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m nächsten Morgen schloss ich mich in meinem Büro ein und rief eine spezielle Suchmaschine auf, auf die ich eigentlich keinen Zugriff mehr haben sollte. Aber dank einiger extrem gefährlicher Aufträge, und weil ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war, gab es da noch ein paar Leute in meiner ehemaligen Arbeitsstelle, die mir ihr Leben verdankten. Ich hatte mir so einige Gefallen zusammengearbeitet und ich fand, dass nun der richtige Moment gekommen war, mir diese Gefallen einzuholen.
Ich benutzte die Zugangsdaten zu einer Regierungsdatenbank und suchte nach Laila. Ein besserer Mann hätte vielleicht darauf gewartet, dass sie ihm selbst alles erzählte, sobald sie dazu bereit war, aber dieser Mann war ich nicht. Ich wusste, dass jemand, der solche Symptome wie Laila aufzeigte, manchmal einen kleinen Anstupser brauchte – liebevolle Strenge. Allerdings könnte es genauso gut einen weitaus größeren Schaden anrichten, wenn man zu viel Druck ausübte. Das, was am besten funktionierte, war Zeit und sehr viel Geduld. Ich war entschlossen, dass Laila die Hilfe bekommen sollte, die sie brauchte. Und ich wollte die Person sein, die ihr half. Aber dazu musste ich wissen, was mich hier erwartete und was das Problem war. Es steckte irgendetwas
Düsteres dahinter, dass Laila so große Angst davor hatte, ihren Wolf herauszulassen – dessen war ich mir sicher. Irgendetwas Traumatisches.
Gestern Abend hatte ich sie genau beobachtet, als sie ihrer Wölfin langsam die Kontrolle überlassen hatte. Ich hatte gesehen, wie ihr weißes Fell aus ihrem Gesicht wuchs, eine langsame Verwandlung in einen schneeweißen Wolf, doch sobald Laila spürte, dass sie die Kontrolle verlor, war sie in Panik geraten. Ich wollte ihr helfen, nicht ihr wehtun, aber zuerst musste ich mehr wissen.
Das System, in das ich eingeloggt war, war speziell für Shifter, eine organisierte Art eine Gruppe von Leuten zu überwachen, von denen ein Großteil der Weltbevölkerung noch nicht wusste, dass sie existierte. Hier wurden normale Statistiken wie Geburten und Todesfälle gespeichert, aber teilweise konnte man hier auch detaillierte Daten wie Tierart oder Gesetzesverstöße und moralische Verletzungen finden, welche Vater Staat als einen Fehler der Tierseite eines Shifters ansah.
Als ich Laila Bisset recherchierte, fand ich über sie nichts, was über ihr viertes Lebensjahr hinausging. Sie war schlichtweg wie vom Erdboden verschluckt, als ob das Shifter-Überwachungssystem, das für ihre Gegend eingesetzt worden war und normalerweise mit ihr hätte mithalten sollen, einfach den Geist aufgegeben hätte. Ich klickte auf den Link zu Lailas Eltern und öffnete eine Geschichte, die von unglaublichen Schmerzen erzählte. Ihren Schmerzen. Von dem Tod ihrer Eltern zu lesen ließ alles in einem ganz neuen Licht erscheinen und verdeutlichte sehr viel über Laila und ihren Wolf. Kein Wunder, dass sie Angst hatten.
Paul und Nannette Bisset waren mit ihrem Welpen durch den Wald gerannt, als sie von einem Jäger entdeckt worden waren. Beide Eltern waren vor den Augen ihres Kindes erschossen worden. Laila war dort gewesen, als der Jäger die
beiden toten Körper ihrer Eltern wegzerrte, um was auch immer mit ihnen zu tun. Dazu gab es keine weiteren Informationen. Aber es besagte, dass Laila alles gesehen hatte.
Mein Herz sank und ich hatte einen gewaltigen Kloß im Hals. Ich versuchte ihn runterzuschlucken, als ich mich in meinem Stuhl zurücklehnte und den Browser schloss. Himmel, Laila hatte das Furchtbarste erleben müssen, was man sich nur vorstellen konnte. Es gab im System keine weiteren Informationen darüber, was danach mit ihr geschehen war. Es sagte nichts darüber aus, wohin sie hiernach gekommen war oder wer sie aufgezogen hatte. Offensichtlich hatte sie sich vom Welpen wieder in ihre menschliche Form zurückverwandelt.
An jenem Tag hatte sie eindeutig den Teil von sich verloren, der ihre Wölfin war. Wahrscheinlich war ihr Wolf so traumatisiert gewesen, dass er quasi völlig abgeschaltet und sich so weit in Laila zurückgezogen hatte, dass nicht einmal Laila selbst bemerkt hatte, dass da noch etwas ganz anderes in ihr existierte. Etwas, das sie vollkommen unterdrückt und zusammen mit ihren furchtbaren Erinnerungen tief in sich vergraben hatte. Das war ein sehr einsames Leben für einen Wolf. Wir Wolf-Shifter brauchten ein ganzes Rudel, wenn auch nur ein kleines, damit wir uns sicher fühlten. Ich selbst hatte eine sehr einsame Kindheit gehabt, so ganz ohne Rudel, aber wenigstens war meine Schwester Grace bei mir gewesen. Obwohl sie keine Shifterin war, war Grace loyal und beständig. Zusammen formten wir ein kleines Rudel, das meinem Wolf genug Sicherheit bot, um sich ausgeglichen zu fühlen.
Mein Wolf war ein Teil von mir – ein sehr großer Teil von mir. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie es sich anfühlen würde, wenn ich von meinem Wolf getrennt wäre, wenn wir gespaltet wären. Mit meinem Wolf Eins zu sein hatte mir in
meinem ganzen Leben geholfen mich selbst und mein Selbstbewusstsein zu finden. Die doppelte Natur eines Shifters war wichtig für unsere Identität, doch Laila hatte nichts dergleichen. Wolf-Shifter waren nicht dafür bestimmt, ein Leben wie Lailas zu leben.
Ich musste einen Weg finden, wie ich ihr helfen konnte, denn ich würde sie auf gar keinen Fall verlassen – nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft. Niemals. Falls sie die Tatsache, dass wir Gefährten waren, ablehnen sollte – mich ablehnen sollte, so war sie trotzdem immer noch meine Gefährtin und sie war trotzdem immer noch ebenso eine Wolf-Shifterin, die halt eben einen riesige Ladung an Ballast und tief verwurzelte Probleme mit sich herumschleppte. Sie brauchte Hilfe, um ihren Weg zu finden. Sie brauchte ihren Wolf.
Ich stand auf und rieb stöhnend meine Hände über mein Gesicht. Selbst die Vorstellung, ohne Laila leben zu müssen, zerrte an meinen Eingeweiden. Ich schüttelte meinen Kopf, öffnete die Tür zu meinem Büro und trat heraus, nur um geradewegs in eine Art Wettstreit zwischen Parker und Maxim hineinzulaufen. Parker saß an einem der Schreibtische.
Ich war so dermaßen in Lailas Geschichte und ihrer Vergangenheit und meinen Grübeleien, wie ich ihr möglicherweise helfen könnte, vertieft gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, dass noch jemand ins Gebäude gekommen war. Die beiden hatten sich eindeutig gestritten, hielten jedoch in dem Moment inne, als ich die Tür öffnete.
„Ich habe mich schon gefragt, wann du dich endlich blicken lässt.“
Maxim schmunzelte. „Haben wir uns das nicht alle?“
Ich rollte meine Augen. „Ha-Ha-Ha.“
Parker zog ihre Augenbrauen zusammen. „Habt ihr beide – du und meine beste Freundin – euch endlich als Gefährten markiert?“
Ich schüttelte hustend meinen Kopf. „Im Moment helfe ich
ihr erst einmal mit ihrem Wolf. Ich … Ich habe herausgefunden, was ihr als Kind passiert ist.“
Parkers Augen wurden schmal. „Hat sie es dir erzählt?“
Ich schüttelte meinen Kopf und zuckte mit den Schultern. „Ich musste es einfach wissen.“
„Mir gefällt das nicht wirklich.“ Sie seufzte, stand auf und ich sah, dass sie sich Baby Stella in einer Babytrage vor den Bauch gewickelt hatte. „Aber du solltest es wissen, wenn du ihr dabei helfen willst, ihren Wolf hervorzulocken. Sie hat furchtbare Angst.“
„Sie oder ihr Wolf – welche von beiden?“
„Beide. Sei bitte besonders vorsichtig mit ihr. Es ist noch nicht allzu lang her, seit sie angefangen hat sich daran zu erinnern, was passiert ist. Ihre Erinnerungen sind wie Flashbacks und jagen ihr jedes Mal unglaubliche Angst ein. Es ist fast so, als hätte sie Alpträume, obwohl sie hellwach ist. In den ersten sechs Monaten hat sie kaum geschlafen und wenn sie es tat, ist sie meist total verängstigt aufgewacht, nass geschwitzt und schreiend, dass die Wände wackelten. Sie hat oft bei mir übernachtet, weil sie so große Angst davor hatte allein zu sein.“
Mein Magen verknotete sich und ich wandte meinen Blick ab. „Ich werde mich um sie kümmern.“
„Das solltest du. Wäre besser für dich.“
„Würdest du mir ihre Adresse geben? Ich könnte ihrem Duft folgen, aber es ist schneller, wenn ich es einfach ins Navi eingebe und rüberfahre.“
„725 Albatross Landing. Richtung Westen, es ist das letzte Haus auf der linken Seite.“ Mit einem ermatteten Seufzer drückte Parker ihre Babytrage fest an ihre Brust und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken, woraufhin sie Maxim sofort wieder einen finsteren Blick zuwarf, auch wenn der mittlerweile nur noch halbherzig finster war. „Wenn ihr beide endlich offiziell zusammen seid, tue mir einen Gefallen und
werde nicht zu einem dummen kontrollierenden Alpha-Männchen, der sich wie ein Neandertaler auf die Brust trommeln muss, okay?!“
Maxim knurrte. „Es ist dumm, dass ich dich und Stella beschützen will? Ich bin ein Neandertaler, weil es meine Verantwortung ist für die Sicherheit meiner Gefährtin und meiner Tochter zu sorgen?“
Ich hielt meine Hände hoch und zögerte keine weitere Minute schnellstens von dort zu verschwinden, bevor ich noch in ihren Streit hineingezogen wurde. Außerdem musste ich zuerst noch kurz im Supermarkt auf Main Street vorbeigehen.
Lailas Haus war ein niedliches kleines Cottage am Strand am gegenüberliegenden Ende der Insel. Ihre Veranda an der Vorderseite war mit unzähligen Muscheln dekoriert und die Fußmatte zeigte einen leuchtend pink-farbenen Flamingo. Der Türklopfer war ein kleiner Anker und überall hing der aromatische warme wohlige Duft von Laila – süß, würzig und köstlich.
Es war Samstag und ich hatte keine Ahnung, ob sie als Stylistin am Wochenende arbeitete oder nicht. Ich drückte mein Ohr an ihre Tür und war zufrieden, als ich im Inneren Bewegungen hörte. Jetzt da ich wusste, was sie überlebt hatte, und die Ereignisse kannte, die für ihre Furcht und Angst verantwortlich waren, wollte ich alles in meiner Macht Stehende tun, um ihr zu helfen. Ich benutzte den kleinen Anker, um an ihre Tür zu klopfen. In dem Moment, als sie die Tür öffnete, schlang ich meine Arme um sie und zog sie eng an mich, drückte sie fest an meine Brust. Augenblicklich beruhigte sich etwas in mir, wurde von ihrem weichen Körper, den ich eng an meinen hielt, getröstet. Ich atmete einen Atemzug aus, von dem ich nicht einmal bemerkt hatte, das ich ihn angehalten hatte.
Laila jedoch verkrampfte sich und erstarrte. Sie stöhnte knurrend in meine Brust und umklammerte die Seiten meines T-
Shirts. „Ich wusste nicht, dass du herkommen würdest. Ich bin nicht geschminkt.“
Ich zog mich von ihr zurück und blickte auf sie herunter. Bei den Göttern, wie konnte diese Frau nur glauben, dass sie Make-up brauchte? Ihre Augenbrauen und Wimpern waren blasser, aber ungeschminkt nicht weniger schön. Nichts sonst sah anders aus. Ihre Lippen waren immer noch von tiefem Kirschrot und sie war immer noch die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. „Du. Bist. Wunderschön.“
„Ich bin in meinem Pyjama.“
Ich zog mich noch etwas weiter von ihr zurück, um den Rest von ihr zu betrachten. Kein sexy Minikleid und keine Fick-Mich-Absätze für heute. Sie trug verwaschene weiche Baumwollshorts, ein Trägertop und war barfuß. „Wie gesagt, wunderschön. Aber wem gehören diese Shorts?“
Sie zog ihre Augenbrauen hoch.
Ich griff nach unten und rieb das dünne Material zwischen meinen Fingern. „Einem Ex-Freund?“
„Und wenn das so wäre?“
„Wenn du unbedingt Männerklamotten tragen willst, dann habe ich mehr als genug, was du anziehen kannst. Ich werde dir eine ganze Schublade voller Boxershorts vorbeibringen. Oder noch besser, du darfst gleich all meine Klamotten haben. Alles – du darfst alle
meine Klamotten haben.“ Ich hörte den scharfen Ton in meiner Stimme, aber ich konnte ihn scheinbar nicht unterdrücken. Die Vorstellung, dass sie die Kleidung irgendeines Arschlochs trug, war zu viel für mein männliches Gehirn und konnte es nicht ertragen.
Dann brach Laila plötzlich in schallendes Gelächter aus und rollte mit ihren Augen. „Diese Shorts haben nie irgendeinem Mann gehört. Die hatten nur einen Besitzer – mich.“
Ein Hauch von einem Lächeln flog über meine Lippen, als ich sie ins Haus drängte und die Tür hinter mir schloss. Sie scherzte mit mir. „Du solltest einen eifersüchtigen Mann nicht
reizen.“
„Du bist eifersüchtig?“
„Süße, ich glaube nicht, dass du weißt, was du mir antust. Ich bin eifersüchtig auf den Stoff
, der dich gerade berührt.“
Ihr Kiefer fiel runter und ihr Mund formte ein perfektes kleines überraschtes ‚O‘. „Du bist zu meinem Haus gekommen, um …?“ Ihr Wangen verfärbten sich leicht rosa.
Fuck, sie war einfach zu perfekt. „Ja. Ich bin hergekommen, um mich bei dir zu entschuldigen. Ich glaube, dass ich dich zu sehr gedrängt habe, und das tut mir sehr leid. Ich glaube außerdem, dass wir diese Sache ganz anders angehen können. Etwas, das ein wenig besser ist, als mitten in einem Sumpf zu stehen.“