Aimée fühlte den weichen Flaum in Lens Nacken und strich ihm über den Rücken. Er saugte und drückte sich dabei ihrer Hand entgegen wie eine kleine Katze. Manchmal kam er ihr wirklich wie ein Katzenjunges vor, besonders wenn er zusammengerollt auf ihrem Schoß schlief. Sie hatten es sich gemeinsam in dem breiten Ohrensessel bequem gemacht, den Per bei einem finnischen Designer erstanden und in Lens Kinderzimmer gestellt hatte. Noch schlief Len bei ihnen im Schlafzimmer, meistens sogar in ihrem Bett. Er war so winzig und wirkte verloren in der breiten Jugendstilwiege, die Aimée vor Monaten aufgearbeitet hatte. Vorsichtig drückte sie das Kissen unter seinem Körper etwas höher. Len schmatzte laut.
»Das machst du sehr gut, mein Kleiner«, flüsterte sie.
Len war erst seit Kurzem kräftig genug, um an ihrer Brust zu trinken. Er war in der achtundzwanzigsten Woche auf die Welt gekommen, da hatte er gerade einmal siebenhundertneunzig Gramm gewogen. Jede Sekunde hatte sie gebangt, ob er es schaffen würde. Einmal hatte Len Magenblutungen bekommen, dann war einer seiner Lungenflügel kollabiert, und ein anderes Mal hatte es so ausgesehen, als müsste er am Herzen operiert werden. Alles in ihr hatte geschrien: Bitte, lieber Gott, hilf meinem Kind. Und Len schaffte es. Er war viel stärker, als sie alle erwartet hatten. Seit vier Wochen waren sie nun zu Hause. Sie spürte seinen Herzschlag unter ihrer Hand, ein schnelles Klopfen, das sie manchmal, wenn er schlief, wie unter Zwang ertastete. Wenn sie das Pochen dann spürte, merkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte.
Durch die Tür drangen die gedämpften Stimmen der Gäste unten, leise Musik, helles und dunkles Lachen. Zuerst war sie nicht begeistert gewesen von Pers Vorschlag, ein paar Leute einzuladen. Aber sie hatte gemerkt, wie wichtig ihm diese Feier war, jetzt, wo sie vorsichtig aufatmen konnten. Als Datum für die Babyparty hatte er ihren Geburtstag, ihren dreißigsten, ins Spiel gebracht. Die Vorstellung war ihr unangenehm gewesen, weil der Fokus an diesem Abend dann auf ihr liegen würde, aber irgendwie war es ihr schließlich doch gut erschienen, wenn sich nicht alle nur auf Len stürzten.
Pünktlich um acht, als die ersten Gäste an der Tür klingelten, hatte Len Hunger bekommen. Ihr war das ganz recht, dann konnte sie dazukommen, wenn die Party schon im Gang war. Die Rolle der Gastgeberin in diesem Haus war ihr noch fremd.
Es klopfte. Aimée zuckte zusammen. Len saugte ungerührt weiter.
»Ja?«
Die Tür öffnete sich, Stimmen und Musik drangen ins Zimmer. Und mit ihnen kam Daniel. Er stand im Türrahmen, aber etwas von ihm war schon neben ihr. Früher war es oft so gewesen, dass Aimée im hintersten Winkel der Verkaufsscheune gearbeitet hatte, umgeben von den Geräuschen der anderen, das Eingangstor außer Sichtweite, und trotzdem hatte sie gewusst, er war da. Als hätte die Spannung im Raum augenblicklich ihre Fließrichtung geändert.
Daniel räusperte sich. »Per hat mir gesagt, du bist hier oben. Aber ich glaub, ich warte …«
»Nein, bitte, komm rein.« Sie griff nach einem Tuch und legte es sich über die Brust.
Er zögerte, trat dann aber doch ins Kinderzimmer. Leise zog er die Tür hinter sich zu. Die Geräusche verebbten, der Raum umgab sie wie ein Kokon.
Daniel stellte sich neben den kantigen weißen Kleiderschrank. Er trug Jeans und ein dunkles Karohemd, in der Hand hielt er ein großes Geschenk, das in helles Packpapier eingeschlagen war. Er war unrasiert, und seine Haare wirkten, als wäre er gerade eben mit der Hand durchgefahren.
»Happy Birthday, Aimée.« Für einen Moment sah er ihr ins Gesicht, dann glitt sein Blick hinunter zu Len.
Mit einem leisen Schnalzen löste sich Len von ihrer Brust. Er drehte den Kopf in Daniels Richtung.
Daniel lächelte. »Hallo, Len.«
Sekundenlang blickten die beiden sich an, als sähen sie beide ein Wunder. Oder so als träfen sie eine geheime Verabredung. Dann wandte Len sich wieder ihrer Brust zu. Aimée strich ihm sacht über den Kopf. Sein Saugen wurde schwächer.
Daniel lehnte sich an den Schrank. »Wie geht es dir?«
Die Stoffvögel, die Aimée genäht und mit Nylonfäden an der Decke über Lens Wickeltisch befestigt hatte, drehten sich leise hin und her.
»Ganz gut.«
Seit dem Sommer hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Daniel hätte sie gern im Krankenhaus besucht, aber sie hatte das nicht gewollt. Sie hatte ihn nicht sehen können, seit dem Tag, an dem Marilou ins Wasser gegangen war. Mit niemandem von der Kommune hatte sie mehr Kontakt gehabt. Ihre Brustwarze rutschte aus Lens Mund. Seine Augen waren geschlossen, sein Atem ging ruhig. Vorsichtig zog sie den BH hoch und rückte ihr Kleid zurecht.
»Wo hast du eigentlich Zoe gelassen?« Mittlerweile ging ihr der Name einigermaßen natürlich über die Lippen.
»Die ist in London. Sie hat Prüfungen diese Woche. Aber sie lässt dir ganz herzliche Glückwünsche ausrichten.«
Zoe studierte Arts and Cultural Management. Sie war in Daniels Alter, aber viel mehr wusste Aimée nicht über sie. Die beiden führten seit Jahren eine Fernbeziehung.
Aimée sah zu Len, der auf ihrem Schoß schlief. »Möchtest du ihn mal halten?«
Daniel krempelte die Ärmel seines Karohemds hoch. »Bist du dir sicher?«
Aimée nickte.
Er stellte das Geschenk ab und kam zu ihnen herüber. Behutsam schob er seine Hände unter Lens Körper. Für einen Augenblick war er ihr dabei sehr nah. Er roch nach Daniel und nach Sommerregen, der auf eine trockene Landschaft fiel. Er hob Len hoch und hielt ihn so selbstverständlich auf seinem Unterarm, als hätte er nie etwas anderes getan. Sie musste an die winzigen Katzen denken, die in seiner Handfläche gelegen hatten, Lilis Junge, aus allen drei Würfen. Wolke war dabei gewesen.
»Hey, Len.« Daniels Stimme war brüchig. Er betrachtete Lens Gesicht. Sein eigenes, das ihr oft so verschlossen vorkam, war in diesem Moment vollkommen offen. »Wie schön, dass du da bist.« Len ruhte auf seinem sehnigen Unterarm wie in einem sicheren Bett.
Daniel nickte zu dem Geschenk auf dem Boden. »Möchtest du das vielleicht auspacken?«
Aimée hockte sich hin, löste die braune Kordel und öffnete den Karton. Es war etwas vom Trödel, das erkannte sie sofort – eine helle runde Lampe, ein kleiner Mond auf einem hölzernen Fuß. Daniel musste sie selbst gebaut haben. Sie drehte das Mondlicht hin und her. Das Glas war neblig-trüb, das Holz hatte ein paar Kratzer. Mit einem Mal spürte sie einen Widerwillen. Die Lampe war schön, sehr schön sogar, aber sie wollte sie nicht hier haben. Sie wollte nichts von damals hier haben.
»Ich dachte, als Nachtlicht …«
Aimée strich sich das Kleid glatt. »Danke.« Sie nahm ihm Len ab. »Geh doch schon mal vor nach unten. Ich komme gleich nach.« Sie konnte Daniel nicht ansehen dabei.
Die Blicke der Gäste waren auf sie gerichtet, ihr langes Kleid aus weinroter Maulbeerseide, das Per ihr eigens für diesen Anlass hatte schneidern lassen, strich ihr weich um die Beine. Sie wusste noch gar nicht so recht, wohin mit sich und ihrem Körper, seit der Schwangerschaft und der Geburt. Per stand am unteren Treppenabsatz und hielt ihr mit einem Lächeln die Hand entgegen.
»Die Dame des Hauses«, flüsterte er ihr ins Ohr. Dabei nahm er ihr das Babyfon ab. Eigentlich hätte sie es lieber behalten, aber er hatte schon recht, sie konnte nicht den ganzen Abend damit herumlaufen.
»Aimée!« Silva, die Frau eines von Pers Kunden, kam auf sie zu. Ihre Pfennigabsätze klackerten auf dem Betonboden. »Meine Liebe.« Sie hauchte ihr Küsse auf die Wangen. »Alles Gute zum Geburtstag. Und natürlich zur Geburt eures kleinen Prinzen!«
Sie war Ärztin, daran erinnerte sich Aimée. Für ihren Mann, Boris, ein kleinerer, etwas dicklicher Typ, der im Immobiliengeschäft tätig war, hatte Per in den letzten Jahren mehrere Stadtvillen entworfen. Sie waren einmal zu viert ausgegangen. Es war seltsam, seit sie hier im Haus lebte, fielen ihr immer zuerst die Berufe der Menschen ein.
»Sieht sie nicht bezaubernd aus?« Silva wandte sich an ihren Mann.
»Zum Anbeißen.« Boris lachte. Sein Jackett spannte über dem Bauch.
Per führte sie an den Grüppchen vorbei weiter hinein in den Wohnraum. Aimée ging wie über einen Teppich aus Klängen und Stimmen.
Das Licht war gedimmt, Kerzen standen in hohen silbernen Leuchtern auf dem langen Stahltisch und den gläsernen Beistelltischen. Mit den vielen Menschen wirkte der Raum enger als sonst. Per stellte das Babyfon in die Mitte des Esstischs, schenkte Wasser aus einer Karaffe in ein Kristallglas und reichte es ihr. Er selbst griff nach einem bauchigen Glas mit dunkelrotem, fast schwarzem Wein und stieß es leicht gegen ihres. »Auf dich.«
Sie lächelte ihn an. »Auf Len.«
Deliah kam an ihre Seite und umarmte Per und sie. Über ihrem ausladenden Bauch trug sie ein schwingendes dunkelblaues Kleid. Aimée kannte sie vom Schwangerenyoga. Vor Lens Geburt hatten sie sich ein paarmal zum Kaffee getroffen und immer viel gelacht.
Deliah kaute und grinste. »Ich hab mir schon mal ein paar von den Lachs-Dingern genehmigt. Einsame Spitze. Übrigens«, sie winkte einen Mann in hellgrauem Hemd heran, »darf ich vorstellen. Marc, mein Mann.«
Marc reichte ihnen die Hand. »Vielen Dank für die Einladung.«
»Sehr gern.« Per legte den Arm um sie. Innerlich zuckte Aimée zurück. Seit Lens Geburt konnte sie seine Berührungen kaum ertragen. Dass er für ihren Sohn nicht hatte kämpfen wollen, hatte etwas zwischen ihnen aufgerissen. Sie konnte nur hoffen, dass sie das irgendwann überwanden.
»Ihr seid mit Getränken versorgt?«, fragte er.
»Alles bestens.« Marc hob sein Glas.
»Wie geht es euch denn?« Sie war wie ausgehungert nach einer normalen Unterhaltung, in der es nicht um all das Schreckliche ging, das Per, Len und sie in den letzten Monaten durchlebt hatten.
»Sehr gut. Wir sollten allerdings so langsam mal mit dem Haus zurande kommen. Da geht’s noch ziemlich drunter und drüber.«
Die beiden waren im Sommer in ein ehemaliges Bauernhaus gezogen, das sie nach und nach renovierten.
»Wie weit seid ihr denn?«
»Wir sind immerhin schon bei der Auswahl der Türklinken angekommen.« Marc lachte.
Im Hintergrund lief irgendetwas Elektronisches mit einem regelmäßigen Beat. Rebekka war so nett und kümmerte sich um die Musik.
»Aber sag, wie geht es Len?« Deliah sah sie ernst an.
»Gut, wirklich sehr gut. Er nimmt sensationell zu. Viel, viel besser als erwartet, zum Glück. Mittlerweile klappt es auch mit dem Stillen richtig gut.«
Als Len im Brutkasten lag, hatte sie einiges für ihre Milchbildung tun müssen. Pumpen, pumpen, pumpen. Als die ersten Tropfen endlich kamen, hatte sie geweint.
»Oh, da bin ich ja so froh.« Deliah umarmte sie gleich noch einmal.
»Wollen wir die Gäste begrüßen?«, fragte Per leise.
Aimée nickte. Sie hatten ausgemacht, dass Per die Ansprache hielt. Sie selbst konnte noch nicht wieder richtig denken.
Er klopfte mit seinem Siegelring ans Glas. Die Gespräche brachen sofort ab, alle im Raum wandten sich ihm zu. Von Anfang an hatte Aimée seine natürliche Autorität bewundert. Wenn andere laut werden mussten, um sich Gehör zu verschaffen, reichten von ihm ein Wort oder eine Geste. Er gab Rebekka ein Zeichen, und die Musik wurde leiser.
Per hob sein Glas. »Wie wunderbar, dass ihr alle gekommen seid!«
Jemand klatschte, alle anderen fielen ein.
Per wartete, bis es wieder ruhig wurde. »Wie ihr wisst, feiern wir heute die Geburt meines Erstgeborenen, Lennart Friedrich, und den dreißigsten Geburtstag meiner hinreißenden Aimée.«
Wieder wurde geklatscht.
Aimée konnte nicht zu ihm hinsehen. Er klang so stolz. Aber wenn er Len auf dem Arm hatte, sah sie den Argwohn in seinem Blick. Als suchte er nach etwas, das seinen Verdacht bestätigte, dass sein Sohn nicht normal war. Sie hoffte, dass er, wenn Len erst größer war, erkannte, wie gut und richtig es war, dass es ihn gab. Aimée trank einen Schluck Wasser. Hoffentlich konnte sie irgendwann vergessen, was er gesagt hatte.
»Lennart verschläft vermutlich die Party …«
Lachen.
»Aber mit Aimée dürft ihr alle gleich anstoßen. Ein paar von euch haben sie noch nicht persönlich kennenlernen können, deshalb möchte ich an dieser Stelle etwas zu dem Wunder sagen, das sie mir ins Haus gespült hat.«
Das Babyfon vor ihr schwieg. Aimée sah zu Per, der so sicher wirkte mit seinem wohldosierten Lächeln und dem maßgeschneiderten schwarzen Anzug. Das Kleid, das er ihr in knisterndem Seidenpapier überreicht hatte, war ihr für eine Feier in den eigenen vier Wänden erst übertrieben vorgekommen, aber Per hatte sie überzeugt, dass es genau richtig war. Jetzt musste sie ihm recht geben. Alle Gäste trugen Kleider und Anzüge aus hochwertigen Stoffen. Alle bis auf Daniel.
»… mit einer Hingabe, die ich noch nie zuvor bei einem Menschen erlebt habe. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als dieses geheimnisvolle Wesen anzusprechen. Und das …«
Wo war er überhaupt?
Unauffällig scannte Aimée den Bereich um den Küchentresen herum, auf dem die Glasplatten mit den Antipasti standen. Ein Mann in weißem Hemd, schwarzer Weste und Fliege zog gerade ein Messer aus dem Block und positionierte Limetten auf einem Holzbrett. Zwei weitere Bedienungen liefen mit Tabletts umher, das hatte Per sich nicht nehmen lassen.
»… aus einem einfachen Holztisch ein Kunstwerk. Sie ist eine …«
Aimée entdeckte Daniel vor dem bodentiefen Fenster. Den harten Zug um seinen Mund erkannte sie sogar von Weitem. Mit einem Mal ärgerte es sie, dass er dieses alte Karohemd trug. Dabei wusste er genau, wann es angebracht war, sich was Schickeres anzuziehen. Bei jeder beschissenen Auktion war er besser gekleidet als an diesem Abend, besser gekämmt und besser rasiert. Er hob eine Bierflasche an den Mund und nahm große Schlucke. Aimée sah weg.
Per verschränkte seine Finger mit ihren. Ihre Hand fühlte sich taub an. »Und jetzt würde ich sagen: Genießt den Abend und lasst uns gemeinsam auf Aimée und Lennart anstoßen.« Er hob sein Glas.
Automatisch hielt auch sie ihr Wasserglas hoch.
Die anderen taten es ihnen gleich, applaudierten, und auch die Musik wurde wieder lauter. Die Bedienungen balancierten Mojitos auf Tabletts, ein paar Leute bewegten sich bereits im Takt.
»Aimée!« Rebekka drückte sich an einer Sechsergruppe vorbei. Ihr Bauch in dem cremefarbenen Kleid war riesig. Aimées eigener Bauch war nie so groß gewesen. Doch mit den nach hinten gesteckten Haaren und der ansonsten schlanken Silhouette sah Rebekka sogar jetzt noch anmutig aus. Manchmal kam Aimée sich ihr gegenüber regelrecht plump vor.
Rebekka schloss sie in die Arme, der große Bauch drückte sich an ihren. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Liebe. Wie geht es dir? Wie geht es Lennart?«
Wie aufs Stichwort kam ein Schrei aus dem Babyfon. Aimée zog es vom Tisch und starrte auf das blinkende Lämpchen. Ihre Brüste spannten.
Per nahm ihr das Gerät behutsam aus der Hand. »Ich sehe mal nach ihm.«
»Danke.« Sie spürte die Erleichterung körperlich, die herauströpfelnde Milch, die sich in ihren Stilleinlagen sammelte. Sie wandte sich an Rebekka. »Gut. Uns geht es gut. Und dir? Es ist doch jetzt bald so weit.«
»In zwei Wochen. Wenn Constanze pünktlich kommt. Wenn nicht, wird sofort eingeleitet. Ich kann es mir nicht leisten, dass sich das Ganze verschiebt. Meine Kunden müssen ja auch planen können.«
»Und was ist mit Gernot?« Gernot war Rebekkas Mann. Sie arbeitete als selbstständige Innenarchitektin, Gernot war Anwalt in einer eigenen Kanzlei.
»Gernot bleibt im Job. Ich gehe sechs Wochen raus und steige dann sukzessive wieder ein. Mit dem Kindermädchen ist die Steigerung meiner Arbeitszeit genau festgelegt, nach vier Monaten bin ich wieder voll dabei. Vier Monate!« Sie nippte an ihrem alkoholfreien Cocktail und verzog das Gesicht. »Das hat auch bald ein Ende. Per hat erzählt, du stillst?«
»Ja.« Aimées Brüste spannten noch immer. Sie sah hinüber zum Fenster. In der Glasscheibe spiegelten sich fremde Köpfe.
»Ich könnte mir nie vorstellen, so angebunden zu sein, und …«, Rebekka senkte die Stimme, »ich möchte meinen Busen behalten, so wie er ist.« Sie lachte auf.
»Ich sehe …« Daniels tiefe Stimme war dicht an ihrem Ohr.
Aimée wich von ihm zurück. Er roch nach Alkohol.
»Du hast interessante Freunde gefunden. Was ist, willst du mich nicht vorstellen?« Er streckte die Hand in Rebekkas Richtung aus.
Aimée spürte, wie Rebekka sich neben ihr aufrichtete.
»Daniel.« Sie hatte selbstbewusst klingen wollen, doch da schlich sich ein flehender Unterton in ihre Stimme.
Ein paar Leute drehten sich zu ihnen um.
Daniel fixierte sie mit einem Grinsen. »Endlich mal was los in der Bude, was?« Er sprach viel zu laut.
Aimée fasste an einen der Stühle. Warum tat er das? Er wusste genau, wie sehr sie es hasste, wenn jemand betrunken war. Dabei konnte sie sich kaum erinnern, dass sie ihn überhaupt jemals in ihrer Gegenwart hatte trinken sehen. Er hatte immer ihren unausgesprochenen Wunsch respektiert.
Aimée heftete ihren Blick auf eine der dunkelroten Amaryllis, die in hohen Vasen im Raum verteilt waren. Bei Per war es etwas anderes, da störte es sie nicht. Er wusste zwar, warum sie selbst keinen Alkohol anrührte, auch wenn sie nicht gerade schwanger war oder stillte. Sie hatte es ihm erzählt, aber er war nicht dabei gewesen; er hatte den ganzen Wahnsinn mit Marilou nicht miterlebt. Sein Glas Wein am Abend hatte nichts mit dem zu tun, was sie all die Jahre durchgemacht hatte. Aber wenn Daniel trank, dann hatte das sehr wohl etwas mit ihr zu tun. Und das wusste er, verdammt.
»Ist das wirklich dein Ernst?« Er trat noch dichter an Aimée heran.
»Was?«
»Alles. Das Haus, die Leute. Dieses Kleid.«
»Natürlich.« Ihre Stimme wurde genauso hart wie seine. »Das ist mein Leben.«
»Ach ja? Und was war das vorher?«
»Ich glaube, du gehst jetzt besser.«
»Und wenn nicht?«
»Daniel, ich lass mir das von dir nicht kaputtmachen. Mein Sohn hat ein Recht auf dieses Leben.«
Alle im Raum sahen sie an. Niemand sagte etwas.
Daniel hustete. »Das bist doch nicht du, Aimée.« Jetzt senkte er wenigstens die Stimme.
»Was ist hier los?« Per stand in der Tür. Er hatte Len auf dem Arm. Lens Augen waren weit geöffnet, Pers hinter der schwarzen Brille wurden schmal. Offensichtlich versuchte er, die Situation zu erfassen. Er reichte ihr Len, wandte sich um und packte Daniel am Arm. Ohne große Anstrengung machte der sich los und trat einen Schritt zur Seite.
»Daniel, bitte geh«, sagte sie leise.
Er zögerte kurz, als ob er etwas erwidern wollte, aber dann sagte er nur: »Schönen Abend noch«, und verschwand im Flur.
Sie hörte noch seine Schritte im Foyer und einen Moment später die Haustür, die ins Schloss fiel.