GOLDENER GLOBUS

Wie oft hatten sie zusammen unter einem der Tische in der Scheune gehockt, zwischen Stapeln vergilbter Bücher und speckigen Lederkoffern, und den glänzenden Globus gedreht. Mit geschlossenen Augen hatten sie ihre Finger über die rotierende Pappmachékugel gleiten lassen und erst die Augen geöffnet, als das Kreisen stoppte. Daniels Finger war immer auf einer Insel gelandet, ihrer meistens mitten im Ozean.

März 2019

Aimée drückte die Tür des Bullis auf. Frischer Wind und der Geruch von Salz schlugen ihr entgegen, hüllten sie ein wie etwas sehr Vertrautes. Sie hatte oberhalb einer breiten Strandbucht geparkt, die links und rechts von Felsen gerahmt war. In ihrem Rücken, nur wenige Meter entfernt, lag der Eingang zum Friedhof. Aimée lehnte sich an den Bus und atmete ein und aus. Sie konnte gar nichts anderes tun, als hier zu stehen und diese Luft einzusaugen, die so feucht und klar war, dass ihr schwindelig wurde. Sie war da.

Es nieselte, aber der Himmel, der vor ihr ins Meer fiel, war alles andere als eintönig und grau. Er war düsterblau, weiß und anthrazit, sehr dunkel und dann wieder sehr hell. Aimée hielt ihr Gesicht in den Regen.

Sie war ohne Pause die ganze Nacht gefahren, nach Westen, bis es nicht mehr weiterging. Als würde dieser Ort sie an sich ziehen, der fast am Ende lag, oder am Anfang, dahinter nur noch der Ozean. Als wäre ihre Fahrt ein einziger, schwereloser Fall, eine Rückkehr dahin, wo sie hergekommen war. Dabei war sie noch nie hier gewesen.

Len war über dem steten Rumpeln eingeschlafen, neben seinem Bett brannte die Mondlampe. Dichter Nebel hing zwischen den Hecken, die Scheinwerfer leuchteten ins wattige Weiß wie in einen Tunnel. Sie dachte an Daniel. So viele Jahre war er der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen. Als sie klein gewesen war, hatte sie ihn wie einen großen Bruder bewundert, und später – sie fünfzehn, er neunzehn –, da waren sie zusammengekommen. Sie hatte immer gedacht, dass sie ihn irgendwann heiraten würde. Bis er wegging, hierher, nach St. Ives.

Unten am Strand waren an diesem Morgen nur wenige Menschen unterwegs, fünf Spaziergänger zählte Aimée und zwei Hunde. Das Meer hatte sich weit zurückgezogen. Draußen brachen die Wellen, ein lautes Anschwellen, eine Explosion, dann sekundenlang Stille.

Sie wusste, dass es sich für Daniel immer so angefühlt hatte, als hätte sie Schluss gemacht. Weil sie nicht gesagt hatte: Klar, die drei Jahre stehen wir locker durch. Aber sie hatte sich so verdammt bedeutungslos und hintergangen gefühlt, als er sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Am Ende waren sie beide verletzt gewesen.

Neben ihr öffnete sich die Schiebetür des Bullis. Len hielt sich die Hand vor die Augen, seine Locken standen in alle Richtungen ab, sein hellblauer Schlafanzug flatterte im Wind.

»Hey.« Aimée hob ihn aus dem Wagen, griff nach einer Decke und wickelte ihn ein.

Schlaftrunken sah Len zum Strand hinunter. »Wir sind da.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Gemeinsam blickten sie in diese Weite aus Sand, Wasser und Himmel, auf das dunkle Gestein und braungrüne Gras, das die Klippen auf beiden Seiten der Bucht bedeckte. Aimée wandte sich um und warf einen Blick auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. Es war kurz nach zwölf. Die Beerdigung hatte bereits begonnen.

»Komm.«

Sie stiegen in den Wagen, machten eine Katzenwäsche und zogen sich in aller Eile an. Len besaß keine schwarzen Klamotten, aber die dunkelblaue Jeans und das graue Sweatshirt taten es auch. Sie selbst trug einen schwarzen Rock und einen schwarzen, fein gestrickten Pulli unter dem Mantel, Teile, die sie nur für die Beerdigung mitgenommen hatte. Sie hatte Len erzählt, dass Barbara früher wie eine Mutter für sie gewesen war und Daniel ein Freund.

»Bereit?« Sie zog Len die Kapuze seiner Jacke über den Kopf.

Er nickte ernst. »Bereit.«

Sie ließen den Bulli oberhalb des Strandes stehen und überquerten die Straße. Hand in Hand schlugen sie den kleinen Weg ein, der sie zu einem schmiedeeisernen Törchen führte. Die dünnen Eisenstreben waren in Herzform gebogen. Ein Mäuerchen begrenzte den Friedhof zur Strandseite hin, die Grabplatten zogen sich den Hügel hoch bis zu einer kleinen Kapelle. Alles war aus dem gleichen groben Stein gehauen. Eine Gruppe dunkel gekleideter Menschen stand oberhalb der Kapelle im Halbkreis, verdeckt von schwarzen Regenschirmen. Das Meer rauschte Aimée in den Ohren.

Als sie das Törchen aufstieß, quietschte es. Sie hatte Len noch immer an der Hand, aber eigentlich hielt sie sich an ihm fest. Sie hatte keine Ahnung, was sie dort oben erwartete.

Gemeinsam liefen sie zwischen den Gräbern hindurch. Windschiefe Kreuze und dünne Platten aus rauem Granit standen in einer wilden Ordnung dicht an dicht. Sie waren überzogen von leuchtend orangefarbenen und weißen Flechten, die aussahen wie platt getretene Kaugummis. Zwischen den Gräbern wucherten Gräser.

Zusammen mit Len ging sie die Anhöhe hoch, drückte sich gegen den Wind und hielt auf die kleine Gruppe zu. Im Näherkommen senkte sie den Blick. Aber sie hatte ihn bereits entdeckt, und er hatte sie gesehen. Für einen kurzen Moment hatten ihre Blicke sich im Nieselregen getroffen.

Aimée zog Len in die zweite Reihe. Sie musste sich sammeln. Der Pfarrer sprach laut gegen das Tosen der Brandung unten am Strand an, Möwen kreisten über ihren Köpfen, ein Mann mit Zylinder hielt die Urne. In diesem kleinen Gefäß war alles, was von Barbara übrig geblieben war. Aimée starrte auf den dunkelgrünen Mantel der Frau vor ihr. Sie hatte das Gefühl, Barbara stünde neben ihr, wie sie so oft am Eingang vom Hof gestanden hatte, wenn Aimée aus der Schule gekommen war. Wie war dein Tag, my love? Immer war sie es gewesen, die fragte, mit ihrem englischen Akzent, den sie all die Jahre gepflegt hatte. Aimée sah Barbara in der kleinen Küche der Scheune vor sich. Sie sah Barbara immerzu in großen Töpfen rühren, sie roch den Lorbeer, die Nelken und schmeckte das Salz in der Luft.

»Hallo, Aimée.«

Abrupt blickte sie auf. Daniel stand vor ihr, in der Hand einen Strauß weißer Rosen, auf seinem Gesicht ein kleines Lächeln, das sofort wieder verschwand. Er stand sehr aufrecht da, und Aimée erinnerte sich, dass sie ihn genau so kannte, aufrecht, als wären alle seine Muskeln gespannt. Seine braunen Haare waren länger als früher, kinnlang und wellig, er hatte einen Bart, seine Haut war gebräunt. Wie damals, durchfuhr es sie. Als er nach drei Jahren, nach seiner Tischlerlehre, mit den ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zur Kommune zurückgekehrt war. Da hatte er vor ihr gestanden, vor ihrem Bulli, und sie angesehen mit diesem grauen Blick, den sie auch jetzt nicht deuten konnte.

»Daniel.« Ihre Stimme war leiser, als sie es wollte. »Es tut mir leid.«

Er nickte. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, aber sie traute sich nicht. Der dichte Vollbart ließ ihn fremd aussehen. In Gedanken rechnete sie nach – er war vierzig, vier Jahre älter als sie. Er nahm eine Rose aus dem Strauß und reichte sie ihr, und für einen lächerlichen Moment kam es ihr so vor, als schenkte Daniel ihr diese Rose.

Bevor sie etwas sagen konnte, ging er in die Hocke. »Du musst Len sein.« Sie hatte vergessen, wie tief seine Stimme war.

Len nickte. Er sah nicht eingeschüchtert aus, nur sehr ernst.

»Ich bin Daniel. Wir haben uns schon mal getroffen, da warst du noch ganz klein.« Er hielt auch Len eine Rose hin. »Und wen hast du da mitgebracht?« Er deutete auf den kleinen Puppenkopf, der unter Lens Kinn aus der blauen Jacke hervorlugte.

»Das ist Lenna.«

Daniel lächelte. »Hallo, Lenna.«

Len lächelte auch.

Daniel verteilte die Rosen unter den Gästen und ging zurück an seinen Platz. Eine Frau hakte sich bei ihm ein, schmal und fast genauso groß wie er, sicher über eins achtzig. Zoe. Aimée fuhr mit dem Finger einen Dorn am Stiel der Rose nach. Die beiden waren schon sehr, sehr lange zusammen.

Der Pfarrer sprach von Barbaras Herz, das aufgehört hatte zu schlagen, und Aimée sah sie vor sich, im Bett des Bauwagens, die Hand an der Brust, der helle Turban verrutscht. Ich brauche nur einen Tee. Der Mann mit dem Zylinder stellte die Urne in die kleine Öffnung im Boden.

Daniel trat als Erster ans Grab, allein. Er blickte über die Köpfe der Trauergäste hinweg hinunter zum Meer. Aimée musste schlucken. Seine Mutter war tot, einfach nicht mehr da. Unwillkürlich dachte sie an Marilou und das sandige Seeufer, eine lange Haarsträhne, die gleißende Wasseroberfläche, die sich über ihrem Scheitel schloss. Aimée drückte die Fingerkuppe in den Dorn, ein kurzes Pieksen, sie saugte an ihrem Finger. Daniel sah zu Boden, seine Lippen unter dem Bart bewegten sich. Er sprach tonlos, aber sie hatte das Gefühl, ihn zu hören. Seine Stimme war immer weich gewesen, wenn er mit Barbara gesprochen hatte. Zugleich hatten seine Worte einen Raum abgezirkelt, einen Schutzraum für seine Mutter. Komm, ich mach dir einen Tee und dann schläfst du eine Runde. Daniel bückte sich und legte seine weiße Rose zu Barbaras Urne.

Einer nach dem anderen traten die Gäste ans Grab, verharrten kurz dort und ließen ihre Rose hineinfallen.

Len zog an ihrem Arm, die Kapuze seiner Jacke rutschte ihm in den Nacken. »Müssen wir das auch machen?«

Aimée gab ihm einen Kuss und schob ihm die Kapuze wieder auf den Kopf. »Müssen nicht, aber ich würde Barbara gerne meine Rose geben.«

Er überlegte. »Wie alt war Daniels Mama?«

Len war erst sechs, aber er wusste schon so viel über den Tod. Er war noch nie bei einer Beerdigung gewesen, hatte aber schon immer viele Fragen gehabt, zum Nicht-mehr-da-Sein und zu dem, was danach kam. Sie rechnete. »Mitte siebzig. Ja, ich glaube, Barbara war ziemlich genau fünfundsiebzig.«

Len spielte mit der Rose in seiner Hand.

Ein beerenfarbener Regenschirm schob sich in ihr Blickfeld, leuchtend zwischen all den schwarzen Schirmen. Aimée erkannte Sanne und Lothar. Ein plötzliches warmes Gefühl durchströmte sie. Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass noch jemand von der Kommune hier sein könnte, aber klar, Daniel hatte auch die anderen informiert. Lothar warf eine Handvoll Erde ins Grab und legte den Arm um Sannes Schultern.

»Komm.« Aimée nahm Lens Hand, und gemeinsam traten auch sie vor.

Möwen kreischten, als sie Seite an Seite in die Hocke gingen. Die Urne stand tiefer im Boden, als Aimée gedacht hatte. Zahllose feine Wurzeln ragten ringsherum aus der Erde in die Öffnung hinein, verletzt durch den Spaten, mit dem das Loch ausgehoben worden war.

Len fasste seine Rose am unteren Ende. »Wie alt wirst du, Mama?« Er sah sie nicht an bei dieser Frage.

Die Wellen brachen sich an den Felsen unten am Fuß des Hügels, aber das Geräusch war überall – krachendes, reißendes Wasser, das alles mit sich nahm.

Sie schloss ihre Hand über der von Len. Wolke hätte auch ein Grab verdient gehabt und ein Kreuz, wenigstens das. »Ich weiß es nicht.«

Aimée hielt immer noch Lens Hand, als sie gemeinsam ihre Rosen zu Barbara in die Tiefe fallen ließen. Himmel, er war doch noch viel zu jung für eine Beerdigung!

Sie traten zurück. Der Pfarrer sprach ein paar abschließende Worte und schüttelte Daniel und Zoe die Hand. Dann lief er im wehenden Umhang den Hügel hinab.

»Aimée!« Im nächsten Augenblick drückte Sanne sie schon an sich. »Dass du hier bist! Dass ich dich wiedersehe!«

Aimée roch etwas Süßes, Modriges, und für einen Moment spürte sie hartes Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen. Sie ließ sich in die Umarmung fallen, sie konnte gar nicht anders.

»Mädchen.« Lothar zog sie ebenfalls an sich und klopfte ihr auf die Schulter.

»Und wen haben wir da?« Sanne beugte sich zu Len hinunter, ihre Nase war gerötet. »Du musst Len sein.« Sie warf Aimée einen Blick zu und lächelte. Tränen standen ihr in den Augen.

»Len«, Aimée berührte ihn am Arm, »das sind Sanne und Lothar. Sanne ist die, die sich die Pfannkuchentorte ausgedacht hat.«

Len blickte auf. »Die mit der Schokosoße?«

Sannes Augen sahen aus, als würden sie gleich überschwappen. »Genau die.«

Len schaute sie neugierig an. Sanne hatte noch dasselbe rundliche Gesicht wie damals, zu dem die schwarze Kleidung, die sie heute trug, nicht so recht passen wollte. »Wohnst du auch in so einem Bus wie Mama?«

Sanne lachte. »Fast. Lothar und ich wohnen in einem Bauwagen. Die kennst du vielleicht von der Baustelle?«

Len nickte.

»Aber sag mal«, sie wandte sich wieder an Aimée, »wie geht es dir? Was machst du?« Sanne hielt ihren Schirm über sie. Es nieselte noch immer, der Wind ließ den Schirm flattern. »Wo seid ihr untergebracht?«

Lothar legte den Arm um seine Frau. »Lass Aimée doch erst mal durchatmen. Sagt, wie wäre es, wenn wir uns heute Nachmittag richtig treffen? Um drei am Hafen? Da suchen wir uns ein schönes Café und erzählen uns alles, was es zu erzählen gibt. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Sanne und Lothar winkten und folgten dem Pfarrer den Hügel hinunter. Auf der Karte hatte nichts von einem Trauermahl gestanden. Gab es das in England nicht?

Daniel kam auf sie zu. Hinter ihm lag die kleine Kapelle, deren Dach von Flechten übersät war. Unwillkürlich dachte Aimée an das Birkendach ihres Mobiles. Daniel blieb vor ihr stehen. Die Farbe seiner Augen verschmolz mit dem Granit ringsherum.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst«, sagte er.

»Natürlich.«

»Wie lange bleibt ihr?« Der Reißverschluss seiner schwarzen Jacke war bis zum Kinn zugezogen.

Aimée atmete tief durch. Sie hatte gehofft, sie könnten anders miteinander reden. Wie sehr sie sich das gewünscht hatte, wurde ihr erst jetzt klar. »Keine Ahnung.«

»Wie seid ihr hier?«

Sie kam sich vor wie in einem Kreuzverhör, nicht so, als würden sie sich unterhalten. Dabei hätte sie so viele Fragen: Wie es ihm ging, wie es Barbara ergangen war, vor ihrem Tod, und, ja, wie sie gestorben war? Aber vielleicht war jetzt einfach nicht der richtige Moment dafür.

»Mit dem Bulli.« Ihre Stimme klang heiser. Zu viel hing an diesem Gefährt, an ihrem Schneckenhaus. Sie sah sich nach Len um.

Er kniete auf dem Boden und inspizierte die fleischigen Blätter einer Sukkulente, die zwischen zwei Grabplatten wuchs. Außer ihnen waren nur noch wenige Menschen auf dem Friedhof – der Mann mit dem Zylinder, der noch am Grab hantierte, und eine Gruppe von Frauen, mit denen Zoe sich unterhielt.

»Das heißt, ihr braucht einen Stellplatz.«

Mit einem Mal kam ihr alles, was sie vorhin gedacht und gefühlt hatte, lächerlich vor. Dass dieser Ort sie magisch angezogen hatte, dass hier ein Ausgangspunkt sein könnte für ein neues Leben.

»Wir schauen uns den Zeltplatz hier an.« Der Wind zog an ihren Haaren.

Zoe trat zu ihnen. »Hallo, Aimée.«

»Hallo, Zoe. Mein herzliches Beileid.« Es kam ihr komisch vor, dass sie das sagte. Eigentlich müsste Zoe doch ihr sagen, wie leid es ihr tat.

Aimée fischte ein Zopfgummi aus ihrer Tasche und band sich die Haare zusammen. Was für ein vermessener Gedanke. Zoe war seit fünfzehn Jahren mit Daniel zusammen. Was wusste Aimée schon, wie nah sie Barbara gestanden hatte.

»Danke.« Zoe hakte sich wieder bei Daniel ein.

Sie hatte ein Gesicht, das man einfach anstarren musste, das hatte Aimée früher schon gedacht. Schmal und mit hohen Wangenknochen, blasser Teint, volle Lippen und dieser merkwürdig schiefe Zahn, einer der Eckzähne oben. Ihre Haare waren schwarz, und sie trug sie noch immer oder schon wieder im Pagenschnitt. Aimée hatte nie gewusst, worüber sie mit Zoe sprechen sollte, und auch jetzt fiel ihr nichts ein. Glücklicherweise kam der Mann im Zylinder zu ihnen herüber.

Aimée entschuldigte sich und ging zu Len. Sie würde Daniel einfach später noch einmal anrufen. Seine Nummer stand ja hinten auf der Trauerkarte. Heute noch würde sie ihn anrufen. Auch wenn es nach so vielen Jahren auf einen Tag eigentlich nicht mehr ankam.

Aimée lenkte den Bulli durch die engen Gassen den Hügel hinauf. Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel war noch düster, aber die Märzsonne schickte bereits lange Strahlen durch die Wolken. Len saß neben ihr auf dem Beifahrersitz, sie machten einige Umwege, weil sie noch ein paar zusätzliche Blicke aufs Meer und auf den Hafen mit seinen farbenfrohen Fischerbooten erhaschen wollten. Der graue Stein und das bunt bemalte Holz des Ortes waren wie von einer noch feuchten Glasur überzogen. St. Ives lag vor ihnen und glänzte.

Schließlich fuhr Aimée einen Hügel hoch. Auf dem weißen Straßenschild an der Steinmauer stand Ayr Terrace. Sie bog in die Einfahrt des Campingplatzes ein. Von hier aus konnte sie noch nicht viel vom Platz erkennen, nur zwei Holzhütten, eine kleine links und eine etwas größere auf der rechten Seite der Auffahrt. Sie parkte neben einem dunkelgrünen Pick-up.

Als sie ausstieg, sah sie ein Paar vor der kleineren Hütte stehen: Daniel und Zoe, in einer innigen Umarmung.

Was zum Teufel taten die hier?

Aimée hielt sich an der Tür des Bullis fest.

»Mama, ich muss mal.«

»Gleich«, sagte sie leise in den Wagen hinein.

»Aber ich muss dringend.«

»Jetzt warte mal.«

Zoe strich Daniel immer wieder über den Rücken. Seine Haltung war viel weniger aufrecht als vorhin auf dem Friedhof. Er ließ sich fallen, so richtig fallen, es sah aus, als würden er und Zoe in ihren schwarzen Kleidern miteinander verschmelzen. Aimée musste wegschauen. Ein Auto mit angehängtem Wohnwagen rumpelte an ihr vorbei auf den Platz.

Len stieg auf der andere Seite aus dem Bus. »Ich pinkel jetzt hier.« Er stapfte zu einem Busch.

»Len!«

Daniel und Zoe lösten sich voneinander und sahen zu ihnen herüber.

»Hi.« Aimée ging auf sie zu. »Wisst ihr zufällig, wo hier ein Klo ist?« First things first, hatte Barbara immer gesagt.

Daniel richtete sich auf. »Er kann gerne das hier benutzen.« Er nickte zur Hütte, vor der er und Zoe standen. Sie war nicht groß, vielleicht zwei mal zwei Meter, ihr Holz war verwittert. Aimée hatte gedacht, darin säße jemand, bei dem man seinen Wagen anmelden konnte.

Len verschwand hinter der Tür. Zoe setzte sich auf einen Klappstuhl vor eine Hecke, die aussah, als würden im Sommer Brombeeren oder Himbeeren daran wachsen. Daniels Blick glitt an Aimée vorbei zum Bulli. Der Jackenkragen verdeckte sein Kinn, sein Profil war sehr starr. So ähnlich hatte sie die rote Karosserie vermutlich auch angesehen, als sie das Garagentor letzten Herbst zum ersten Mal seit Jahren geöffnet hatte.

Daniel steckte die Hände in die Jackentasche. »Anfang März ist noch nicht viel los in Cornwall. Wir sind also ziemlich leer.«

»Wir?«

»Ich leite den Platz. Bin der Groundsman, wie es hier heißt.«

»Okay …« Unwillkürlich dachte sie an den Umschlag mit dem Geld, der in ihrer Handtasche im Bus lag. Sie würde für all das hier den vollen Preis bezahlen, keinen Penny würde sie sich von Daniel schenken lassen.

»Nehmt einen der Plätze gleich vorne rechts, da habt ihr den besten Blick.« Zoe lächelte ihr vom Stuhl aus zu.

Früher war Aimée nie schlau aus ihr geworden. Sie war immer freundlich gewesen, hatte aber immer auch etwas Reserviertes gehabt. Na ja, vermutlich war sie selbst Zoe nicht anders begegnet. Vielleicht konnten sie in den nächsten Tagen ja mal sprechen und etwas natürlicher miteinander umgehen.

Len kam aus der Hütte, lief an ihr vorbei und setzte sich wieder in den Bulli.

»Okay«, Daniel fasste sich an den Bart, »dann erklär ich dir mal den Platz.«

Das Auto mit dem Wohnwagen hatte weit weg am anderen Ende des Zeltplatzes geparkt, zwei einzelne Flecken auf der großen Wiese, ein roter und ein weißer. Zwei Wege führten dorthin, ein asphaltiertes Sträßchen und ein Schotterweg. Nur wenige Wohnmobile parkten verstreut auf dem Platz zwischen Büschen und Hecken.

»Also, hier gleich rechts am Eingang haben wir ein Haus mit Waschmaschinen und Trocknern. Weiter hinten, auf der linken Seite, kommen dann die Duschen, Toiletten und Waschräume.« Er sprach in einem geschäftsmäßigen Ton, den sie nicht von ihm kannte. »Strom ist an jedem Stellplatz. Habt ihr einen Adapter?«

»Nein.« Sie zuckte mit den Schultern. Das hier war kein Urlaub, den sie geplant hatten.

Zoe verschwand kurz in der Hütte und kam mit einem weißen Ding mit drei eckigen Metallstiften wieder heraus. »Den könnt ihr gerne behalten.« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

»Danke, Zoe.«

»Wenn du Fragen hast«, sagte Daniel, »ich bin die meiste Zeit hier. Meine Telefonnummer hast du?«

Aimée nickte. Daniel bückte sich und hob einen Plastikfetzen auf. Seine Schultern waren breit unter der Jacke. Wie konnte ein Mensch einem so vertraut und gleichzeitig so fremd sein?

»Wir wohnen zweihundert Meter oberhalb vom Platz.« Er steckte das Plastik ein und zeigte links den Hügel hinauf. Nur ein einziges Haus war dort zu sehen. Es war groß und hatte zwei Erker.

Wir, dachte Aimée. Natürlich.

Am Granit der Hauswand rankte, wenn sie es richtig erkannte, dunkler Efeu. Der Dachstuhl war mit großzügigen Gauben ausgestattet. Vom Haus aus hatte man freie Sicht hinunter zum Meer.

»Ist das Barbaras Haus?«, fragte sie.

Barbara hatte früher immer wieder von ihrem Geburtshaus gesprochen, einem Cottage, dessen Steine ihr Vater selbst im Steinbruch geschlagen hatte. Irgendwann hatte sie in dieses Haus zurückkehren wollen. Aimée hatte es sich all die Jahre viel kleiner vorgestellt.

»Ja.«

Am liebsten würde sie zu Daniel sagen: Mensch, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Oder etwas in der Art. Aber heute war seine Mutter beerdigt worden, also schwieg sie. Wahrscheinlich hatte Barbara bis vor Kurzem mit ihnen in dem Haus gewohnt, und jetzt erinnerte ihn dort alles an sie.

»Wir müssen los.« Er nickte Zoe zu.

»Wollen wir uns die nächsten Tage mal treffen? Auf einen Kaffee?« Sie kam sich blöd vor, das zu fragen. Aber irgendwie musste sie ihn doch zu fassen kriegen.

Zoe stand von ihrem Platz vor der Hecke auf und klappte den Stuhl zusammen.

»Klar.« Daniel stellte den Stuhl in die Hütte und schloss ab. »Also, wir sehen uns.«

Er und Zoe stiegen in den dunkelgrünen Pick-up und fuhren los.

Einen Moment später war alles ruhig. Nur ein fernes Rauschen war zu hören. Rauschen, dann sekundenlange Stille, und wieder Rauschen. Immer von Neuem. Der Platz mit seinem vielen Grün lag vor ihr in der kühlen Sonne.

Aimée zog die Beifahrertür des Bullis auf. Len hatte die Karten eines Quartetts um sich herum verteilt.

»Hey, warum bist du nicht bei uns draußen geblieben?«

»Guck mal, der Eichelhäher legt mehr Eier als der Mäusebussard. Bis zu sieben. Auf einmal!« Len konnte noch nicht lesen, aber Aimée hatte ihm die Namen, die Flügelspannweiten, die Höchstgeschwindigkeiten und den Ei-Faktor, wie es auf den Karten hieß, der sechsunddreißig Vögel so oft vorlesen müssen, dass er sie auswendig kannte.

Sie setzte sich neben ihn und startete den Motor. Langsam fuhr sie um das Häuschen mit den Waschmaschinen herum und ein Stück den Schotterweg entlang. Dann drehte sie nach rechts ab und parkte auf einer Wiese unter einer Ulme. Len ließ die Karten sinken und kniete sich auf den Sitz.

Vor ihnen auf einer Weide grasten zwei Pferde, kräftige Tiere, die Wind und Wetter sicher nicht scheuten. Dahinter schloss sich ein Meer aus Häusern an, die sich kaum abhoben von der steinigen Landschaft. Die Dächer waren übersät mit Flechten. Weiter unten lag der Friedhof mit der kleinen Kapelle und die weite Strandbucht, über der sie vorhin geparkt hatten. Am rechten Ende der Bucht türmten sich große Felsen zu einer Art Halbinsel auf, deren Kuppe mit Gras bewachsen war. Und Wasser. Wasser, wohin sie schaute, bis zum Horizont. Die Wolkendecke war aufgebrochen, die Sonne stand tief und färbte das Meer in sprenkelndes Türkis.

»Ich hau mir auf die Backe!« Mit einem andächtigen Seufzen ließ Len sich zurück in den Sitz fallen.

Aimée lachte. Len und sie würden sich jetzt ein paar schöne Tage hier machen. Komme, was wolle. Und wenn sie wieder klar denken und planen konnte, würden sie weiterfahren. Irgendwohin. Entschlossen stellte sie den Motor ab. Er brummte noch einen Moment leise und verstummte.