Eine Wohnung in Paris

Juli 1944

An einem drückend schwülen Tag fährt Cristabel mit dem Rad in den Norden von Paris, um sich die Clignancourt-Baracken anzuschauen, in denen angeblich Franzosen wohnen, die sich freiwillig zur SS gemeldet haben. Sie kann zwar nicht so nah an die Baracken heran, aber sie setzt sich am Morgen in ein Café in der Nähe und beobachtet, welche Art von Militärfahrzeugen hinein- und herausfahren, während sie eine interessante Unterhaltung über die Moral der Truppen belauscht.

Danach fährt sie mit dem Rad zurück durch die Stadt und macht einen Umweg, um die Straßensperren zu meiden. Sie hält kurz an einem Kiosk, um eine Zeitung zu kaufen, und der Zeitungsverkäufer sagt grinsend: »Haben Sie schon gehört? Die Alliierten haben Saint-Lô befreit.«

Die Aufregung angesichts dieser Neuigkeiten verleiht ihr neue Kräfte, und schon bald fliegt sie auf die Seine zu, als sie auf einmal ein Straßenschild sieht – Rue des Rosiers – und anhält. In der Rue des Rosiers hatte Mademoiselle Auberts Mutter gewohnt, über einem Laden. Dort hatte sie ihre Näharbeiten erledigt und gehofft, dass ihre Familie eines Tages wieder zu alter Größe erstehen würde. Ganz plötzlich steht es ihr wieder vor Augen. Das stickige Schulzimmer auf dem Dachboden von Chilcombe. Mademoiselle Auberts Verbitterung über den Abstieg ihrer Familie.

Cristabel schiebt ihr Fahrrad in die enge, kopfsteingepflasterte Gasse und späht hinunter. Die Gebäude lehnen nah aneinander, sie sehen älter aus als die anderen Häuser in Paris. Ein paar sind zugenagelt oder haben zerbrochene Fenster. Sie sieht gekritzelte Graffiti, das Wort Juif auf eine Tür geschrieben. Eine alte Frau, die sich in einen Schal gewickelt hat, sitzt auf einer Vortreppe. Cristabel bietet ihr eine Zigarette an und fragt leise, ob sie eine Mme Aubert kennt, die einmal in dieser Straße gelebt hat.

Die alte Frau lacht, und ihr Gelächter löst eine Kaskade aus kehligem Husten aus. Irgendwann sagt sie: »Die wohnt nicht mehr hier. Sie ist aufgestiegen in der Welt. Mit ihren neuen Freunden.«

»Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«, fragt Cristabel.

»Warum sollten Sie sie finden wollen? Wir werden sie finden, wenn das alles hier vorbei ist. Das können Sie ihr ausrichten.«

»Ich werde es ihr ausrichten, wenn Sie mir sagen, wo sie ist.«

Die alte Frau schweigt. Cristabel wendet sich zum Gehen, da sagt die Frau: »Aber dann geben Sie mir die ganze Schachtel.«

Cristabel reicht ihr die Zigaretten, und die Frau sagt: »Rue Beaujon. In der Nähe des Arc de Triomphe. Halten Sie einfach Ausschau nach der bestgenährten Concierge der Straße. Sie ist so dick wie eine Gans, die demnächst für Pâté de foie gras geschlachtet werden wird.«

Cristabel ist sich bewusst, dass es nicht besonders ratsam ist, Mme Aubert zu suchen, jemanden mit einer schwachen Verbindung zu ihrer wahren Identität, aber sie ist neugierig, nicht zuletzt, weil sie glaubt, dass Digby vielleicht auch neugierig gewesen sein könnte, wenn er jemals das Straßenschild der Rue des Rosiers gesehen hätte.

Außerdem ist die Verbindung sehr indirekt, und die Alliierten könnten nächste Woche schon hier sein. Sie spürt, dass sie Rückenwind hat, und sie spürt es noch einmal, als sich herausstellt, dass Mme Aubert sehr leicht zu finden ist. Gerade steht sie auf der Straße vor ihrer loge und verscheucht zwei Jungen, die sie verhöhnen. Sie ist eine fülligere, über sechzigjährige Ausgabe ihrer Tochter, mit den gleichen dunklen Muttermalen und dem todernsten Gesicht. Sie trägt ein schwarzes Kleid und hat das graue Haar zu einem Knoten hochgesteckt.

Cristabel schüttelt mitfühlend den Kopf. »Typisch Kinder.«

»Sie haben keinen Respekt vor mir«, klagt Mme Aubert.

Cristabel schaut die Straße entlang: eine Reihe von vanillefarbenen Mietwohnungen im schicken 8. Arrondissement, eine Gegend, die sie normalerweise meidet, weil sie bei den Deutschen so beliebt ist. Die Gestapo hat ganz in der Nähe ihr Hauptquartier, in der grünen Avenue Foch. Mme Aubert hat sich ein gutes Auskommen gesichert, nur wenigen geht es im Krieg so gut. Sie denkt an die Drohung der alten Frau in der Rue des Rosiers, die irgendwelche »neuen Freunde« erwähnt hat, und sie beschließt, es einfach mal zu versuchen. »Sie sind nicht zufällig Madame Aubert?«

»Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Ich heiße Claudine Beauchamp. Ich habe Ihren Namen von meinem Freund bekommen, Herrn Schulte.«

Als sie das hört, führt Mme Aubert Claudine zu ihrer loge und sagt: »Herr Schulte? Ich bin nicht sicher, ob ich mich an einen Herrn Schulte erinnere.«

»Er spricht immer in den höchsten Tönen von Ihnen.«

»Wollen Sie nicht reinkommen, Mademoiselle Beauchamp? Sie können Ihr Fahrrad da bei der Treppe lassen.« Mme Aubert führt sie in ihre Räume, die durch Netzgardinen von der Straße abgeschirmt sind. An einer Wand befinden sich mehrere kleine Fächer zum Sortieren der Post und eine Korktafel, an der man Zimmerschlüssel aufhängen kann. Auf einem Schreibtisch liegen Papiere und ein Buch, in das sich die Besucher eintragen müssen. Wenn man durch einen Alkoven schaut, sieht man einen Esstisch mit einem altmodischen Tischtuch und einen großen Schrank, in dem jede Menge Geschirr steht, in den verschiedensten Formen und Stilen. »Das Service meiner Familie«, sagt Mme Aubert, die Cristabels Blick bemerkt hat.

»Schön.«

Sie tauschen weitere Nettigkeiten aus, dann verschwindet Mme Aubert in die angrenzende Küche, um Kaffee zu kochen. Cristabel blättert rasch durch das Besucherbuch und überlegt, was für einen Namen Digby wohl benutzt hat und was er gesagt haben könnte, wenn er in diesem Zimmer gestanden hätte. Nach einer Weile sagt sie: »Man hat mir gesagt, dass Sie mir vielleicht helfen könnten, eine Wohnung zu finden, Mme Aubert.«

»Kann sein«, antwortet Mme Aubert aus der Küche.

»Ich habe gehört, dass Sie sehr diskret sind«, sagt Cristabel und lässt ihre Blicke prüfend über die Bilder an den Wänden gleiten: Familienfotos, Heiligenbilder und ein gerahmtes Foto von Maréchal Pétain.

Mme Aubert kommt mit einem Silbertablett zurück, auf dem Porzellantassen mit Rosenmuster stehen. Cristabel deutet auf eines der Fotos an der Wand, auf dem Mademoiselle Aubert zu sehen sein muss: »Wer ist denn dieses charmante Mädchen? Sie sieht Ihnen ziemlich ähnlich.«

»Das ist meine Ernestine. Sie ist Gouvernante. War schon bei vielen vornehmen Familien angestellt. Ich wünschte nur, sie würde etwas näher bei mir wohnen.«

»Ach, sie lebt also gar nicht in Paris?«

Mme Aubert schüttelt den Kopf. »Sie wohnt in der Schweiz. Davor war sie in England.«

»Sie müssen sehr stolz auf sie sein.« Cristabel nippt an ihrem Kaffee. »Mann, das schmeckt ja wie richtiger Kaffee. Findet man heute nur noch selten.«

Mme Aubert lächelt ein bisschen schüchtern.

Cristabel lächelt zurück. »Wir brauchen alle unseren kleinen Luxus. Wo in England hat Ihre Tochter denn gearbeitet? Ich war vor dem Krieg in England. Jetzt würde ich nicht mehr hinwollen. Angeblich erkennt man es nicht mehr wieder.«

»Ich bin nicht sicher, wo es war, aber es war bei einer vornehmen Familie, wie meiner eigenen. Dies hier …«, sie deutet auf die Zimmer rundherum, »… ist nur vorübergehend, wenn Sie verstehen.«

»Ja, es sind schwierige Zeiten«, sagt Cristabel mitfühlend. »Angeblich werden die Engländer ja in ihrem eigenen Land überrannt. Überschwemmt von den unerwünschtesten Elementen.«

Mme Aubert schüttelt den Kopf. »Furchtbar.«

»Wenn das so weitergeht, dann wird nicht mehr viel von der anständigen Gesellschaft übrig sein.« Mit einem Blick auf Pétain fügt Cristabel hinzu: »Gott sei Dank gibt es immer noch Leute, die sich zur Wehr setzen.«

»Ohne ihn wären wir verloren, und Frankreich hat weiß Gott genug gelitten«, sagt Mme Aubert. Dann schaut sie auf die Wanduhr. »Was Ihre Unterbringung angeht, Mademoiselle Beauchamp, ich kümmere mich noch um ein zweites Haus in dieser Straße. Nummer zwanzig. Da gibt es eine Wohnung im dritten Stock, die vor Kurzem leer geworden ist. Vielleicht möchten Sie sich die mal anschauen?«

»Gerne, wenn ich darf.«

»Ich gebe Ihnen den Schlüssel, denn ich muss noch schnell zum Metzger, bevor er schließt, aber wir könnten uns ja wieder hier treffen, wenn Sie sich umgeschaut haben.« Mme Aubert steht auf und nimmt einen Schlüssel vom Haken, den sie Cristabel in die Hand drückt.

»Das ist ja perfekt«, meint Cristabel und steht auf. »Was für ein Glück, dass Sie gerade eine freie Wohnung haben.«

»Die Familie, die da drin gewohnt hat, hätte man gar nicht erst einziehen lassen sollen. Ihre Sorte hat das alles erst verursacht.«

»Vielleicht ist es tatsächlich das Beste, dass sie ausgezogen sind.«

»Wenn sie nichts Falsches getan hätten, dann hätten sie sich auch nicht verstecken müssen«, sagt Mme Aubert und greift sich ihren Einkaufskorb. »Ich habe sie immer gesehen. Die kamen und gingen rund um die Uhr.«

»Wie verdächtig!«

»Denen konnte man nicht trauen.« Mme Aubert bleibt auf dem Weg zur Tür noch einmal stehen und fügt hinzu: »Seltsam, dass wir über Engländer sprechen. Einer aus der Familie, für die meine Tochter gearbeitet hat, hat auch in der Nummer zwanzig gewohnt, im vierten Stock. Er hatte so feine Manieren. Man hat ihm seine gute Herkunft richtig angemerkt.«

»Tatsächlich?« Cristabel bekommt plötzlich eine ganz trockene Kehle.

»Er hat gesagt, dass ich es so schön pflegen würde und dass es ihn an zu Hause erinnere. Er hat erzählt, er komme aus einem der ältesten Häuser in England.«

Cristabel muss trotz allem grinsen. Digby hatte diese Frau genauso angelogen wie sie. Er machte sich überhaupt nichts aus seinem Zuhause oder seiner Geschichte. Lustig, dass ihr das jetzt erst auffällt.

»Ist die Wohnung immer noch zu haben?«, fragt sie.

»Ich fürchte nein«, sagt Mme Aubert, als sie auf die Straße zugeht.

»Was hat ein Engländer denn in dieser Zeit in Paris zu tun?«, fragt Cristabel so beiläufig wie möglich.

Mme Aubert schaut sie an. »Keine Ahnung.«

Cristabel beugt sich vor und schlägt einen verschwörerischen Ton an: »Wissen Sie, ich habe gehört, dass viele Engländer Churchill nicht leiden können. Es würde mich nicht überraschen, wenn manche zu dem Schluss gekommen wären, dass sie diesseits des Kanals besser dran sind.«

Mme Aubert lächelt. Sie begleitet Cristabel noch die Straße hinunter zur Nummer 20, dann geht sie alleine weiter.

Cristabel geht ins Haus, es ist ein typischer Pariser Mietwohnungsblock mit einer dunklen Holztreppe, die sich von einem Absatz zum nächsten zieht. Sie steigt die Treppe mit dem Schlüssel für die Wohnung im dritten Stock hoch, bleibt aber nicht dort stehen. Stattdessen schleicht sie sich auf Zehenspitzen in den vierten und hält ein paar Augenblicke vor der Wohnungstür inne, aus irgendwelchen Gründen, die sie sich selbst nicht erklären kann. Sie berührt mit ihren Fingerspitzen ganz leicht die Tür und ist fast versucht, den Schlüssel ins Schloss zu schieben, doch sie schüttelt den Kopf und geht wieder zurück in den dritten Stock. Dort begegnet ihr ein uniformierter SS -Offizier, der gerade die Treppe hochkommt. »Claudine Beauchamp?«, fragt er.

Sie hält inne, nur eine Sekunde lang, dann sagt sie: »Stimmt.«

Der Offizier ist außer Atem, aber er lächelt und sagt auf Französisch: »Gut. Madame Aubert hat mir erzählt, dass Sie mit den Schlüsseln hier sind. Ich bin auch gekommen, um mir die Wohnung anzuschauen.«

Sie hält ihm den Schlüssel hin, aber er schüttelt den Kopf und sagt: »Nein, bitte. Sie zuerst. Sie sind eine eventuelle Mieterin. Ich bin nur hier, um mir einige der Objekte da drinnen anzuschauen.« Er deutet auf die Tür, die sie aufschließt, und er geht mit ihr hinein.

Die Wohnung ist lichtdurchflutet. Durch die bodentiefen Fenster kann man die Straße überblicken. Das Sonnenlicht fällt aufs polierte Fischgrätparkett. Die Möbel haben blassgelbe Polster, und die hohen Decken sind weiß, mit dekorativ vergoldeten Ecken. An den Wänden hängen moderne Gemälde und Spiegel, die das Sonnenlicht durchs Zimmer tanzen lassen.

»Ah, Madame Aubert hat hier schon gut aufgeräumt«, sagt der Offizier. Er hat seinen Hut abgenommen und fächelt sich damit kühle Luft zu. Es ist ein untersetzter Mann Mitte vierzig mit rotem Gesicht und einem breiten Ledergürtel um die graue Uniformjacke. »Wenn Sie hier einziehen können, haben Sie Glück.«

»Ich schaue sie mir nur an«, wehrt Cristabel ab und geht von ihm weg, als wollte sie den Blick aus den Fenstern beurteilen.

»Ich habe immer davon geträumt, eine Wohnung in Paris zu haben«, sagt er und legt seine Mütze auf einen Stuhl, dann durchquert er das Zimmer, um ein Gemälde an der Wand genauer zu betrachten. »Vielleicht ein alberner Traum.« Er geht weiter zu einem anderen Gemälde, mustert es ebenfalls genau, dann nimmt er es ab und stellt es auf ein Beistelltischchen.

»Ja«, sagt Cristabel, die schnell ins angrenzende Esszimmer geht. Sie spürt, wie ihre Schritte in den holzbesohlten Schuhen kleine Erschütterungen an ihren Beinen hochschicken.

»Ich hatte sogar angefangen, mich umzuschauen. Um zu sehen, ob ich irgendetwas kaufen könnte.« Sie hört ihn lachen.

Cristabel umkreist den Esstisch, dann kehrt sie zurück ins große Wohnzimmer, wo der SS -Offizier einen Briefbeschwerer aus Marmor untersucht. Er hat eine Auswahl von Gegenständen auf dem Beistelltischchen gesammelt: ein paar Gemälde, einige Porzellanfiguren. Als sie das Zimmer betritt, blickt er auf. »Ich beneide Sie. So, wie die Dinge stehen, werden Sie länger in Paris sein als ich.«

Sie nickt und geht zum anderen Ende der Wohnung, wo sie sich das Bad und das Schlafzimmer ansieht, dann geht sie weiter in ein kleineres Schlafzimmer, in dem zwei einzelne Betten stehen. Das muss das Kinderzimmer gewesen sein, denkt sie, denn am Türrahmen sind noch die Bleistiftstriche zu sehen, an denen man das Wachstum der Kinder ablesen konnte.

Sie geht wieder an dem Offizier vorbei, der gerade ein weiteres Gemälde betrachtet, und betritt die Küche, die auf der Rückseite des Hauses liegt. Sie macht mechanisch die Schränke auf, als ihr plötzlich etwas ins Auge fällt: ein Stapel von Tellern mit demselben Rosenmuster, mit dem die Kaffeetassen von Mme Aubert verziert waren.

Sie kehrt ins Wohnzimmer zurück und sagt: »Ich muss gehen. Ist nicht mehr lang bis zur Sperrstunde.«

Er schaut von dem Gemälde auf. »Hier hatte jemand einen sehr guten Geschmack.«

Das Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinscheint, fällt auf etwas Glänzendes, das auf dem Boden unter dem Beistelltischchen liegt. Cristabel greift nach unten, um es aufzuheben. Sie stellt fest, dass es eine Kinderbrille ist, eines der Gläser ist zerbrochen. Der Offizier schaut zu, wie sie die Brille auf das Beistelltischchen legt, zu den Gemälden, den Figuren, dem Briefbeschwerer.

»Was halten Sie von der Wohnung?«, will er wissen und legt das Gemälde zu den anderen. Er hat eine Pistole in einem Halfter an der Hüfte, bemerkt sie.

»Nicht ganz das, was ich suche«, sagt sie.

»Wo wohnen Sie denn jetzt?«

»Am linken Seine-Ufer.«

»Mit Ihrer Familie?«

»Allein.«

»Was machen Sie eigentlich?«

»Ich bin Studentin.«

»Eine gut gekleidete Studentin, die sich eine Wohnung wie diese leisten kann«, sagt er, und ihr wird klar, dass sie etwas Falsches gesagt hat.

»Meine Familie ist durch eine Erbschaft ein bisschen zu Geld gekommen«, sagt sie und geht auf die Wohnungstür zu.

Er hebt eine Hand. »Als ich ankam, sind Sie gerade aus dem vierten Stock heruntergekommen. Warum?«

»Ich bin in die falsche Etage gegangen.«

»Aber der Schlüssel zu dieser Wohnung ist doch deutlich markiert.«

»Ich war durcheinander. Ich habe letzte Nacht nicht so gut geschlafen.«

»Dürfte ich bitte mal Ihre Papiere sehen?«, fragt er.

Sie zieht sie aus ihrer Umhängetasche und gibt sie ihm. Er untersucht sie sorgfältig.

»Darf ich mal sehen, was Sie sonst noch in Ihrer Tasche haben?«, fragt er. Sie hat das Gefühl, in eine Sackgasse gelaufen zu sein.

»Nur ein Buch und ein bisschen Kleinkram«, sagt sie, obwohl sie genau weiß, dass in dieser Tasche auch das Notizbuch steckt, in dem sie die Einzelheiten zu den Fahrzeugen bei den Clignancourt-Baracken notiert hat. Außerdem enthält es die Adresse des Restaurants, in dem sie Nachrichten für Lieselotte hinterlassen kann.

»Könnten Sie alle Sachen auf diesen Tisch hier legen, damit ich sie mir ansehen kann?« Seine Stimme klingt gedämpft und beinahe müde, als hätte er das schon oft gesagt.

Cristabels Gehirn schwirrt wie eine Codiermaschine und geht panisch alle Möglichkeiten durch: Er könnte sich das Notizbuch anschauen, merken, was ihre Notizen bedeuten, und sie festnehmen; er könnte das Notizbuch anschauen, nicht merken, was die Notizen bedeuten, und sie freilassen – aber welcher SS -Offizier würde Notizen anschauen, die er nicht versteht, und daraufhin annehmen, dass sie unschuldiger Natur sind? Außerdem könnte ihn die Restaurantadresse zu Lieselotte führen. Und er kennt ihren Decknamen. Egal, wie sie es dreht und wendet, es führt kein Weg an diesem Moment vorbei. Sogar ihr Zaudern, mit dem sie das Befolgen seiner Order hinauszögert, lässt ihre Chance, diese Wohnung sicher zu verlassen, immer kleiner werden. Jede Sekunde, die sie jetzt nichts tut, belastet sie noch mehr.

»Leeren Sie die Tasche aus«, befiehlt er.

»Selbstverständlich«, sagt sie. Die Codiermaschine greift wieder. Es führt kein Weg dran vorbei. Selbst wenn sie ihn bewusstlos schlagen würde, würde er trotzdem danach aufwachen und sich an ihr Gesicht erinnern.

Sie versucht, sich geistig nach Schottland zurückzuversetzen, ins Schulungszimmer mit der Übungspuppe aus Stroh und den Lektionen über den Körper einer Zielperson. Sie kann sich an jeden Schritt der Übung erinnern, wie man eine Wache von hinten überrascht und ihr die Kehle durchschneidet, aber er ist weder eine Wache noch steht er mit dem Rücken zu ihr, und das Messer steckt in ihrem Rockbund, nicht in ihrer Hand. Es ist obszön, in diesem sonnendurchfluteten Zimmer an einen Kampf zu denken, in Erwägung zu ziehen, jemand anzugreifen, der so nah vor ihr steht, dass sie das leise Ticken seiner Armbanduhr hören kann. Doch sie denkt zu viel, und eine kleine Stimme in ihrem Kopf sagt: Das ist deine Aufgabe .

Sie fummelt mit ihrer Tasche herum, lässt sie auf den Boden fallen und bückt sich, um sie wieder aufzuheben. Er tut dasselbe, aber sie ist unter ihm, drischt ihm mit der Handfläche erst mal auf den Kiefer und bringt ihn etwas aus dem Gleichgewicht. Sie greift sich den Briefbeschwerer vom Beistelltisch, und obwohl sie das Gesicht schon während des Zuschlagens beim Gedanken an die verheerende Wirkung verzieht, lässt sie ihn krachend auf seine Nase und seinen Mund heruntersausen. Er dreht sich um und spuckt Blut, aber er brüllt, schlägt nach ihr und erwischt sie mit einem betäubenden Schlag an den Kopf.

Sie taumelt rückwärts und sieht, wie er sie mit seinem blutgefüllten Mund verflucht. Sie kann nicht zulassen, dass er sie anschaut. Sie stößt den Beistelltisch in seine Richtung um, und er fällt auf den Rücken, zieht dabei aber trotzdem noch seine Waffe aus dem Halfter. Hastig krabbelt sie über den Tisch auf ihn zu und tritt ihm mit ihrem Holzabsatz kräftig auf die Hand, sodass seine Waffe über den polierten Holzboden davonkreiselt, bis sie unter einem Sessel liegen bleibt.

Er kriecht auf allen vieren hinter der Waffe her, und sie setzt ihm nach. Wütend schlägt er mit der Faust nach ihr, trifft sie hart auf den Brustkorb und schleudert sie seitlich gegen ein Bücherregal, woraufhin ein ganzer Erdrutsch von Büchern auf den Boden fällt. Er erreicht den Sessel vor ihr und greift darunter, aber sie hat ihr Messer inzwischen aus dem Rockbund gezogen und klettert auf seinen Rücken. Ihre Hände schwitzen, und sie verpfuscht ihren ersten Versuch, weil sich die Klinge im dicken Stoff seiner Uniform verfängt und keinen Schaden anrichten kann.

Er brüllt auf und versucht, sie abzuschütteln, wobei er einen Strom von groben Schimpfwörtern über sie ausgießt. Doch das befeuert nur ihre Wut, und sie stößt das lange Messer so fest, wie sie nur kann, zwischen seine oberen Rippen, wobei sie ihm ihren linken Unterarm über die Kehle legt, um ihn nach hinten zu ziehen, damit die Klinge noch tiefer eindringt, wie sie es gelernt hat. Er stößt einen hohen, grässlichen Laut aus, wie ein Tier, dann sackt er auf den Bauch zusammen und windet sich unter ihr. Seine Fingernägel kratzen über den Boden. Sie hat sich um ihn gewickelt, das Messer steckt zwischen ihren Körpern.

Sie hört ein Gurgeln in ersticktem Deutsch: Bitte . Sie hört ihr eigenes gedämpftes englisches: Nein . Sie zieht ihren Arm mit einem Ruck noch fester um seinen Hals, treibt das Messer noch tiefer hinein. Er buckelt und rollt sich hin und her, bis sie beide umfallen, zusammengeschweißt wie die Hunde, und sie liegt unter ihm, drückt ihn fest an sich, wobei sie die Augen auf die vergoldete Decke richtet und den Atem in seiner Kehle rasseln hört, die wortlosen, zungenlosen Geräusche, die er ausstößt und die sich anhören wie mummmumumumu , sie bemerkt den warmen Urin, der durch seine Uniformhose sickert, den scharfen Geruch ihres eigenen Schweißes, in den ganzen ewig langen Minuten, die es dauert, bis sein Mund endlich aufhört, sich zu bewegen, sein Körper aufhört, sich zusammenzukrampfen, bis sein Gewicht tot und schwer wird und sein Kopf gegen ihren rollt, als wäre er ein Baby.

Jetzt hört man nur noch ihre eigenen abgehackten Atemzüge in der stillen Wohnung, und das Geräusch ist ihr unerträglich. Verzweifelt schiebt sie ihn von sich herunter. Rutscht auf die Seite. Rappelt sich schnell auf und geht zitternd und mit weichen Knien in die Küche. Der bittere Geschmack von Galle steigt ihr in die Kehle, und sie schluckt sie wieder hinunter, spuckt ins Spülbecken. Sie ist völlig erschöpft. Die gewaltsame Wut, die in sie gefahren war, ist verflogen und hat nichts als schaudernden Ekel hinterlassen.

Mehr als alles andere will sie jetzt raus aus dieser Wohnung, aber sie muss ja erst noch die Leiche beseitigen. Die Maschine in ihrem Gehirn arbeitet noch immer, aber jetzt nur noch langsam. Sie schaut aus dem Küchenfenster hinunter in den Hof: ein steilwandiges Karree, das von den Rückwänden verschiedener Mietshäuser gebildet wird, ein schmuckloser Raum, an dessen Boden sich eine Sammlung von Mülltonnen und Abfallhaufen befindet.

Sie wendet sich wieder dem Offizier zu. Der Messinggriff des Messers ragt immer noch aus seinem Hals, als wäre der Mann ein Spielzeug zum Aufziehen. Sie erschaudert vor Grauen. Sie denkt an den ehemaligen Polizisten in Schottland, der von der Benutzung seines Messers in so einer praktisch orientierten Art und Weise sprach, als wäre es wie bei der Jagd: etwas Notwendiges, was ein Mann eben machte, um es dann auch gleich wieder hinter sich zu lassen. Wie kann sie das hier hinter sich lassen? Es liegt vor ihr: sabbernd und leblos. Ein Beweis ihrer Fähigkeit, zu töten.

Doch Mme Aubert wird bald zurückkommen. Cristabel muss jetzt so methodisch handeln wie ein Jäger. Sie geht ins Badezimmer, holt sich ein Handtuch, das sie zu dem Deutschen mitnimmt, und legt es unter ihn. Als sie seinen Körper bewegt und sein weiches Gewicht spürt, muss sie würgen. Sie hustet und schüttelt den Kopf.

Sobald das Handtuch richtig liegt, zieht sie ihr Messer heraus, das sich mit einem leisen Schmatzgeräusch aus dem Körper löst, gefolgt von einer schmalen Blutspur. Die Wunde leckt noch ein bisschen und hinterlässt Flecken auf der Gabardine-Jacke des Mannes, aber es blutet nicht so stark, wie sie befürchtet hat. Sie holt tief Luft, dann zieht sie ihm schwungvoll die Stiefel von den Füßen, einen nach dem anderen. Sie knöpft seine durchnässte Hose auf und zieht sie ihm aus. Sein blasses Fleisch ist immer noch warm. Er hat haarige Unterschenkel, eine Narbe auf dem Knie und ein Loch im Strumpf.

Sie arbeitet jetzt schnell: schnallt ihm den Ledergürtel ab, zieht ihm die Jacke aus, das Hemd, die Socken. Die Armbanduhr. Den Ehering. Sie manövriert ihn herum wie eine schlaffe, klebrige Schneiderpuppe, bis er nur noch seine Unterwäsche anhat. Sie hält kurz inne, dann zieht sie sie ihm ebenfalls aus, so schroff, wie ein Kindermädchen einem nassen Kind an einem kalten Strand die Badehose auszieht. Den Blick hält sie dabei auf die Fenster gerichtet.

Dann schleift sie ihn in die Küche, mit den Händen unter seinen Achseln, wobei seine nackten Fersen quietschende Geräusche auf dem Boden machen. Es ist eine Herkulesarbeit, er ist fast zu schwer für sie, und sie tritt vor lauter Frust gegen die Möbel und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Als sie ihn endlich in der Küche hat, macht sie das Fenster auf, so weit es geht, und hievt ihn davor. Die einzige Art, die ihr einfällt, wie sie ihn aufs Fensterbrett befördern kann, besteht darin, dass sie sich unter ihn stellt und ihn nach vorn kippt, dann lehnt sie ihn gegen die Wand, kriecht unter seinen Körper und hebt ihn in einem mühsamen Feuerwehrgriff auf die Schultern. Sie stöhnt vor Anstrengung, während ihre Hände sich tief in seinen weichen Bauch graben und seinen Körper durch die Lücke zwängen. Sein lose wackelnder Kopf schlägt gegen den Fensterrahmen, bis der ganze Mann endlich kippt und fällt, um schließlich mit einem Riesenknall auf dem Abfallhaufen zu landen. Sie schaut ihm nach, wie er fällt. Eine nackte Leiche, die bei ein paar Mülltonnen aufgefunden wird, könnte ihr ein bisschen mehr Zeit kaufen als ein SS -Offizier, den man erstochen in einer Luxuswohnung findet.

Im gleichen Moment bemerkt sie ein junges Mädchen am Fenster des Hauses gegenüber, das seine Hände an die Scheibe drückt und herüberstarrt. Sie schauen sich an. Cristabel legt sich einen zitternden Finger auf den Mund.

Dann treibt sie sich weiter an. Zwingt sich, ins Wohnzimmer zurückzugehen, wo sie die Möbel wieder an ihre ursprüngliche Position rückt und die Gemälde wieder an die Wand hängt. Die nasse Uniform des Deutschen liegt immer noch auf dem Boden. Nach kurzer Suche findet sie einen säuberlich gepackten Koffer unter dem Bett im größeren Schlafzimmer. Sie leert seinen Inhalt in die Schublade eines Nachttischs und tut stattdessen die Kleidung des Offiziers und seine Stiefel hinein. Seine Waffe und den blutigen Briefbeschwerer legt sie auch dazu. Dann geht sie wieder ins Wohnzimmer und wischt mit dem Handtuch den Boden auf, bevor sie es ebenfalls in den Koffer zwängt. Ehe sie hinausgeht, kehrt sie noch einmal in die Küche zurück und schaut zum Fenster gegenüber, doch das Mädchen ist verschwunden.

Auf der Straße draußen strahlt das Abendlicht, und schreiende Mauersegler schießen zwischen den Häusern hin und her. Sie geht mit dem schweren Koffer zurück zu Mme Aubert und wirft ihr den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten. Sie holt sich ihr Fahrrad und fährt davon. Dabei wackelt sie ganz leicht, denn sie muss den schweren Koffer auf dem Lenker balancieren. Sie trägt eine Jacke, die sie in einem Kleiderschrank gefunden und fest zugeknöpft hat über ihrem blutbefleckten Kleid.