September 1944
Als Flossie den Telegrammboten mit seinem schicken kleinen Hut auf dem Fahrrad langsam die Auffahrt heraufkommen sieht, weiß sie sofort, was passiert ist. Sie muss nur noch erfahren, welchen von beiden es getroffen hat. Der Junge tut ihr leid, denn die Dorfbewohner nennen ihn nur noch den »Todesengel«, deswegen bedankt sie sich besonders höflich bei ihm, als er ihr das Telegramm übergibt.
Sie nimmt das Blatt mit hinunter in die Küche, ohne es anzuschauen, und legt es dann kopfüber auf den Tisch. Sie sitzt immer noch damit da, als eine Stunde später Mr Brewer kommt. Sie hat das Gefühl, als hätte sie eine Bombe im Haus. Eine sehr flache Bombe. Mr Brewer sieht das Telegramm und weiß auch sofort, was es ist.
»Soll ich Betty holen?«, schlägt er vor.
»Nein«, sagt Flossie. »Ich schau es mir gleich an.«
Er nickt. »Soll ich Sie allein lassen?«
»Nein, bleiben Sie. Bitte.« Sie befürchtet, dass sie beim Lesen unwiderruflich zerbrechen könnte. Sie klopft mit den Fingern auf die Tischplatte. Sie wünschte, sie wären jetzt bei ihr, um sie bei diesem Schritt zu unterstützen. Einer von ihnen oder am besten beide. »Ich muss tapfer sein«, sagt sie und zieht das Telegramm zu sich. Es ist so zerbrechlich. Dann dreht sie es um, und die Worte springen ihr in einem einzigen Kuddelmuddel entgegen, sodass sie blinzeln und sie noch einmal lesen muss.
Tiefes Bedauern.
Im Einsatz gefallen.
Digby .
Als Mr Brewer fragt, was drinsteht, antwortet jemand, aber es ist nicht Flossie, denn die ist gar nicht mehr da.
Die Trauer reißt Flossie immer mit sich fort. Tagelang. Sie packt sie und wickelt sie so gründlich ein, dass sie nicht sicher ist, ob irgendetwas anderes überhaupt noch existiert, außerhalb ihrer Arme, die sie um sich geschlungen hat, außerhalb der Kugel, zu der sie sich zusammengerollt hat. Manchmal wird sie von Schluchzern geschüttelt, aber es kommen keine Tränen. Sie ist klein und hart wie eine Strandschnecke. Nur eine leere Hülle, die ihren Schmerz von einem Ort zum anderen trägt und sich darüberkauert wie ein Geizhals, der nichts davon hergeben will.
So bewegt sie sich durch ihre Tage, oder vielmehr bewegen sich ihre Tage an ihr vorbei. Sie bewegt sich nicht so oft. Sie beobachtet das Unkraut, das sich in ihrem Garten vermehrt, aber ist unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Sie sitzt am Strand und schaut zu, wie die Wellen ans Ufer klatschen, sich dann zurückziehen und Meerschaum hinterlassen, dessen Bläschen auf den Steinen platzen und durch die Lücken versickern, wie winzige, ausgehende Lichter.
Sie bleibt zwei Wochen in diesem Zustand der Leere, immer gefolgt von Toto, ihrem Kater, der sich neben sie legt, wenn sie sich auf dem Bett einrollt. Betty stellt ihr Corned-Beef-Sandwiches auf den Nachttisch. Mr Brewer kommt mit einem Blatt Papier und bittet sie, die Formulierung der Todesanzeige für die Zeitung abzusegnen, und sie macht die Augen zu und nickt einfach nur.
Eines Tages schlägt Flossie die Augen auf und sieht Maudie auf ihrem Bett sitzen, mit einem Stapel Briefe in der Hand. »Die sind alle gekommen«, sagt Maudie. »Du solltest sie lesen.« Maudie trägt ihre Brandwachen-Uniform: einen dunklen Overall und feste Gummistiefel.
Flossie schüttelt den Kopf. »Nein danke, Maudie.«
Maudie macht den ersten auf und beginnt, ihn laut vorzulesen. Es ist ein Brief von Digbys altem Englischlehrer, der von seiner Begeisterung und seiner Fantasie schwärmt. Der nächste stammt von einem Klassenkameraden in Sherborne, der sich an seine Freundlichkeit, aber auch an seine Albernheiten erinnert, wie er sie beispielsweise einmal mitten in der Nacht alle überredet hat, sich mit ihren Kissenbezügen zu verkleiden.
»Mit Kissenbezügen?«, fragt Flossie.
»So steht es hier«, bestätigt Maudie und macht den nächsten Brief auf.
Einer ist von einem Soldaten, der mit ihm in Frankreich gekämpft hat und noch genau weiß, wie er sie immer mit seinen Shakespeare-Monologen unterhalten hat. Einer stammt von einem Panzerführer, der mit ihm in Nordafrika gewesen ist und der seinen Mut lobt. Jeder Brief zeigt ihnen einen anderen Teil von Digby.
»Dieser hier ist von Miss Myrtle«, sagt Maudie.
»Oh, lass mal sehen«, sagt Flossie und setzt sich auf, um ihn ihr aus der Hand zu nehmen.
Maudie legt die restlichen Briefe aufs Bett und steht auf.
Flossie schaut sie an. »Was machst du eigentlich hier, Maudie? Wirst du nicht in Weymouth gebraucht?«
»Betty hat mich angerufen. Hat gesagt, du brauchst jemand, der dich aus dem Bett rauskriegt.«
»Ich war noch nie so gut im Aufstehen.«
»Wie dein Vater«, sagt Maudie. »Ich geb dir noch den Rest des Tages. Aber morgen sorgen wir dafür, dass du aufstehst und rausgehst. Ist doch sinnlos, hier rumzusitzen und Schimmel anzusetzen. Zum Beispiel müssen diese ganzen Briefe beantwortet werden.«
Die Briefe zu beantworten, ist gar keine so mühsame Aufgabe, wie Flossie im ersten Moment befürchtet hat – es ist vielmehr so, als könnte sie sich über ihren Bruder unterhalten und wunderbare Geschichten von ihm erzählen, und das hat sie ja schon immer gerne gemacht. Sie nimmt ihre Antwortbriefe mit ins Dorf, um sie auf der Post aufzugeben, und dafür muss sie sich ordentlich anziehen. Die Leute kommen auf sie zu und reden mit ihr, sagen, wie leid es ihnen tut, und das ist auch in Ordnung: das Tätscheln ihres Arms, die mitleidigen Mienen. Sie kann davon ausgehen, dass viele von ihnen auch jemanden verloren haben und deswegen wissen, wie es sich anfühlt, so gänzlich ausgehöhlt zu sein von seiner Traurigkeit, dass man kaum noch existiert und sogar daran erinnert werden muss, sich die Haare zu kämmen, weil man schon vergessen hat, dass man welche hat.
Sie geht auch wieder zurück in ihren Garten, ihren Raum zwischen den Knochen, und stellt fest, dass es dort jede Menge zu tun gibt, sobald sie erst mal das Unkraut entfernt hat. Karotten, Stangenbohnen und Frühkartoffeln, alle bereit für die Ernte. Die letzten Himbeeren auch, und dann muss das Schilf geschnitten werden. Es ist ihr ein Trost, kleine Dinge zu haben, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richten kann.
Bei der Arbeit überlegt sie, was sie mit ihrer Ernte anfangen könnte. Betty hat ein Rezept für Himbeer-Shortbread, das sie mal ausprobieren könnte, wenn sie ihre Margarinemarken aufspart. Dieses Spintisieren gibt ihr das Gefühl, dass sie vielleicht nicht ganz zu ihrem alten Selbst zurückfindet, aber zumindest schon mal Vorkehrungen trifft, um sich ein bisschen später mit ihm zu treffen.
Eines Tages, gegen Ende September, sitzt sie auf der Treppe vorm Häuschen mit einem eselsohrigen Roman und einer Tasse Tee, als sich plötzlich Cristabel neben sie setzt und ihr den Arm um die Schultern legt. Sie lehnen die Köpfe aneinander und bleiben dort, bis es anfängt zu regnen, und dann gehen sie in das Häuschen hinein, wo Flossie den Wasserkessel aufsetzt und ein paar Becher abwäscht. Cristabel wandert durchs Häuschen, als wollte sie sich daran erinnern. Keine von beiden sagt einen Ton. Sie sind so ruhig, wie Leute es oft sind nach einem großen Umbruch, wenn sie überlegen, was ihnen geblieben ist. Ihre Handlungen sind wie die zarten Bürstchen der Archäologen, mit denen sie behutsam den Staub von ihren Fundstücken wischen.
Cristabel nimmt das Buch in die Hand, in dem Flossie gerade gelesen hat, und schaut es an. »Hast du Madame Bovary gelesen? Ich glaube, das würde dir gefallen.«
»Nein«, sagt Flossie. »Aber das da ist auch sehr gut. Ich komme immer wieder auf Jane Austen zurück, wenn ich die Welt mal wieder etwas freundlicher betrachten will. Sie räumt mir die Dinge immer so schön auf.«
Sie tragen ihre Teetassen zu einem kleinen Tisch im Häuschen und setzen sich. Nach einer Weile sagt Cristabel: »Ich war bei ihm. Als es passierte.«
»Du Arme«, sagt Flossie. »Hat er … hat er starke Schmerzen gehabt?«
Cristabel schüttelt den Kopf. »Sie haben ihm Morphium gegeben.«
Flossie holt tief Luft. »Kann sein, dass ich dich ein andermal danach frage, aber ich glaube, im Moment kann ich das nicht. Ist das für dich in Ordnung?«
Cristabel nickt, und dann sitzen sie eine Weile so da und lauschen dem Regen, der immer heftiger und ausdauernder wird. Das Geräusch, mit dem er aufs Meer prasselt, ist ein knisterndes Zischen, wie von brutzelndem Öl in einer Bratpfanne.
»Was hast du eigentlich in Frankreich gemacht?«, fragt Flossie. »Dasselbe wie Digby? Geheimagentin?«
»Erzähl es niemandem, aber ja. Dasselbe wie Digby.«
Flossie nickt, dann sagt sie: »Es ist im Grunde furchtbar albern, aber ich muss die ganze Zeit dran denken, dass er um ein Haar seinen Geburtstag verpasst hat. Der war nur ein paar Tage später. Dann wäre er dreiundzwanzig geworden.«
»Ein Geburtstag in Paris hätte ihm gefallen«, meint Cristabel.
»Oh, das hätte er toll gefunden«, ruft Flossie und seufzt. Nach einer Weile sagt sie: »Was hast du gemacht, Crista? Danach?«
»Ich habe mir eine Waffe genommen«, sagt Cristabel, und ihr Blick ist schwer und starr.
Cristabel erzählt Flossie, wie sie mit der Résistance gekämpft hatte, bis die Alliierten kamen. Sie hatte sich hinter eine Reihe von Sandsäcken gekauert, mit dem Gewehr einen langen Boulevard entlanggezielt und nirgendwo anders existiert als im Mittelpunkt ihrer Zielscheibe. Wie rein und rechtschaffen es in dem Moment war, Schüsse abzufeuern, jeder Rückstoß gegen ihre Schulter war ein Aufprall, den sie brauchte. Sie erzählt, wie Jean-Marc und sie sich in den Menschenmassen drängten, die die Gehwege bevölkerten, als de Gaulle in Paris einmarschierte, der große General, der mit weit ausgebreiteten Armen durch die Straßen ging wie ein mächtiger Albatros. Wie die Leute von den Balkonen hingen und auf Statuen hinaufkletterten, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Wie sie sich wie eine schweigende Säule gefühlt hatte, wie eine Salzsäule in einer ekstatisch lärmenden Stadt.
Und wie sie Jean-Marc nicht allein lassen wollte, der so zerstört war von seinem Schmerz, dass sie nicht wusste, ob er die Waffe nicht gegen sich selbst richten würde. Wie sie mit ihm aufblieb in seinen schlaflos zerquälten Nächten. Wie sie eine seltsame Kameradschaft entwickelt hatten durch heftiges, schweigendes Trinken, während auf den Straßen draußen gefeiert und gejubelt wurde. Wie eines Abends auf einen Schlag ganz Paris wieder Strom hatte, alle Lichter auf einmal angingen, Radios plötzlich überall in der Stadt losplärrten, und was für ein schreckliches Gleißen das gewesen war, ein Scheinwerfer, der sie anstrahlte und auf ihren Stühlen zusammenzucken ließ, wie Flüchtende, die plötzlich entdeckt werden.
Wie sie eines Morgens aufwachte, mit einem Mordskater und in übelster Laune, und eine Runde in der Seine schwamm, sich hinabsinken ließ, bis ihre Lungen förmlich explodierten, und als sie wieder auftauchte, wusste sie, dass es Zeit für ihre Heimkehr war.
Sie nahm Kontakt zur amerikanischen Armee auf und wurde zu einem funktionierenden Telefon gebracht, mit dem sie in London anrief, wo ihr eine nette WAAF -Mitarbeiterin mit weichem Devon-Akzent versprach, ihr einen Platz im nächsten Flugzeug nach England und ein paar Hotelübernachtungen zu besorgen, als würde sie einen Urlaub buchen, nicht aus der Schlacht heimkehren. Sie flog in einer Lysander mit zwei britischen Kommandosoldaten nach Hause, von denen einer eine riesige Flasche Chanel-Parfüm dabeihatte. Debriefing in einem Hotel in Bayswater. Und dann schlief sie erst mal vierundzwanzig Stunden durch.
In dieser Zeit hatte sie sich mit Leon getroffen und seinen Körper wie etwas benutzt, in das man sich immer wieder hineinfallen lassen konnte, bis nichts mehr von ihr übrig war als die Spuren, die sie an ihm und er an ihr hinterlassen hatte. Aber davon erzählt sie Flossie nichts. In jenen Nächten war sie von einer dunklen Besinnungslosigkeit regiert worden, die Leon aushalten konnte, aber Cristabel hat nicht die Absicht, sie mit zu Flossie zu nehmen.
Stattdessen erzählt sie ihr, wie sie ihre alten Zivilklamotten wiederbekommen hatte – säuberlich gefaltet und verwahrt von einer Sekretärin der Org, die ihre ständig herunterrutschenden Strümpfe so ehrfürchtig behandelt hatte wie Reliquien – und dann einen Zug heim nach Dorset bestiegen hatte. Die ganze Zeit hatte sie im Hinterkopf, dass irgendwo, in einem Büro in der Baker Street, Digbys alte Sachen liegen mussten, die immer noch sauber zusammengelegt auf ihn warteten.
»Ich bin noch nicht wieder in seinem Zimmer gewesen«, sagt Flossie.
»Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder auf den Dachboden gehen kann«, meint Cristabel. »Vielleicht sollten wir das ganze Haus abfackeln. Wäre langfristig wahrscheinlich sogar günstiger.«
»Da haben Bill und ich ein paar Ideen. Wir investieren in Grundstücke und wollen Werbung machen, damit zahlende Gäste nach Chilcombe kommen. Das hättest du sicher nie gedacht, dass ich mal eine Geschäftsfrau werden würde.«
»Ich bin mal einem Mann begegnet, der mir gesagt hat, dass der Krieg uns ermöglicht, so aufzusteigen, wie es sonst nicht möglich gewesen wäre. Obwohl ich glaube, du wärst auf jeden Fall aufgestiegen, Floss.«
»Wie Hefeteig«, sagt Flossie strahlend.
Sie müssen beide lachen, und Cristabel spürt, wie das Gewicht in ihr sich ein bisschen lockert.
»Ich habe mir gedacht, ich gehe vielleicht wieder zurück zu den Landarbeiterinnen«, sagt Flossie. »Dann habe ich was zu tun.«
»Gute Idee. Vielleicht gehe ich nach London. Und wohne bei Myrtle. Oder bei Leon, wenn er grade dort ist.«
»Du würdest bei Leon einziehen? Seid ihr zwei …?«
»Nein. Nein, nein.«
Flossie zieht die Augenbrauen hoch. »Das klingt wie eins von diesen ganz speziellen Neins.«
»Was für ganz spezielle Neins?«
»Die Art, die sich alleine nicht raustraut und deswegen immer ein paar Freunde braucht.«
»Nein.«
»Noch ein kleiner Freund.«
»Hör auf.«
Flossie lächelt und meint: »Es geht mich nichts an, was du treibst, Crista. Ich weiß, dass solche Sachen nicht immer ganz unkompliziert sind.«
Sie schauen sich einen Augenblick an, voller Zuneigung und Interesse, dann sagt Flossie: »Wenn wir weggehen, könnten Betty und Bill doch mal eine Weile freikriegen. Ihr Sohn liegt in Plymouth im Krankenhaus. Ich weiß, dass sie ihn gerne besuchen würden.«
»In Ordnung«, sagt Cristabel. »Dann machen wir den Laden hier eine Weile dicht.«
Cristabel fährt zurück nach London. Sie nimmt ihr Buch mit, denn sie will es genießen, eine Zugfahrt ganz ohne Angst. Aber dann liest sie doch kein Wort, sie sitzt einfach nur auf ihrem Platz und schaut durchs Fenster zu, wie England vorbeizieht: schlammige Äcker und Steinhäuschen, Wälder, deren Laub gerade anfängt, die Farbe zu wechseln.
In Winchester steigen zwei Frauen mittleren Alters in teuren Mänteln und Hüten zu. Sie nehmen sie gar nicht zur Kenntnis, als sie das Abteil betreten. Stattdessen setzen sie sich auf ihre Plätze und führen ihre Unterhaltung fort, die Cristabels Meinung nach schon eine Weile vorher im Gange gewesen sein muss.
»Ich hab auch schon zu Hugh gesagt, die können doch nicht von uns erwarten, dass wir noch mal einen Winter ohne anständige heiße Bäder durchstehen«, sagt die Erste und lässt das Schloss ihrer Handtasche energisch zuschnappen.
»Wir haben alle Opfer gebracht, und zwar gerne«, erwidert die andere. »Aber irgendwann muss das Leben doch mal wieder normal werden.«
»Du sagst es«, pflichtet ihr die Erste bei. »Sollen wir warten, bis jedes Fischerdorf in Europa befreit ist, bevor wir unsere Autos wieder volltanken?«
Sie lachen, dann wendet sich eine von ihnen an Cristabel und sagt: »Ich bin mir sicher, Sie empfinden das ebenso. Muss doch schrecklich sein, wenn man in so langweiligen, knausrigen Zeiten jung ist.«
Cristabel merkt an der Art, wie sie sie mustern, dass sie sie nicht so recht einordnen können. Abgetretene Wanderschuhe, ja, aber von guter Qualität. Rock und Jacke unauffällig, aber die Bluse sieht irgendwie ausländisch aus. Ein markantes Profil, aber braun gebrannt wie ein Arbeiter, und dann diese Art, wie sie ihren langen Körper über den Sitz arrangiert hat. Und keine Spur von einer Handtasche.
Während sie sie mustern, ordnen sie ihre eigenen Sachen – einen Kaschmirschal, eine Pelzstola –, als würden sie ihr Abendkleid zurechtzupfen. Mit ihrer kerzengeraden Haltung und dem straff zurückgekämmten und hochgesteckten silbernen Haar haben sie eine beinahe richterliche Ausstrahlung. Sie sind überzeugt, dass sie das Recht haben, sie zu inspizieren, und sie weiß, was sie sehen. Immerhin ist sie eine von ihnen. Beziehungsweise war es.
Seit Paris hat sie das Gefühl, dass alles, was Cristabel einmal ausgemacht hat, verschwunden ist. Sie ist zerfallen wie eine Kalkklippe, die ins Meer kippt. Sie ist nicht mehr, was sie war. Sie ist eine Leerstelle, an der früher einmal etwas war, ein Haufen Steine und Staub, der darauf wartet, dass man ihn wieder aufbaut.
Cristabel sagt: »Ich empfinde das nicht so.«
»Und warum nicht?«, fragt die erste Frau.
Cristabel hört das wütende, erstickte Rufen ihres früheren Ichs, das darauf brennt, diesen Frauen klarzumachen, dass sie nichts von Opfern wissen. Aber dieses alte Ich ist jetzt verschüttet, und sie ist so müde. Sie kann auch nur eine begrenzte Anzahl von Schlachten schlagen.
Diese Frauen gehören zu ihrem alten Leben, sie sind für sie wie Geister. Sie wird sie durch sich hindurchgleiten lassen, wie dieser Zug durch England gleitet, und sie nur kurz am Rande ihres Blickfelds aufblitzen sehen: kleine Häuser, kleine Felder, kleine Häuser, kleine Felder. Sie starrt die Frauen an, bis sie den Blick abwenden, dann dreht sie sich wieder zum Fenster.
Cristabel kehrt in die Baker Street zurück. Das Gebäude ist nur spärlich beleuchtet und so zugig wie eh und je. Es ist jetzt nicht mehr so viel los, viele von den Büros sind verlassen. Nur ab und zu hört man das Rattern eines Fernschreibers aus dem Funkerraum, dann und wann sieht man einen Büroboten einen quietschenden Wagen über den Flur schieben. Irgendwann findet sie Joan, ihre ehemalige vorgesetzte Offizierin, die gerade Dinge in einen Karton packt.
Joan schließt sie fest in die Arme. »Ich freue mich, dich zu sehen. Wie war’s?«
Cristabel schweigt einen Augenblick. »Ich weiß nicht, wie ich das zusammenfassen soll.«
»Na ja, ich kann mir vorstellen, dass es da wirklich viel zu bewältigen gibt.«
Cristabel deutet auf den Karton. »Wo geht’s hin?«
»Bin ins Außenministerium versetzt worden. Hier gibt’s nicht mehr viel für mich zu tun.«
»Viel Glück«, sagt Cristabel. Dann fügt sie hinzu: »Joan, ich habe mich gefragt, ob wohl irgendwas über Sophie Leray bekannt ist. Ich weiß, dass sie gefangen genommen und dann in einem Zug abtransportiert wurde.«
»Tja, wir hatten eigentlich gehofft, dass wir unsere Agenten in den Gefängnissen finden würden, als wir nach Paris kamen, aber wie es aussieht, haben sie alle mitgenommen. Wir gehen davon aus, dass die Deutschen wertvolle Gefangene als Geiseln behalten haben.«
»Gibst du mir Bescheid, wenn dir irgendwas zu Ohren kommt?«
»Mach ich«, verspricht Joan. »Dir auch viel Glück, Gilberte.«
»Cristabel«, sagt Cristabel und hält ihr die Hand hin.
Cristabel geht über den Flur zurück, auf die Treppe zu, die sie aus dem Gebäude führen wird, als sie auf einmal durch eine halb offene Bürotür eine vertraute Gestalt entdeckt: Colonel Peregrine Drake, der sich auf einem Stuhl zurückgelehnt hat und über etwas lacht, was jemand anders gesagt hat. Er spürt, dass er beobachtet wird, und wendet seinen Blick zu ihr. »Cristabel.«
»Hallo«, sagt sie. »Wie geht’s? Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Ich schau ab und zu mal rein«, sagt er, dann steht er auf, geht auf sie zu und legt ihr eine Hand auf den Arm. »Es tut mir so leid wegen Digby. Ich hatte gehofft, dass er durchkommt.«
»Ich auch«, sagt sie.
»Aber du bist zurückgekommen«, sagt er, »und ich bin sicher, dass deine Familie furchtbar dankbar ist.«
»Ich hab Onkel Willoughby schon seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagt sie. »Ich glaube, der weiß gar nicht, was hier los ist.«
Perry lässt ihr das höflich durchgehen, dann wendet er sich der Person auf der anderen Seite seines Schreibtisches zu und sagt: »Cristabel Seagrave. Eins von den Mädels von der Org. Ist in Frankreich gewesen.«
Cristabel muss gar nicht das Zimmer betreten, um zu wissen, was für eine Art von Mann dort sitzt. Ein Brigadier oder General. Steifer Schnurrbart. Vollgehängt mit Orden. Sie hat das Gefühl, dass er sich über etwas beugt, was er verteidigt, und dass er wütend über die Unterbrechung seiner Verteidigung ist. Sie tritt trotzdem ein und salutiert, eine Geste, für die sie sich in Zivil fast ein bisschen geniert. »Sir.«
Es ist ein Brigadier. »Schön, Sie wieder bei uns zu haben«, sagt er.
Perry sagt: »Aber was machst du eigentlich hier, Cristabel? Du solltest zu Hause sein. Du musst Chilcombe doch schrecklich vermisst haben.«
»Ich versuche herauszufinden, ob man hier irgendwas von einer Kollegin gehört hat, mit der ich in der Ausbildung zusammen war. Sie wurde gefangen genommen.«
Perry nickt. »Wir wollen alle gerne mehr über unsere Vermissten wissen. Leider können wir schlecht irgendwelche Details über unsere Agentinnen in Umlauf bringen, denn damit geben wir ja zu, dass es welche gab.«
»Es gab sie ja auch«, sagt sie.
»Nicht offiziell«, erwidert er.
»Wir tun alles, was wir können«, sagt der Brigadier.