GLÜCKSKLEE

Jahrelang hatte sie auf der Wiese zwischen den Bauwagen nach einem vierblättrigen Kleeblatt gesucht. Und dann fiel es ihr einfach zu, buchstäblich in die Hände, als sie im Sommer unter den Buchen picknickte. Da lag es plötzlich auf ihrer Decke, direkt neben ihrem kleinen Finger. Vorsichtig presste sie das Blatt in einem dicken Buch und legte es anschließend zwischen Glas. Sie wusste, das Glück brauchte einen Rahmen.

März 2019

Die großen Silberbleche mit den knusprigen Teigtaschen lachten Aimée durch die Schaufensterscheibe hindurch an. Sie musste Len unbedingt eine mitbringen, nachher, wenn ihre eigentliche Mission erfüllt war. Und für Daniel würde sie auch eine besorgen. Ein kleiner Beitrag zum Frieden. Vorhin waren Len und er mit Ferngläsern und einem Werkzeugkasten ins Gebüsch hinter dem Zeltplatz geschlichen. Daniel hatte ihr gesagt, sie könne sich Zeit lassen. Sie hatte ihnen nachrufen wollen, worauf sie achtgeben sollten, was in einem Notfall zu tun sei, aber dann hatte sie gemerkt, dass es nur ein Reflex war. Ihre Brust war erstaunlich weit geblieben.

Entschlossen trat Aimée durch die Tür unter der roten Markise. Vor ihr im Laden von Pengenna Pasties stand eine Frau, die am Tresen ihre Bestellung aufgab. Pünktlich zum Frühlingsanfang trug sie Flipflops und Shorts mit Blumenprint, als wollte sie mit aller Kraft das passende Wetter zum Datum heraufbeschwören. Dabei war es noch ziemlich kühl draußen. Sonnig, aber kühl. Aimée zog ihren Schal ab und wartete, bis die Frau bezahlt und ihre Papiertüte in Empfang genommen hatte, dann trat sie selbst an den Tresen.

Ein junger Mann in weißer Bäckerkluft sah sie freundlich an. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Aimée Thaler. Ich bin auf der Suche nach einem Job.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Brauchen Sie hier im Laden vielleicht noch jemanden?«

Für den Anfang gab es eindeutig Schlechteres, als in den Duft all dieser wunderbaren Backwaren einzutauchen. Pfefferkuchenmänner lagen da, im März!

»Oh«, der Mann rückte an seiner weißen Kappe, »wir sind voll besetzt. Tut mir leid. Aber kommen Sie doch gerne kurz vor Ostern wieder. Da kann es schon ganz anders aussehen.«

»Okay, vielen Dank.« Aimée lächelte tapfer weiter, aber innerlich stöhnte sie auf. In sieben Läden hatte sie bereits gefragt – zwei Eisdielen, ein Andenken- und Postkartenladen, in zwei der hübschen Cafés am Hafen, in der Waterside und in der Whistlefish Gallery – und siebenmal hatte sie die gleiche Antwort erhalten: vielleicht später, wenn die Touristensaison begann. Aber Ostern lag spät in diesem Jahr, erst Ende April, bis dahin reichte ihr Geld auf keinen Fall.

Aimée trat auf die schattige Straße hinaus. Jetzt bloß nicht stehen bleiben. Sie hatte einen Plan. Schritt eins: Sie musste Arbeit finden. Dann eine Wohnung. Wenn alle Stricke rissen, könnte sie immer noch Marilou um Geld bitten, die würde es ihr mit Kusshand geben. Aber das fühlte sich an wie ein Rückschritt. Nein, sie musste es alleine schaffen. Aimée schlang sich den Schal wieder um den Hals und schaute sich um. Sie brauchte einen Laden, eine Branche, die unabhängig von der Saison funktionierte. Kurzerhand folgte sie der Straße und bog in den Tregenna Place ein. Zu ihrer Linken lag ein Supermarkt.

Aimée straffte die Schultern, als sie durch die offen stehende Tür trat. Das Licht im Laden hatte etwas Grünliches, es roch steril und nach Plastik. Nur ein Anfang, dachte sie, eine Basis, von der aus sie mit etwas mehr Ruhe weitersuchen konnte.

Es war wenig los an diesem Vormittag. Die Gänge und Kassen waren leer, eine Frau in grauem Fleece mit Coop-Logo sortierte abgepackte Bananen ins Kühlregal.

»Entschuldigung. Mein Name ist Aimée Thaler.«

Die Frau sortierte weiter, ohne aufzusehen.

Aimée hasste es, wenn Menschen so waren. Zum Ausgleich legte sie extra viel Wärme in ihre Stimme. »Ich wollte mich erkundigen, ob Sie noch Mitarbeiter suchen.«

Die Frau lachte auf. »Wir können froh sein, wenn wir unseren Job behalten.«

»Das heißt Nein?«

Jetzt endlich blickte die Frau auf. »My love, es ist keine gute Zeit. Wir hatten schon ein paar betriebsbedingte Kündigungen. Ich wünsch dir woanders mehr Glück.« Stoisch packte sie weiter Bananen aus großen Kisten in kleine.

Unzählige Absagen später, dazu ein Blick ins Schaufenster des Immobilienmaklers, der auch Mietwohnungen im Angebot hatte, und Aimées Laune war im Keller. Oh ja, bei Oxfam, da hätte man sie haben wollen. Bei der Wohltätigkeitsorganisation hätte sie gespendete Klamotten und zerlesene Taschenbücher verkaufen können. Ehrenamtlich. Sie warf ein paar Münzen in den Koffer eines Gitarrenspielers, der in der kühlen Frühlingssonne vor schaukelnden Fischerbooten und tief fliegenden Möwen Blowin’ in the Wind spielte. Der konnte wenigstens mit seiner Musik Geld verdienen. Und sie? Was konnte sie?

Aimée lief am Hafenbecken entlang. Damals auf dem Trödelmarkt, da hatte sie alten Möbelstücken etwas von dem Glanz vergangener Zeiten zurückgegeben, auch dann noch, wenn andere sie längst abgeschrieben hatten. Und während der drei Semester an der Uni hatte ihre Professorin ihr Talent erkannt und sie gezielt gefördert. Sogar in den ersten Jahren mit Per war sie noch von diesem Gefühl getragen worden, dass sie etwas gut konnte.

Aimée war den kleinen Hügel vom Hafen hochgelaufen, ohne es richtig zu merken. Jetzt stand sie vor der hellblauen Flügeltür zu Erin and Arthur’s – Art and Antiques. Ihr wurde heiß. Arthur hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass er keine Hilfe brauchte. Sie wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als ihr Blick auf einen kleinen Tisch fiel. Er lag an der Wand neben dem Eingang, achtlos auf die Seite gekippt wie Sperrmüll. Aimée stellte ihn auf, sie konnte nicht anders. Es war ein viktorianischer Kleeblatttisch. Wegen der vierblättrigen Form seiner Platte hieß er so. Das dunkle Palisanderfurnier war an einigen Stellen herausgebrochen, an anderen war es durch Unachtsamkeit so dünn geschliffen worden, dass das billige Blindholz durchschimmerte. Es war ein schöner Tisch, und es kribbelte Aimée in den Fingern.

»Hi.«

Rasch drehte sie sich um.

Die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren stand hinter ihr. Erin. Sie trug eine Lederjacke und ein wild gemustertes Tuch. In der Hand hatte sie eine Papiertüte mit dem braunen Schriftzug von Pengenna Pasties.

»Schönes Stück, was?« Erin nickte in Richtung Tisch und zog einen der Türflügel auf. Das Glöckchen bimmelte leise. »Leider ein hoffnungsloser Fall. Du siehst es ja selbst.«

In Aimées Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie könnte schweigen und sich anschließend ärgern, weil sie niemals erfahren würde, ob das hier eine echte Chance gewesen wäre. »Ich glaube, da ließe sich noch etwas machen.«

Erins braune Augen hatten etwas sehr Aufmerksames. Eine Brille trug sie heute nicht. Sie blickte Aimée nur an und sagte nichts weiter. Schließlich klemmte sie sich die Papiertüte unter den Arm, nahm das Tischchen und trug es mit seinen konischen Beinen voran in den Laden. »Komm mit.«

Der Laden sah aus wie bei Aimées erstem Besuch vor einer Woche: links Erins Textilkunst und das grün schillernde Kleid, rechts die Antiquitäten ihres Vaters. Sie erkannte die halbmondförmige Eibenkonsole, die Arthur beim letzten Mal poliert hatte. Ein weißer Zettel lag darauf: Verkauft.

»Du kannst alles benutzen, was du findest. Dahinten«, Erin wies auf eine angelehnte Tür, »ist das Lager. Da kannst du auch wühlen. Übrigens, Arthur kommt heute nicht mehr rein.« Bei den letzten Worten senkte sie die Stimme, und es fühlte sich so an, als wären sie Komplizinnen.

Aimée lächelte. »Alles klar.«

Erin streifte die Lederjacke ab und setzte sich an den kleinen Tisch, der zwischen Küchennische und Holzofen stand. Wie beim letzten Mal trug sie ein weites Herrenhemd. »Und wenn du Hunger hast«, sie nahm die Pasty aus der Tüte, »die Dinger sind enorm.«

Aimée legte Jacke und Schal auf der Eichentruhe ab. Okay, als Erstes brauchte sie breites, durchsichtiges Klebeband und einen wasserfesten Stift. Sie hob ein paar Pinsel vom Boden auf. Arthurs Bereich war noch unordentlicher, als sie ihn in Erinnerung hatte. Es ließ sich kaum ausmachen, welche Stücke in Bearbeitung waren und welche zum Verkauf standen. Alles war Ablage für alles. Unter einem Stuhl fand sie schließlich ein Klebeband und zwischen Streifen von Schmirgelpapier einen Stift. Jetzt kam es darauf an, dass sie zeigte, was sie konnte.

Aimée beugte sich über das größte Loch im Furnier, das ziemlich genau in der Mitte des Kleeblatts lag. Es hatte unschöne, zackige Ränder und maß gut acht mal zehn Zentimeter. Sie schnitt sich zwei Stücke von dem Klebeband zurecht, legte sie überlappend auf das fehlende Stück Furnier und drückte sie vorsichtig an. Ihre Hände waren feucht.

»Du hast deinen Sohn heute nicht mitgebracht.« Erin biss von der Teigtasche ab.

»Len ist bei … einem Freund.« Es tat gut, es auszusprechen. Daniel war ein Freund.

Mit dem Stift fuhr Aimée die Umrandung der fehlenden Stelle auf dem Klebeband nach und gab an allen Seiten einen halben Zentimeter Puffer hinzu.

»Er ist der Groundsman oben auf dem Zeltplatz.«

Len und Daniel waren schon mehrere Stunden zusammen, und noch immer regte sich nichts in ihrer Brust. Nicht das leiseste Flattern, kein Hauch von Enge.

»Ah, okay. Ellie ist in der Schule.«

»Wirklich?« Aimée sah auf.

Erin steckte die halbe Pasty zurück in die Tüte.

»Irgendwie dachte ich, sie wäre jünger als Len.«

Die kleine grau-weiße Katze kam aus dem Lager und strich ihr um die Beine. Aimée hockte sich hin und streichelte das Kätzchen. Cloud.

»Ellie ist fünf. Fünfeinhalb.«

»Dann geht sie schon zur Schule?«

Erin lachte. »Bei uns beginnt die Grundschule mit fünf.« Sie stand auf und wusch sich die Hände. »Wenn du willst, frag ich mal nach, ob sie Len mitten im Schuljahr aufnehmen. Helen, Ellies Lehrerin, ist großartig. Da lässt sich sicher was machen.«

»Also, das wäre …« Aimée suchte nach Worten, die ausdrücken konnten, was sie fühlte. Sie war dankbar und gerührt, aber sie hatte auch Angst. Die Reihenfolge in ihrem Kopf war eine andere gewesen: Job, Wohnung … Weiter hatte sie nicht gedacht. Aber ja, so war es richtig. Lens Betreuung musste gesichert sein, bevor sie ernsthaft in einem Job anfing. Sie konnte ihn schließlich nicht immer bei Daniel lassen.

Aimée legte den Stift ab. »Das wäre unheimlich nett.«

Erin nickte und ließ Wasser in den schwarzen Kessel laufen. »Tee?«

»Gerne.« Aimée bahnte sich einen Weg durch Arthurs Antiquitäten. »Ich bin mal kurz im Lager.« Sie schlüpfte durch den Türspalt und fand sich in einem großen Raum wieder, der von einer nackten Glühbirne beleuchtet wurde.

Augenblicklich nahm sie alles zurück, was sie über Arthurs Teil des Ladens gedacht hatte. Tadellos war sein Bereich draußen, vortrefflich aufgeräumt. Das echte Chaos lag hier, vor ihr.

Zahllose Möbelstücke waren so eng aufeinandergestapelt, als hätte jemand jede noch so kleine Lücke im Raum füllen wollen. Alles war kreuz und quer ineinander verkeilt, Stühle, Sessel, Hocker, Schränke, Hängeregale, Zeitungsständer, einzelne Schubladen und jede Menge Tischbeine. Obwohl es kein Fenster gab, nur eine zweite Tür am anderen Ende des Raumes, war die Luft im Lager nicht abgestanden. Es roch schlicht nach Holz. Wühlen, hatte Erin gesagt. Von wegen. Hier half nur noch Klettern.

Aimée stieg auf einen wackligen Schaukelstuhl und von dort weiter auf eine schwere Eichenkommode. Neben ihrem Fuß lag eine Armbanduhr mit einem brüchigen braunen Lederband und eine angebrochene, übergroße Tafel Schokolade. Nuss. Sie stellte sich Arthur vor, wie er hier heimlich Süßes naschte, und ließ ihren Blick über die Antiquitäten gleiten, über einen Biedermeier-Schachtisch und eine alte gusseiserne Nähmaschine. Wie sollte sie hier um alles in der Welt Furnier finden? Noch dazu Palisander im richtigen Farbton. Was gäbe sie darum, in diesem Raum ein, zwei Wochen lang klar Schiff machen zu dürfen. Hier lagerten Schätze, und sie war eine ziemlich gute Schatzgräberin. Zuerst würde sie einen Pfad durch das Chaos schaffen und sich dann jedes Teil einzeln vornehmen.

Sie stieg auf einen Tisch, als sie links einen Weichholzschrank ohne Tür entdeckte. Das waren doch Furniere, die da im Schrank standen! Sie stieg über eine Bank und schob zwei filigrane Nachttische beiseite. Ein ganzer Stoß stand da, hochwertige Echtholzfurniere in allen Farben und Größen. Da war er schon, der Schatz, nach dem sie gesucht hatte. Sie griff sich den ganzen Packen, schleppte und balancierte ihn zurück in den Laden.

Erin bügelte. »Du bist fündig geworden.« Sie trug wieder ihre runde Brille. Der alte Eisenofen in ihrem Rücken bullerte.

»Jetzt muss nur noch der richtige Ton und die richtige Streifung dabei sein.« Aimée legte das Furnier auf den Boden, und noch während sie es ablegte, sah sie ein großes Stück aus dunklem Palisanderholz, dessen Ton ganz leicht ins Violette changierte. Sie zog es heraus und hielt es an die Kleeblattplatte des kleinen Tisches. Die Maserung mit ihren leicht verwaschenen Kurven passte nahezu perfekt. »Bingo!«

Erin lächelte und tippte dabei das Bügeleisen in schnellen Abständen auf ein kleines Stoffstück. Es sah aus, als würde sie mit dem Eisen Tupfen aufmalen.

Aimée hielt das neue Furnier an die Tischplatte und legte die perfekte Stelle zum Ausschneiden fest. Ein Messer fand sie auf Arthurs Werkbank, ein Schnitzmesser, mit dem sie eh besser arbeiten konnte als mit einem herkömmlichen Skalpell.

»Der Tee auf dem Tisch ist deiner.«

»Danke.« Der Tee war hellbraun, Erin hatte schon Milch hineingetan. Aimée nahm einen großen Schluck.

Sie arbeitete sehr konzentriert, und in kürzester Zeit hatte sie ein Stück Palisanderfurnier in der passenden ovalen Größe vor sich liegen. Erin war in ihrem Teil des Ladens ebenso aufmerksam bei der Sache. In breiten Streifen fiel die Sonne durch das Glas der Flügeltür. Aimée konnte sich keinen Ort vorstellen, an dem sie in diesem Augenblick lieber gewesen wäre.

Das Bügeleisen stieß lautstark Dampfwolken aus. Ein seltsam stechender Geruch stieg ihr in die Nase.

»Was machst du da eigentlich?« Aimée beendete ihre Schneidearbeit, zog die Klebestreifen vom Holz und trat zu Erin heran. »Ist das eine Tüte?« Sie besah sich das kleine, halb geschmolzene Ding auf dem Bügelbrett genauer. Es war eine Tüte. Jetzt war ihr auch klar, was hier so komisch roch. Erin bügelte Plastik.

Erin stellte das Eisen auf die metallene Ablage. »Um genau zu sein: eine Coop-Tüte. Eine von den dünnen Dingern, die man an den Kassen hinterhergeschmissen bekommt. Weißt du, ich experimentiere gerade mit Stoffen, die normalerweise weggeworfen werden.« Erin deutete auf das Bild einer Möwe, das an einem Granitvorsprung hing. »Dafür habe ich Plastiktüten und einen schwarzen Müllsack in Streifen geschnitten und übereinandergelegt, dann kurz drübergebügelt, anschließend an den passenden Stellen mit der Maschine Zickzacknähte gesetzt. Cloud, runter da!« Sie scheuchte die Katze vom Bügelbrett. »Na wunderbar.« Erin strich die gerade gebügelte Tüte glatt. Die Krallen des Kätzchens hatten deutliche Risse hinterlassen. Sie hielt die Tüte hoch und besah sie sich im Licht. »Eigentlich gar nicht so schlecht. Daraus könnte man …« Sie drehte die Tüte hin und her. »Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten.« Erin sah sich nach der Katze um, die auf den warmen Dielen vor dem Ofen kauerte. »Vielen Dank, Cloudy.«

Dass es hier jetzt eine kleine Wolke gab, rührte Aimée ans Herz. Sie trank noch einen Schluck Tee und entdeckte dabei unter der Werkbank eine Warmhalteplatte mit einem gusseisernen Töpfchen voll Hasenleim. Unwillkürlich musste sie lächeln. So unterschiedlich arbeiteten Arthur und sie gar nicht. Aimée schaltete die Platte an.

»Wie alt ist denn dein Vater?«

Erin legte eine neue Plastiktüte auf das Bügelbrett. »Er ist letzten Herbst siebzig geworden. Eigentlich sollte er längst nicht mehr arbeiten.« Sie tupfte mit dem Bügeleisen auf der Tüte herum. »Er hat Arthrose, in den Händen und Fingergelenken, und oft Schmerzen, wenn er arbeitet. Aber er will partout nicht mit dem Restaurieren aufhören. Manchmal ist er mehr Stunden in der Woche hier als ich.« Auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte. »Ich wünschte, er würde es nicht als Scheitern sehen, wenn er jetzt aufhört. Ich meine, bei einem Angestellten würde sich die Frage gar nicht stellen.«

Aimée nahm einen Pinsel von der Werkbank. Das hier war Arthurs Lebenswerk, der Laden, die Werkstatt und all die Möbel, denen er mit seinen eigenen Händen neues Leben eingehaucht hatte. Es war nicht leicht, so etwas aufzugeben. Sie drehte den Pinsel zwischen den Fingern. Neben der Eingangstür schillerte das Grün des Kleides im Sonnenlicht.

Sie tauchte den Pinsel in das Töpfchen auf der Platte und verteilte den warmen Leim großzügig auf dem Blindholz und auf der Unterseite des neuen Furnierstücks. Dann setzte sie das Furnier ein, tupfte den überschüssigen Klebstoff mit dem feuchten Tuch ab und drückte einen Furnierhammer auf die Stelle.

Erin zog den Stecker des Bügeleisens aus der Steckdose. »Bist du fertig?«

»Na ja, mit einem Stück.«

Erin kam zu ihr hinüber, und Aimée nahm den Hammer beiseite.

Erin kniff die Augen zusammen, ging um die Tischplatte herum und betrachtete sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Schließlich nahm sie die Brille ab. »Gib’s zu, da war nie ein Loch.« Sie grinste. »Sag schon, wie hast du das gemacht?«

Doch bevor Aimée antworten konnte, wurde die hellblaue Tür aufgezogen, und ein Schwall kühler Luft drang in den Laden. Das Glöckchen bimmelte, und Arthur kam herein. Seine weißen Haare lagen in besonders ausladenden Wellen.

Erin ging auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich dachte, du wolltest heute mal zu Hause bleiben.«

»Ich brauche einen Hobel.«

Erin zog eine Augenbraue hoch. »Möchtest du Tee?« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie in die Küchennische und holte einen weiteren Becher aus dem Regal.

Aimée legte den Furnierhammer leise auf die Werkbank.

»Das ist übrigens Aimée.« Erin goss Milch in den Becher. »Ihr habt euch ja schon kennengelernt.«

Arthur wischte sich die rechte Hand an seinem Cordanzug ab und reichte sie ihr. Seine Fingergelenke waren verdickt, Wärme pulsierte darin. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sich freute, sie hier zu sehen. Wortlos nahm er den Becher entgegen, den Erin ihm reichte. Das passierte völlig beiläufig – die Tochter kochte Tee, der Vater nahm den Becher. Leise Gitarrenmusik zog durch das gekippte Fenster herein. Aimée musste sich abwenden.

»Was haben wir denn hier?« Arthur trat an den Kleeblatttisch heran. »Den hatte ich doch rausgestellt. Erin, wenn ich etwas vor die Tür stelle, heißt das, dass …« Er brach ab. Ähnlich wie Erin kniff er die Augen über der schmalen Nase zusammen und wanderte um den Tisch herum. Als er wieder aufblickte, hing ihm eine Haarsträhne vor den Augen.

»Nicht schlecht, oder?« Erin strich ihm über den Rücken.

»Was …«

»Du erinnerst dich? Aimée war vor Kurzem schon mal hier. Sie ist Restauratorin. Und offenbar eine ziemlich begnadete.« Erins Stimme klang fröhlich und unbeschwert.

Jetzt sah Arthur sie an. Seine braunen Augen waren sehr starr. Unter seinem Blick kam Aimée sich vor wie ein Prüfling.

Schließlich räusperte er sich. »Hier – arbeite – ich.« Seine Stimme klang belegt, aber fest. Damit wandte er sich ab.

Aimée wickelte sich den Schal um den Hals. Sie hatte sich eingebildet, das hier wäre eine Chance. Eine, die nur darauf gewartet hatte, dass sie, Aimée Thaler, sie ergriff.

Arthur kramte in einer der Kisten hinten bei der Werkbank.

»Sorry, Erin«, sagte sie leise. »Ich wollte dir keinen Ärger machen.«

Erin fasste sie am Arm. »Ich bitte dich. Also …«, sie atmete hörbar aus, »ich frag jetzt erst mal Helen wegen einem Platz in Ellies Klasse, okay?«

Aimée nickte. »Okay.« Zu Begeisterungsstürmen war sie gerade nicht in der Lage.

»Deine Nummer hab ich.«

Aimée zog ihre Jacke an. Die Truhe sah wirklich aus wie die, auf der sie als Mädchen immer gesessen hatte. Massive Eiche, der gleiche braungräuliche Ton, kantig, allerdings ohne Namensschnitzerei, wobei man den Schriftzug bei ihrer Truhe ja auch nicht mehr hatte lesen können. Ihre Truhe hatte im Deckel einen Spiegel gehabt.

Im Hinausgehen warf Aimée einen letzten Blick auf die schimmernden, ordentlich gebügelten Stoffe und die glänzenden, kreuz und quer stehenden Antiquitäten, zwischen denen sie sich für einen flüchtigen Moment zu Hause gefühlt hatte.

Keine zehn Minuten hatte sie vom Hafen hoch zum Zeltplatz gebraucht. Jetzt blieb sie stehen, stellte die Tüte mit den Pastys in den Schotter und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Langsam kam sie wieder zu Atem. Sie war noch einmal bei Pengenna gewesen und hatte eingekauft. Jetzt erst recht. Wenn sie sich dem Gefühl hingeben würde, das sie beim Verlassen von Erin and Arthur’s gehabt hatte, konnte sie ihre Jobsuche gleich vergessen.

Schritte näherten sich im Kies, Aimée richtete sich auf. Zoe stand mit dem Rücken zu ihr an dem dunkelgrünen Pick-up.

Aimée griff nach der Tüte und ging auf sie zu. »Zoe, hallo.«

Sie drehte sich um. »Aimée. Hi.« Zoe schaute sie gar nicht richtig an. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst, ihre Augen gerötet. Sie zog die Fahrertür auf.

»Alles klar?«, fragte Aimée. Sie war nicht neugierig, aber wenn es jemandem nicht gut ging, hatte sie sofort das Gefühl, etwas tun zu müssen.

Neben ihnen kam ein Paar aus dem Waschhaus. Feuchte Waschmaschinenluft hüllte sie für einen Moment ein.

»Ja.« Zoe setzte sich in den Wagen.

»Okay. Dann …«

Aber Zoe hatte die Tür schon zugezogen. Der Motor sprang an, und der Pick-up setzte sich in Bewegung. Als der Wagen aus der Einfahrt fuhr, sah Aimée, dass auf der Ladefläche mehrere Koffer und große Kartons standen. Das war kein Reisegepäck. Eher sah es so aus, als würde jemand umziehen. Zoe? Zog sie aus? Aus dem Cottage? Wahrscheinlich transportierte sie nur Sachen für eine Freundin, die umzog. Okay, jetzt war sie doch neugierig.

Sie schlug den Weg zum Bulli ein. Das Gras unter ihren Füßen war so leuchtend grün, als wären hier in den letzten paar Stunden Farbbeutel explodiert. Sie legte die Tüte mit den Pastys auf einen der Holztische, die dicht an der Weide standen, und setzte sich. Die Tischplatte war von einer feinen Salzschicht überzogen. Appetit hatte sie keinen. Dabei müsste sie eigentlich riesigen Hunger haben, sie hatte nur gefrühstückt, und das war schon ziemlich lange her.

Hinten auf der großen Wiese werkelten Len und Daniel zwischen einer Gruppe Zelten an irgendetwas. Das war gut, aber alles andere war nicht gut. Überhaupt nicht.

Aimée schob mit dem Fingernagel etwas Salz von der Platte. Sie hatte immer noch keinen Job und auch keine zündende Idee, wo sie einen finden sollte. Und der Laden ging ihr nicht aus dem Kopf. Dass Arthur ihr zum zweiten Mal eine Abfuhr erteilt hatte, war schrecklich gewesen. Sie durfte gar nicht daran denken. Von allem anderen ganz zu schweigen. Und der Bus sprang nicht mehr an.

Das Meer unten zwischen den Felsen war ruhig, die Wellen am Porthmeor Beach bildeten nicht mehr als ein flaches Weiß über dem Blau. Nur wenige Menschen spazierten am Strand, dunkle Pünktchen auf dem goldenen Braun. Len kam über die Wiese gerannt, er winkte ihr zu. Lennas Zöpfe schwangen unter seinem Kinn. Außer Atem kam er bei ihr an.

»Wir haben drei neue Holzbalken an den Zaun geschraubt. Drei! Die alten waren alle morsch.« Er wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Also, erst mussten wir die alten abbauen und wegtragen und dann haben wir die neuen in die richtige Länge gesägt. Daniel hat eine Kreissäge!«

»Eine grüne?« Sie erinnerte sich, wie er ihr damals gezeigt hatte, wie die Säge funktionierte. An das hohe, scharfe Geräusch hatte sie sich schnell gewöhnt.

»Nee, die ist blau.« Len ließ sich neben ihr auf die Bank fallen. »Pastys! Ich sterbe vor Hunger!« Er zog sich eine aus der Tüte.

Aimée lehnte sich an die Tischplatte. Sie sollte nicht so viel nachdenken, sondern lieber auch etwas essen. Sie nahm sich ebenfalls eine Pasty aus der Tüte und biss hinein. Der Mürbeteig war buttrig, die Cheddar-Zwiebel-Füllung pikant und sogar noch warm. Köstlich.

»Ich liebe Pastys!« Herzhaft biss Len zu.

Die Pferde auf der Weide streckten ihre Köpfe über den Zaun, ihre Nüstern blähten sich beim Schnuppern.

»Darf ich denen was geben?« Len riss schon ein Stück von seiner Teigtasche ab.

»Lieber nicht. Ich glaube, von Käse und Zwiebeln wird ihnen schlecht.«

»Aber dann hol ich gleich Äpfel aus dem Bulli, okay?«

»Na klar.« Sie könnte Len davon erzählen, dass Erin für ihn bei Ellies Lehrerin nachfragen wollte, aber dann entschied sie, lieber zu warten. Sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen.

Daniel kam über den Kiesweg auf sie zu. Er trug einen dicken dunklen Pulli über der Jeans, der seine breiten Schultern betonte.

»Bin gleich fertig!«, rief Len. Er kaute schneller.

»Hey.« Daniel hielt eine Kreissäge in der Hand, die viel kleiner war als die grüne, die Aimée in Erinnerung hatte.

»Hey.« Sie rückte auf der Bank zur Seite. »Möchtest du eine Pasty?«

Daniel zögerte. Dann sagte er: »Gern«, stellte das Werkzeug ab und setzte sich zu ihnen. »Und? Warst du erfolgreich?«

Sie hatte ihm erzählt, warum sie heute Morgen ohne Len losgezogen war. Sie schob die Tüte mit den Pastys zu ihm hinüber. »Leider nein. Die meisten Läden brauchen erst ab Ostern jemanden.« Wenn überhaupt. Das schluckte sie hinunter.

Daniel nickte und zog sich die letzte Teigtasche aus der Tüte. »Wir können auch noch mal zusammen überlegen.« Er sah sie kurz an. »Und du kannst Len gerne wieder bei mir lassen, wenn du weitersuchst. Ich kann seine Hilfe hier sehr gut gebrauchen.« Jetzt schenkte er ihr einen festen Blick.

Unter ihr im Gras wuchsen zarte Gänseblümchen. Es war lange her, dass jemand sie unterstützt hatte. Klar, Per hatte alles bezahlt, aber es fühlte sich anders an, wenn jemand mitdachte und ihr den Rücken stärkte. Wenn jemand gerne mit Len zusammen war.

»Daniel und ich haben Holz gehackt.« Len hatte den dicken Teigrand aufbewahrt und legte ihn sich ums Handgelenk.

Die Pasty in ihrer Hand war abgekühlt. Sie aß weiter.

»Für die Feuertonnen. Ich hab dreiundsiebzig Baumstämme zerhackt. Alleine!«

Lächelnd fuhr Aimée ihm durchs Haar. »Mindestens dreiundsiebzig.«

Die Sonne stand tief, das Licht legte sich sanft über all das sprießende Grün auf dem Campingplatz. Irgendwo hämmerte ein Specht.

»Sag mal, Daniel, ich hab gerade Zoe getroffen. Sie sah ziemlich … mitgenommen aus.« Sie musste jetzt einfach mal offensiv sein, sonst würden sie auch in drei Jahren noch übers Wetter sprechen.

Daniel ließ seine Pasty sinken. Eine Wollmasche stand aus seinem Pullover heraus. »Wir hatten Streit. Einen ziemlich heftigen. Mal wieder.« Er legte die Pasty auf den Tisch. »Zoe ist ausgezogen.«

»Oh, okay.« Unwillkürlich sah sie zum Cottage hinauf. Von diesem Platz aus war das Haus nicht viel mehr als ein granitener Schatten hinter alten Bäumen. Nur der Dachstuhl mit den Gauben lag frei. Seit sie hier war, hatte sie ein paarmal versucht, sich das Innere des Hauses vorzustellen, aber es war ihr nicht gelungen. Immer war Zoe in ihren Gedanken aufgetaucht, hatte am Küchentisch gesessen oder wie zur Begrüßung in der Haustür gestanden. Die Gaubenfenster standen heute weit offen. »Daniel, das …«

»Nicht zum ersten Mal übrigens.« Er klopfte ein paarmal auf die Tischplatte. »Wahrscheinlich nennt man das On-Off-Beziehung.«

Sie dachte an die Umarmung, die sie nach Barbaras Beerdigung beobachtet hatte. Zoe hatte Daniel über den Rücken gestrichen, und er hatte losgelassen, so richtig. Der Schecke vor ihnen steckte seinen Kopf in die Tränke, die eigentlich eine alte Badewanne war.

»Len, hol doch mal die Äpfel für die Pferde«, sagte Aimée.

»Wird gemacht!« Len rannte davon.

Am liebsten hätte sie Daniel Warum? gefragt, aber darauf gab es sicher keine einfache Antwort.

»Von mir aus müsste das nicht so sein.« Irgendwo klopfte wieder der Specht, und jetzt sah Aimée, dass auch Daniel Ringe unter den Augen hatte. »Zoe geht es nicht sonderlich gut. Generell nicht.« Sein Blick heftete sich auf einen weißen Fleck auf der Tischplatte, kristallisiertes Salz. »Sie … mag sich selbst nicht besonders. Das lässt sich alles erklären, woher das kommt, aber das hilft uns auch nicht. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr weiter. Ich hab alles probiert. Alles.« Er atmete tief durch. »Ich kann ihr nicht helfen.«

Aimée legte die Hand auf seinen Arm. »Es tut mir so leid.«

Sie meinte das ernst. Für Zoe tat es ihr leid, natürlich, aber besonders für Daniel. Es war ihr wichtig, dass es ihm gut ging. Wie oft hatte Daniel Barbara damals in der Kommune eine Decke über die Schulter gelegt. Unzählige Male. Jetzt saß er allein in ihrem Haus.

Len kam mit Äpfeln und Karotten aus dem Bulli. »Mama, ist Oma da?«

Aimée sah hinüber zum Wohnmobil. Der untere Teil war mit Schlammspritzern übersät. Es war leer. Sie konnte niemandem erklären, wie sie das dem Wagen von außen ansah, aber sie wusste, Marilou war nicht da.

»Ich glaube nicht.«

»Ich kann ja mal bei ihr klopfen.« Len lief mit den Karotten und Äpfeln zum Wohnmobil.

»Weißt du, wann sie fährt?« Daniels Stimme klang sehr müde.

Aimée nahm die Hand von seinem Arm. »Keine Ahnung.«

Er biss von der Pasty ab. Die Muskeln seiner Wangen traten beim Kauen hervor. Er konnte Marilou noch weniger ertragen als sie. Ein Jahr, nachdem das mit seinem Vater und Marilou passiert war, hatte Edgar seine Familie verlassen. Er hatte irgendeine andere Frau kennengelernt und war mit ihr abgehauen. Es hatte nichts mehr mit Marilou zu tun gehabt, aber für Daniel hatte die Trennung seiner Eltern in jener Rosenmontagsnacht ihren Anfang genommen. Seither hatte er keinen Vater mehr gehabt, und er machte Marilou dafür verantwortlich. Aimée verstand ihn nur zu gut.

Len kam von der anderen Seite der Ulme zurück, die Hände noch immer voll bepackt. »Keiner da.«

»Ich möchte, dass sie in drei Tagen weg ist.«

»Wer?« Eine Möhre fiel Len aus der Hand. Er bückte sich und ließ gleich alles andere fallen.

Ein leichter Wind wehte vom Meer herüber. Aimée legte die Hand auf die leere Papiertüte vor ihr. »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Sag ihr, dass sie fahren soll.«

»Warum ich?«

»Sie ist deine Mutter.«

»Oma?«, fragte Len.

»Ja und? Sie zahlt ganz normal für den Campingplatz. Du bist es, der möchte, dass sie wieder fährt.«

»Und du willst, dass sie bleibt? Tatsächlich?« Daniel stützte die Hände auf den Tisch.

Jetzt waren sie also wieder zu diesem Thema abgebogen. Natürlich wollte sie Marilou nicht hier in ihrem neuen Leben haben. Sie wollte nichts mit ihrem Trinken zu tun haben, sie wollte nicht alles immer so hindrehen müssen, dass Len nichts von den Spannungen zwischen seiner Mutter und seiner Oma mitbekam. Aimée blickte zu der schwefelgelben Tür des Wohnmobils hinüber. An einigen Stellen blätterte die Farbe ab, darunter kam Braun zum Vorschein.

»Natürlich will Mama, dass Oma bleibt.« Len baute sich vor ihnen auf. »Wir wollen doch alle zusammen Delfine gucken.«

Erst gestern Abend hatten sie zusammen die Nudeln als Delfine in ihre Münder springen lassen. Für ein, zwei Wimpernschläge waren sie glücklich gewesen. Aimée wischte die Pastykrümel vom Tisch und knüllte die leere Tüte zusammen.

»Ja, ich will, dass sie bleibt.«

»Sag ich doch!«

»Len! Lass uns bitte mal kurz alleine reden.«

Er sah sie böse an, aber er bückte sich, sammelte die Äpfel und Karotten ein und ging zu den Pferden.

Daniel stand auf. »Dann hab ich über die Jahre anscheinend alles falsch verstanden.«

Aimée erhob sich ebenfalls. Sie konnte nicht sitzen, während er stand. »Daniel …«

»Was?« Er nahm die Kreissäge in die Hand.

»Sie ist meine Mutter!«

In diesem Moment klingelte das Telefon in ihrer Handtasche. Marilou. Irgendetwas musste mit ihr sein. Ihre Brust wurde eng. Das hatte sie schon ewig nicht mehr gedacht. Sie nickte Daniel kurz zu, der sich mit einem Schulterzucken umdrehte. Mit einem flauen Gefühl nahm Aimée das Gespräch an.

»Aimée? Hier ist Erin.«

Ganz unterwartet machte ihr Herz einen kleinen Sprung.

»Hey, Erin.« Durchs Telefon hörte sie, wie das Bügeleisen zischte.

»Hör zu, du hast den Job.«

Aimée wurden die Knie weich, sie musste sich wieder setzen. »Aber … wieso?«

»Ich hab noch mal mit meinem Vater gesprochen. Als er sich erst mal beruhigt hatte, war er wirklich beeindruckt von deiner Arbeit.« Sie lachte. »Also, wie sieht’s aus?«

Aimée stellte sich vor, wie Erin im weiten Hemd vor dem Bügelbrett stand, in diesem wundervollen Laden.

»Natürlich«, sagte sie und musste sich räuspern, weil sie nur ein Krächzen herausbrachte. »Das ist toll. Danke.«

»Großartig! Und ich muss dir danken. Ohne dich hätte ich ihn nie so weit gebracht, dass er kürzertritt. Wir haben uns jetzt auf halbtags geeinigt. Das ist doch schon mal was. Du könntest also die andere Hälfte übernehmen.« Es rumpelte bei Erin. »Ach so, und ich hab vorhin auch gleich mal Helen angesprochen. Sie muss natürlich noch die Schulleiterin fragen, aber sie sagt, sie wüsste nicht, was dagegenspräche, dass Len zu Ellie in die Klasse kommt.«

Tränen schossen ihr in die Augen. Daniel und Len standen am Weidezaun. Len streckte seine flache Hand mit einem Apfel vor, der Schecke schnupperte daran.

»Erin, du bist … die Beste.«

»Komm einfach morgen Vormittag vorbei. Und bring Len mit. Ellie ist auch da, sie hat schulfrei.«

Aimée steckte ihr Telefon zurück in die Tasche. Mit wackligen Beinen stand sie auf, aber dann konnte sie die Freude doch nicht mehr zurückhalten: Mit der flachen Hand schlug sie auf den Tisch. Verdammt, sie hatte einen Job! Sie hatte den Job!

Daniel und Len drehten sich zu ihr um. Sie musste grinsen, als sie zu den beiden hinüberging.

»Kennt ihr den kleinen Laden am Norway Square?«

Len wischte sich die Hand an der Hose ab. »Den mit der Katze? Mit Cloud?«

»Genau den.« Sie ging in die Hocke. »Da kann ich arbeiten. Möbel restaurieren.«

»Dann haben wir ja Geld! Wir können hierbleiben!« Len packte sie an den Händen und schaute zu ihr hoch. »Oder?«

»Ich würde sagen, es sieht gut aus.«

Sie richtete sich auf. Daniel tat so, als wäre er mit dem Pferd beschäftigt, aber … Am liebsten hätte sie gleich noch einmal auf den Tisch gehauen. Egal, was er jetzt sagte, sie hatte die Freude eindeutig über sein Gesicht huschen sehen.

Er drehte sich zu ihr. »Ich freu mich.«

Na bitte. Ging doch.