Daniel winkte ihr vom See aus zu. Er war schon im Wasser, und Aimée gab ihm ein Zeichen, dass sie gleich nachkommen würde. Sie musste noch kurz nach Lili sehen. Daniel kraulte hinaus. Die Sonne schien wie verrückt, sie konnte ihn kaum noch erkennen.
Aimée lief zur Scheune hinüber. Drinnen kroch sie unter die Tische mit Sannes Porzellan. Keine Spur von Lili. Bei Barbara war wie immer alles aufgeräumt. Manchmal fasste Aimée heimlich die schönen Kleider auf den Bügeln an. Edgars Werkzeuge und Schrauben waren in kleine Behälter sortiert. Auch hier war Lili nicht. Bei Silas’ Vitrinen konnte sie nicht sein, da war es nicht gemütlich. Dann schon eher bei ihnen, hinten in der Melkkammer. Da lag Lili in den letzten Wochen gern, auf einem weichen Samttuch oder einem der Wollmäntel, die Mama noch vom letzten Winter da liegen hatte.
»Lili«, flüsterte sie und knipste die kleine Lampe an. Aber auch hier war Lili nicht.
Ihr anderer Lieblingsplatz war die Kiste in Daniels Bauwagen. Sie hatten Lili zusammen ein Wurflager gebaut, aus einem Karton, den sie mit Decken und Kissen ganz bequem gemacht hatten. An der Seite hatten sie eine Öffnung in den Karton geschnitten und drum herum einen kleinen Auslauf aus Holzquadraten gebaut, die sie mit Scharnieren verbunden hatten. Das Wurflager musste drinnen stehen, damit es die kleinen Katzen auch nachts warm hatten und damit keine anderen Tiere kamen und ihnen etwas antun konnten. Und ein ruhiger Ort musste es sein. Deshalb ging es nicht in der Scheune, da war zu viel los. Und im Wohnmobil war es auch nicht ruhig, weil Mama nicht ruhig war.
Aber Daniel hatte seinen eigenen Bauwagen, schon seit er elf war. Er wollte nicht mehr mit Edgar in einem Raum schlafen. Die Holzstelzen dafür hatte er selbst gebaut und zusammen mit Lothar und Silas’ Papa Georg hatte er den Bauwagen auf die Seite gelegt und die Stelzen darunter angeschraubt. Und dann hatten sie sich alle drei auf ein Podest gestellt und den Wagen vorsichtig samt der Stelzen wieder aufgerichtet. Jetzt sah er aus wie ein Bauwagen auf langen Storchenbeinen, mit einer Treppe. Selbst Silas konnte untendrunter durchlaufen, und der war bestimmt zwei Meter groß. Die Treppe, die hinaufführte, war flach, da kam Lili gut hoch. Und drinnen war es schön ruhig.
Immer wieder hatten sie Lili in den letzten Wochen in den Karton gesetzt, ganz behutsam, damit sie diesen Ort kennenlernte. Seit ein paar Tagen nicht mehr, Lili wollte nicht mehr angefasst werden. Bestimmt war es bald so weit. Aimée konnte nur hoffen, dass sie wirklich zur Geburt in Daniels Baumhaus-Bauwagen ging.
Leise stieg sie die breiten Holzstufen hinauf. Die Tür war angelehnt. Barbara hatte ein kleines Kissen mit zwei Schlaufen genäht, eine war an der Außenklinke befestigt, eine innen, damit die Tür nicht zufiel. Lili sollte ja immer rein- und rauskönnen.
»Lili, bist du da?«
Sie hörte ein Miauen aus dem Inneren und war erleichtert. Seit ein paar Tagen aß Lili nichts mehr, schlich nur immer hin und her, von der Scheune zum Bauwagen und wieder zurück. Und sie putzte sich ständig. Aimée schob die Tür auf. Es war stickig hier.
Lili saß nicht im Karton, sondern auf Daniels Bett, auf der blau-grau-grünen Patchworkdecke, die Barbara genäht hatte. Sie lag auf der Seite und miaute sehr laut. Die Zitzen auf ihrem weißen Bauch waren dick und rot. Mühsam stand sie auf, lief auf dem Bett hin und her und legte sich wieder hin. Das tat sie immer wieder und miaute dabei. Es sah aus, als würde sie etwas suchen. Sie war wirklich sehr dick. Sanne hatte vor zwei Wochen mal ganz sacht an Lilis Bauch gefühlt und gesagt, sie glaube, dass es mindestens fünf Junge würden. Puh. Es war wirklich sehr heiß hier. Aimée öffnete das Fenster über der Anlage. Daniel hatte schon eine mit Schallplattenspieler, CD-Player und einem doppelten Kassettenrekorder. Aimée hielt ihre Hand übers Bett und über die Wurfkiste, weil sie spüren wollte, ob da jetzt ein Luftzug war. Lili sollte ja nicht im Durchzug sitzen. Aber da wehte nichts. Und es war gleich viel angenehmer im Wagen.
Sie setzte sich zu Lili aufs Bett und machte leise »Sch-sch«, immer wieder ganz leise »Sch-sch«.
In Daniels Wagen war alles aus Holz. Der Boden, die Wände, die Decke und die Möbel. Der Raum sah gar nicht mehr blechig aus wie die anderen Bauwagen. Lili legte sich hin und blieb endlich ruhig liegen.
Aimée stand vorsichtig auf. »Ich hol Daniel.«
Sie lief die Stufen hinunter und rannte über die Wiese. An der Bank zog sie schnell ihre Sachen aus, den Badeanzug hatte sie schon drunter. Silas streifte vor ihr durchs Schilf, in der Hand hielt er einen Stock. Hinten im See hatte Daniel sich auf dem umgekippten Baumstamm ausgestreckt. Von hier aus sah er aus wie eine Rieseneidechse oder ein Chamäleon, er war so braun wie der Stamm. Sie tat so, als würde sie Silas nicht bemerken, dann ließ er sie meistens in Ruhe.
Aimée tauchte ins Wasser. Sie war erst in der dritten Klasse, aber sie konnte schon gut schwimmen, und schnell. Als sie schon fast bei Daniel war, sah sie die Tröpfchen auf seinem Rücken glitzern. Sie legte ihm die Hand darauf. Daniel zuckte zusammen, er spritzte ihr Wasser ins Gesicht. Aimée machte eine Rolle im Wasser und schwamm unter dem Baumstamm hindurch. Auf der anderen Seite hängte sie sich an Daniels Fuß.
»Ich glaube, Lilis Junge kommen bald.«
»Dann sollten wir zu ihr.«
»Bin schon unterwegs.« Aimée tauchte unter. Das Wasser war grünlich und trüb, aber das war nicht schlimm. Für Fische war das auch nicht schlimm, und sie war ja fast ein Fisch. Lothar hatte gesagt, sie müsse aufpassen, dass ihr keine Schwimmhäute wuchsen. Sie tauchte noch ein bisschen weiter, dann holte sie Luft. Daniel war schon vor ihr. Er schwamm Delfin, sein Körper sah dabei aus wie ein liegendes S. Das hatte sie auch schon mal versucht, aber es war echt schwer. Aber sie übte, und irgendwann konnte sie ganz bestimmt auch Delfinschwimmen.
Daniel wartete kurz vor dem Ufer auf sie, und gemeinsam stiegen sie aus dem Wasser. Schon von Weitem hörten sie lautes Miauen.
»Sie ist bei dir!«, rief Aimée.
In Badeanzug und Badehose rannten sie über die Wiese. Jetzt fauchte Lili, es klang, als würde eine Schlange zischen. Daniel stieg die Bauwagenstufen hoch, sie hinterher. Zwischen Daniels Beinen hindurch erkannte sie Silas, der mit seinem Stock in der Wurfkiste stocherte.
»Nein!«, schrie sie.
Da war Daniel schon bei ihm und riss ihm den Stock aus der Hand. Er holte aus und verpasste Silas eine Ohrfeige, dass es schallte. Kurz war alles still. Lili fauchte nicht mehr. Aimée hockte sich neben den Karton. Lili drückte sich in eine Ecke. Am liebsten hätte sie sie gestreichelt, aber sie wollte sie nicht noch mehr erschrecken.
»Sag mal, spinnst du?«, brüllte Silas, aber zurückschlagen würde er nicht. Stattdessen ging er rückwärts. Dabei stieß er die Holzquadrate um Lilis Kiste herum um.
Daniel war kleiner als Silas, aber er wirkte viel größer.
»Raus«, sagte er. Seine Stimme zischte wie Lilis Fauchen vorhin, nur ganz leise.
»Schon gut, Mann.« Silas hob die Hände. Er lief weiter rückwärts, bis zur Tür, dann drehte er sich um und rannte die Stufen hinunter.
Aimée stellte den Auslauf wieder auf. Daniel kniete neben ihr. Lili atmete sehr laut.
»Alles ist gut, Lili. Ja. Du machst das sehr gut.« Seine Stimme klang so ähnlich wie ihr eigenes Sch-sch vorhin.
»Guck mal.« Er rückte zur Seite.
Ein winziges schwarzes Köpfchen schaute aus Lili heraus. Aimée konnte sehen, wie Lili presste.
Sie saßen ganz still nebeneinander. Ihre Haut war schon wieder trocken, nur ihr Badeanzug war noch feucht.
Da, plötzlich, flutschte das Kätzchen heraus. Es war so winzig wie eine Maus. Um das Kätzchen herum war eine dünne Haut, die Lili aufbiss und mit der Zunge säuberlich entfernte. Dann leckte sie sacht über das Gesicht ihres Babys.
»Was sollen wir tun?«, flüsterte Aimée.
Daniel saß reglos neben ihr. »Nichts«, sagte er. »Wir müssen nichts tun. Eine Mutter weiß, was ihr Kind braucht.«