwar nicht zuwider, aber es ist eben nicht ihr Auftrag, und deswegen fühlt sie sich ein wenig durcheinander, wie ein Radio, das zwischen zwei Frequenzen wechselt. Sie setzt sich selbst eine Grenze von zwei Drinks pro Tag, denn sie ist entschlossen, konzentriert zu bleiben, den Rest kann sie schauspielern.

Ihr schmutziger Rucksack ist durch eine schicke Handtasche ersetzt worden, und sie trägt die Sachen, die ihr Lieselotte besorgt hat: ein blau-weiß kariertes Sommerkleid und flache, geschnürte Schuhe mit Holzsohlen, die sie wie die Pariserinnen mit kurzen Söckchen trägt. Sie hat einen dazu passenden Schal in ihr akkurat geschnittenes, neuerdings brünettes Haar gebunden und trägt eine Sonnenbrille, denn der Juli in Paris ist heiß und golden. Die Pariser liegen am Seine-Ufer, sie steigen die Steintreppen zum Fluss hinunter, und dann legen sie sich auf die von der Sonne gewärmten Ufereinfassungen unter die hohen Bäume.

Die Zeit scheint in Paris stehen geblieben zu sein, die Bevölkerung lebt in einer Art Schwebezustand. Neuigkeiten vom Vorrücken der Alliierten sind schwer zu bekommen, denn weder die BBC noch die Deutschen wollen irgendwelche Einzelheiten herausrücken, und die Stromausfälle sind so häufig, dass es schwierig ist, ein funktionierendes Radio aufzutreiben. Manchmal kommt dunkler Rauch aus der Normandie über die Stadt gezogen, und er verbirgt die Sonne über den Sonnenanbetern wie eine riesige, sichtbare Vorwarnung, doch wovor sie warnen soll, weiß keiner.

Die Stadt ist wie eine Uhr, die permanent fünf vor zwölf anzeigt, wie ein mit Wasser gefüllter Topf, der nie anfängt zu kochen, solange man ihn anschaut. Vor den Läden bilden sich Schlangen von Frauen, die an Wänden lehnen und sich selbst Kühle zufächeln. Lebensmittel, die schon immer schwer zu bekommen waren, sind jetzt so gut wie gar nicht mehr zu bekommen, und man stellt inzwischen Schilder in die Schaufenster, auf denen die ganzen Sachen aufgelistet sind, die nicht mehr vorrätig sind. Es gibt einen Überfluss an Schildern und Plakaten. Bekanntmachungen zur Ausgangssperre, Verkündigungen von Todesurteilen und die grellen Affiches rouges  – rote Plakate mit Bildern von gefassten Widerstandskämpfern. Die Pariser bleiben stehen und schauen und unterhalten sich leise. Cristabel schiebt ihr Fahrrad an ihnen vorbei und überfliegt die Fotos, ihre zerschlagenen, starrenden Gesichter.

Es gehen Gerüchte um, dass die Nazis Dynamit unter sämtlichen Brücken in Paris angebracht haben, es gehen Gerüchte um, dass jemand versucht hat, Hitler selbst in die Luft zu sprengen. Die Türen der Hotels, die von Deutschen frequentiert werden, sind strenger bewacht. Straßen werden von Militärfahrzeugen abgesperrt. Es gibt sporadische Kundgebungen – die Franzosen marschieren zum ersten Mal seit Jahren wieder am 14. Juli, und die Deutschen lassen ihre eigenen Truppen im Stechschritt über die Boulevards ziehen – aber es kommt nicht viel dabei heraus.

Meistenteils ist es einfach nur ruhig. So ruhig, dass man es mehrere Straßen weit hören kann, wenn ein deutscher Panzer durch die Stadt rasselt. Ein mechanisches Monster, dessen Geschützturm sich mit ungerührter Langsamkeit dreht und sein Geschütz auf verschiedene Gebäude richtet: auf eine Bank und ein Kaufhaus und eine Wohnung im zweiten Stock, deren Bewohner Hühner auf dem Balkon halten. Wie ein Kind, das sagt: Ich krieg dich und dich auch und dich auch .

Cristabel fährt an einem Panzer vorbei, der in der Mitte eines von Bäumen gesäumten Boulevards steht, ein teilnahmsloses Monument aus Metall. Restaurantbesitzer kommen an ihre Türen, um ihn anzuschauen, dann gehen sie wieder hinein, um Tische abzuwischen. Sie tritt in die Pedale und lenkt ihr Fahrrad Richtung Süden, zum Stadtrand. Sie fährt immer weiter, bis sie eine Stelle findet, wo sie in der Ferne das massive Gefängnis Fresnes sehen kann: eine düstere Reihe von steinernen Gefängniszellen hinter einer Mauer, bewacht von einem Wachturm.

Sie kann die Umrisse von vergitterten Fenstern erkennen und stellt sich vor, wer darin sitzt. Junge Rebellen wie der Sohn von Édouard und Wanda. Gefangen genommene Agenten wie Antoine und Sophie. Ein Gefängnis voll tapferer Menschen. Sie überlegt, was die Deutschen mit ihnen machen werden, wenn die Alliierten kommen. Ich bin’s!, denkt sie sich. Ich bin hier! Dann ergreift sie die Flucht und fährt wieder zurück nach Paris.