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ank Gray war ich bis Sonntagabend mehr auf meine Wölfin eingestimmt als jemals zuvor. Es war zwar noch nicht besonders viel, aber es war ein Anfang. Gray und ich hatten das Wochenende im Bett verbracht. Irgendetwas war zwischen uns entfacht und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was es war. Aber es war das Heißeste, was ich je erlebt hatte. Soviel wusste ich.
Gray hatte seine Taktik geändert. Anstatt mich draußen wilde Tiere riechen oder hören zu lassen, hatte er Früchte und Säfte mitgebracht. Meine Bettlaken sahen nach einer Weile furchtbar aus, aber ich hatte einen Großteil des Wochenendes mit verbunden Augen verbracht und meine Sinneswahrnehmungen in einer sicheren Umgebung lernen können. Dabei hatte ich oft zwischen Grays Beinen an seiner Brust gelehnt gesessen, umarmt von seinen starken Armen. Die einzige Anspannung, die sich bemerkbar gemacht hatte, war von sexueller Natur. Gray hatte Recht gehabt. Dieser Ansatz funktionierte so viel besser.
Es kam alles nur sehr langsam voran, aber es war mir mehr und mehr möglich in die Natur meiner Wölfin einzutauchen. Mit verbundenen Augen musste ich mich mehr auf mein Gehör verlassen und konnte hören, wenn Gray mir näher kam oder
sich von mir wegbewegte. Ich konnte verschiedene Arten von Früchten erkennen und dann nur durch den Geruch sagen, wo im Raum sie sich befanden. Das machte Spaß.
Das Beste war, dass Gray mich jedes Mal, wenn ich mich gestresst fühlte, augenblicklich in die Arme nahm und küsste, bis all meine Anspannung verflogen war und ich vergaß, warum ich überhaupt gestresst gewesen war. Das war gut genug für mich.
Je mehr meine Wölfin in den Vordergrund rückte, desto mehr hörte ich auch ihre Gedanken über Gray. Sie wollte ihn. Sie ging sogar so weit, dass sie das
Wort flüsterte – Gefährte. Als ich das hörte, war mein erster Reflex gewesen, die Wand, die uns voneinander trennte, wieder hochzuziehen – die Barriere, die vor so vielen Jahren als ein Schutzmechanismus aufgezogen worden war. Jetzt wollte sie uns vor einem Mann blamieren, der sich zu einem sehr guten, sehr großzügigen und sehr liebevollen Freund entpuppt hatte. Sie war nur ein dummes Tier und glaubte, der erstbeste Mann, der ihr etwas Aufmerksamkeit schenkte, wäre ihr Gefährte. Das Letzte, was ich wollte war, dass Gray diesen Gedanken vielleicht in meinen Augen aufblitzen sah und davonrannte. Allem Anschein nach verstand meine Wölfin die Bedeutung von ‚Freunden mit sexuellen Vorzügen‘ nicht.
Am Sonntagabend schickte ich Gray dann nach Hause, denn es war nicht mehr länger nur noch meine Wolf-Seite, die verwirrt war. Ich überzeugte ihn davon, dass ich mich für die neue Arbeitswoche ausruhen müsste und das nicht konnte, wenn er in der Nähe war. Ich gab vor, dass es einzig und allein darum ging erwachsen und verantwortungsbewusst zu handeln, aber in Wirklichkeit hatte ich einfach nur genauso viel Angst wie mein Wolf. Wobei sich meine Angst jedoch auf meine immer stärker werdenden Gefühle für Gray bezog.
Aber ihn wegzuschicken war vielleicht ein Fehler gewesen. Ich war kaum eine Stunde eingeschlafen, als mich ein Alptraum
weckte. Ich war nassgeschwitzt, Tränen liefen meine Wangen hinunter und ich saß kerzengerade im Bett, während ich wütend mit meinen Fäusten auf die Mattratze schlug. Ich hatte diesen furchtbaren Alptraum schon eine ganze Weile, seit mehreren Wochen nicht mehr geträumt. Doch jetzt war es mein Wolf, der sich in mir regte, der diesen Alptraum wieder heraufbeschwörte. Sie hatte ihn zurückgebracht und ich hasste sie deswegen. Ihretwegen musste ich das Abschlachten meiner Eltern wieder und wieder neu durchleben. Und jedes Mal, wenn ich meine Augen schloss, sah ich es nicht nur, sondern ich erlebte auch gleichzeitig erneut den Schmerz, den Schock und den Horror.
Schließlich gab ich es auf, den Rest der Nacht Schlaf zu finden. Ich hatte viel zu viel Angst davor, wieder zurückzugehen, meine Augen zu schließen und diese furchtbare Gewalt noch einmal mitansehen zu müssen. Ich starrte stundenlang an die Decke und wünschte mir nichts sehnlicher, als einfach nur normal zu sein. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Leben gewesen wäre, wenn meine Eltern nicht gestorben wären. Ich konnte es nicht. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie mein Leben gewesen war, bevor ich von meinem Shifter-Dasein tief in mir erfahren hatte. Das konnte ich ebenfalls nicht mehr. Nicht seit Gray. Ich steckte in einem seltsamen, verworrenen Zustand irgendwo dazwischen fest, der schlimmer war als mein Leben, bevor ich angefangen hatte mit Gray daran zu arbeiten. Ich war kein Shifter, nicht wirklich. Aber ich war auch kein Mensch. Ich war etwas vollkommen anderes – ein Freak.
Am nächsten Morgen kroch ich beinahe zur Arbeit. Ich sah furchtbar aus, dessen war ich mir sicher. Ich hatte mir mein Haar nur lose oben auf meinem Kopf zusammengebunden, hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht, mich zu schminken, und mir nur eine Jeans und ein T-Shirt übergezogen. Ich fühlte mich höllisch schlecht, hatte hämmernde Kopfschmerzen und
die Ränder unter meinen Augen waren so dunkel, dass ich wahrscheinlich aussah, wie ein Clown.
Sobald Jammie mich sah, wusste sie sofort Bescheid. „Du hast wieder Alpträume?“
Sie kannte zwar nicht den gesamten Umfang dessen, was den Tod meiner Eltern wieder heraufbeschworen hatte, aber sie wusste, dass ich deswegen Alpträume hatte. Ich hatte es ihr gleich zu Beginn sagen müssen, als ich anfing für sie zu arbeiten, weil ich deshalb schon am Anfang einige Arbeitstage versäumt hatte. Sie hatte sich mein Heulen angehört und mir gesagt, dass ich mir so lange frei nehmen sollte, bis ich das im Griff hatte. Sie hatte sich um mich gekümmert.
Bei der Art, wie sie mich ansah, so voller Sorge und so mütterlich, hätte ich am liebsten gleich wieder losgeheult. Stattdessen nickte ich nur.
„Frannie hat heute Morgen etwas Zeit. Gönn dir selbst eine Massage. Kitty und ich werden uns um die Kunden kümmern.“
„Ja, das werden wir, Liebes.“ Kitty nahm meine Hand in ihre und tätschelte sie liebevoll.
Als Jammie sah, dass ich gerade protestieren wollte, schüttelte sie ihren Kopf. „Das ist kein Vorschlag, Süße. Du musst dich auch um dich selbst kümmern, wenn so etwas passiert. Bis es dir wieder besser geht, wirst du es zulassen müssen, dass wir dir genau dabei helfen.“
Ich eilte in Frannies Raum, bevor Jammie und Kitty die Tränen sehen konnten, die sich in meinen Augen sammelten. An Tagen wie diesen war es die Freundlichkeit von anderen, den Menschen, die ich liebte, die mich zu zerbrechen drohte. Frannie half dabei genauso wenig. Sobald sie mich sah, nahm sie mich in ihre Arme und drückte mich fest an sich.
„Ach, Liebes. Ich hörte Jammie sagen, dass du dir eine Massage gönnen sollst, aber diese hier geht auf mich.“
Das war’s. Ich brach in Tränen aus, während ich auf ihrem Tisch lag. Sie rieb mir angenehm den Rücken und bearbeitete
dann sanft meine Muskeln. Sie sagte nichts weiter dazu, dass ich die ganze Zeit weinte. Sie ignorierte die leisen Geräusche und das Schluchzen, das mir hin und wieder entwich. Als ich mit der Heulerei aufhörte, reichte sie mir ein Taschentuch und hielt mir dann den Abfalleimer entgegen, nachdem ich mir die Nase geputzt hatte.
„Das wird schon wieder, Laila. Was immer es auch ist.“ Sie streichelte mein Haar und seufzte. „Manchmal ist das Leben so richtig zum Kotzen, aber wir sind Frauen. Wir sind hart im Nehmen.“
Ich setzte mich auf. „Danke, dass ich mich bei dir ausweinen durfte.“ Ich blies einen groben Atem aus. „Ich hasse es, so schwach zu sein. Ich bin nie so gewesen. Ich habe nie geweint. Doch jetzt bin ich nur noch lächerlich.“
„Hey, da ist nichts Lächerliches daran, sich mal so richtig auszuweinen. Das ist lebenswichtig, um gewisse Dinge entsprechend zu bewältigen. Sei gut zu dir selbst. Wir alle haben schwere Zeiten durchzumachen. Weinen heißt nicht, dass du schwach bist.“
„Ich habe solche Angst. Ich will aber keine Angst haben. Ich will mutig und kühn sein. Ich will mich den Dingen, die mir Angst machen, stellen können.“ Ich stieß einen frustrierten Atem aus. „Und das ist genau das, was ich tun muss. Ich muss mich den Dingen stellen und darüber hinweg kommen.“
Frannie kannte mich nicht gut genug, um zu wissen wovon ich sprach. Nicht viele Menschen kannten die Wahrheit über meine Eltern. Noch weniger wussten, dass ich mich nicht verwandeln konnte, und dass ich es seit dem Tag, an dem meine Eltern umgebracht worden waren, nicht mehr getan hatte.
Sie sah verwirrt aus, zuckte aber nur mit den Schultern. „Wenn es dir keinen Schaden zufügt, dann stell dich den Dingen. Du kannst dein Leben nicht weiterleben, bis du das verarbeitet hast, was auch immer dir solche Angst macht.“
Ich nickte. „Du hast Recht.“
„Ähm, … Ich habe dir nicht soeben vorgeschlagen etwas Verrücktes zu tun, oder?“
Ich umarmte sie fest und schüttelte meinen Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Danke, Frannie. Ich werde es dir irgendwann erklären.“
Jammie sah mich aus dem Massageraum kommen und hob ihre Augenbraue. „Gehst du?“
„Es gibt da etwas, was ich erledigen muss.“
Sie lächelte. „Nimm dir Zeit, Liebes. Tue, was du zu tun hast.“
Ich hatte nicht die Absicht mir Zeit zu lassen. Ich wollte dieses Gefühl der Angst endlich loswerden, also würde ich es einfach tun. Ich würde mich einfach verwandeln und dann wäre alles wieder in Ordnung. So einfach war das. Außer, dass ich dabei Hilfe brauchte. Ich wusste nicht so genau, wie ich mich verwandeln konnte.
Ich brauchte Gray.
Auf dem Weg zur ehemaligen P.O.L.A.R.-Station bereitete ich mich mental auf den wimmernden Wolf in meinem Kopf vor. Wir würden uns der Angst stellen und es hinter uns bringen. Basta.