VOR 23 JAHREN

Herbst 1996

Aimée war die Letzte an diesem Abend in der Scheune. Die Kunden waren längst weg, und auch die anderen hatten sich schon vor mindestens einer Stunde in ihre Wagen verzogen. Marilou war heute gar nicht erst aufgekreuzt. Aimée räumte noch auf. Kurzerhand stopfte sie all die Kleidungsstücke, die ihre Mutter verkaufte, auch den weinroten Samt, auf dem der Schmuck auslag, in die Waschmaschine. Sie konnte den Gestank wie von altem, ungewaschenem Bettzeug nicht mehr ertragen.

Jetzt rumpelte die Maschine im Nebenraum. Aimée musste warten, bis sie fertig war, und die Sachen dann in den Trockner stecken. Mit angezogenen Beinen saß sie auf dem Fünfzigerjahre-Schaukelstuhl, der heute keinen Kunden gefunden hatte. Aber den würde sie noch verkaufen. Wenn es nach ihrer Mutter ginge, hätten sie den Stuhl schon vor Tagen für dreißig Mark verscherbelt, aber Aimée wusste, dass sie ihn locker für hundert losbekam. Sie musste nur Geduld haben.

Sie schaukelte, der Stuhl quietschte. Über ihr brannte die nackte Glühbirne. Schon oft hatte sie überlegt, Silas’ Mutter Erika einen ihrer Lampenschirme abzukaufen und über die Birne zu hängen. Aber dieser Ort mit seiner Zugluft und dem kalten Steinboden war so ungemütlich, dass es sich überhaupt nicht lohnte, ihn wohnlicher zu gestalten. Nur stinken sollte es hier nicht.

Der Schleudergang der Maschine lief langsam aus und verstummte schließlich. Es war still in der Scheune. Nur ein Rascheln war zu hören, wahrscheinlich von einer Maus. Dann hörte auch das Rascheln auf. Aimée schaukelte und sah hinaus in die Dunkelheit vor dem Fenster. Wenn die Sachen gleich im Trockner waren, hatte sie alles getan. Dann gab es keinen Grund mehr, hier zu sitzen. Dann musste sie ins Wohnmobil.

Sie stand auf, nahm ihre Jacke vom Haken und griff sich die eingedellte Blechdose, die sie als Kasse benutzte. Zweiundsechzig Mark und zwanzig Pfennig hatte sie heute eingenommen. Nicht viel, aber immerhin konnte sie morgen einkaufen gehen. Am besten vor dem Frühstück, denn sie hatten kein Brot mehr. Sie knipste das Licht aus und bahnte sich im Dunkeln einen Weg zwischen den Tischen hindurch. Fast hoffte sie, dass sie irgendwo anstoßen würde. Das wäre der Beweis, dass sie und die Scheune noch nicht eins geworden waren.

Aber Aimée stieß nirgendwo an.

Sie holte die Wäsche aus der Maschine, schüttelte jedes Teil einzeln auf und steckte es in den Trockner. Mit der Kasse in der Hand verließ sie die Scheune und schloss das Tor hinter sich ab.

Es war kalt geworden. In den Bauwagen brannten noch Lichter, aber rundherum war es dunkel. Der Wind strich durch die Bäume, Herbstlaub raschelte und knackte unter ihren Füßen. Direkt vor ihr flatterte etwas auf, Aimée drückte die Blechdose enger an ihren Körper. Weit über ihr rief eine Eule.

Im Wohnmobil flackerte nur wenig Licht hinter der zugezogenen Gardine. Der Wagen schwankte, wahrscheinlich weil ihre Mutter drinnen schwankte. Es war Aimée zuwider. Sie stieg die Treppe hoch und stieß gegen etwas Weiches, das mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel. Sie hatte ihrer Mutter schon tausendmal gesagt, dass sie die Müllsäcke nicht einfach rausstellen, sondern wegbringen sollte. Sonst hatten sie bald wieder Ratten im Wagen. Widerwillig nahm sie den Sack und zog die Tür auf.

Ein ekelerregender Geruch stieg ihr in die Nase, ein Geruch, der schrie: Renn weg, geh nicht weiter! Aber sie trat einen Schritt vor und scannte das Innere des Wohnmobils. Hinten auf der Eckbank war niemand und auch nicht vorne beim Fahrer- und Beifahrersitz. Von oben kam ein Schrei, ein Laut wie ein Peitschen, dann ein tiefes Lachen. Aimée sah zum Alkoven hinauf.

Zwei Körper waren dort ineinander verkeilt. Sie erkannte Marilou und einen Mann. Es sah aus, als kämpften sie miteinander. Aimée war dreizehn, sie wusste genau, was die beiden taten. Auf ihrem Bett.

»Mama!«

Marilou reagierte nicht, aber der Mann blickte von oben zu ihr herunter. Er bewegte sich weiter, als würde er Marilou schubsen. Er hatte eine Glatze, und als er Aimée ansah, wackelte er mit der Zunge im offenen Mund.

Aimée ließ den Müllsack fallen, sie rannte aus dem Wagen und über die Wiese hinunter zum See. Im Schilf übergab sie sich. Immer noch sah sie die eklig wackelnde Zunge des Mannes vor sich. Wieder erbrach sie sich. So lange, bis nichts mehr in ihr war. Sie stolperte zum Wasser.

Der See lag wie eine dunkle Fläche vor ihr, die Bäume am Ufer waren schwarze Schatten. Mit dem Jackenärmel wischte sie sich über die Augen. Wegen dieser beschissenen Frau würde sie nicht weinen. Sie hockte sich in den Sand und wusch sich das Gesicht mit Seewasser. Sie spülte sich sogar den Mund damit aus. Als sie aufstand, merkte sie, dass sie die Kasse noch immer mit einer Hand krampfhaft an sich drückte. In ihren Ohren sirrte es. Sie lief über die Wiese und stieg die breiten Stufen zu Daniels Bauwagen hoch. Ohne anzuklopfen, stieß sie die Tür auf.

Daniel lag auf dem Bett, in seinen Händen hielt er ein dickes Buch.

»Aimée. Was ist los?« Er sprang auf.

Sie wollte wirklich nicht weinen, aber die dummen Tränen kamen einfach. Sie schluchzte und konnte gar nichts sagen. Daniel hielt sie fest, ihr Kopf lag an seiner Brust. Er strich ihr über die Haare, immer wieder, bis sie ruhiger wurde.

»Was ist passiert?«

Sie erzählte ihm alles. Daniel wollte sofort rauslaufen und den Typen aus dem Wohnmobil zerren, aber sie konnte jetzt nicht allein sein. Und im Alkoven würde sie nie wieder schlafen.

»Kann ich heute Nacht hierbleiben?«, fragte sie leise.

»Natürlich.« Daniel nahm ihr die Kasse aus der Hand und stellte sie neben die Anlage.

Aimée streifte die Jacke ab, die nass vom Seewasser war, und legte sie auf die Truhe. Über das Marielouise. Den Namen wollte sie nicht mehr sehen. Trotzdem war es gut, dass die Truhe hier war und nicht im Wohnmobil. Schon vor Jahren hatten sie sie zusammen in Daniels Wagen gebracht, damit Marilou nicht irgendwann auf die Idee käme, darin herumzuwühlen.

»Du schläfst im Bett.« Daniel nahm das dicke Buch von der Matratze. Es war dunkelblau, fast schwarz mit weißen Sternenpunkten. Astronomie stand darauf.

Aimée zog sich Hose und Pulli aus. In T-Shirt und Unterhose schlüpfte sie unter die Bettdecke. »Und du?«

»Ich schlaf auf dem Boden.«

»Das ist doch viel zu hart.«

»Das macht mir nichts.«

Aimée stieg wieder aus dem Bett. »Dann schlaf ich auf dem Boden und du im Bett.« Sie würde auf keinen Fall zulassen, dass Daniel ihretwegen auf dem harten, kalten Boden liegen musste. Sie kauerte sich auf den Flickenteppich und zog die Beine ans Kinn.

Daniel stand mit nackten Füßen und nackten Beinen vor ihr. Irgendwas dachte er, aber sie hatte keine Ahnung, was. Warum konnten sie nicht einfach zusammen im Bett schlafen? Früher hatten sie das oft gemacht.

Er seufzte. »Okay.« Er legte sich hin, und als sie auch wieder im Bett war, breitete er die Decke über sie beide aus. Dann löschte er das Licht der kleinen Lampe.

»Gute Nacht, Aimée.«

»Gute Nacht, Daniel.«

Aimée lag auf dem Rücken und starrte an die Decke des Bauwagens. Daniel hatte Sterne oben ans Holz geklebt, die im Dunkeln leuchteten. Keine mit Zacken, sondern runde Punkte, die er selbst ausgeschnitten hatte. Sie zeigten den Sternenhimmel, wie er wirklich aussah. Daniel lag auch auf dem Rücken, er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie hörte ihn atmen und spürte ein seltsames Ziehen im Bauch. Schnell heftete sie ihren Blick auf den Schützen, ihr Sternzeichen, ein Mischwesen, halb Pferd, halb Mensch. Eigentlich sah er mit seinen vielen Sternen eher aus wie ein Raumschiff oder eine Teekanne.

Am liebsten hätte sie, dass er sie noch einmal so hielt wie vorhin an der Tür. Vorsichtig rückte sie an Daniel heran. Je näher sie ihm kam, desto wärmer wurde es unter der Decke. Da war wieder das Ziehen. Sie drückte ihren Körper leicht an seine Seite. Er roch gut, nach Sommerregen und Daniel. Sie drückte sich noch fester an ihn und hatte das Gefühl, dass seine Wärme in sie hineinwanderte und sie immer mehr ausfüllte. Ihr Mund berührte seinen Hals, seine Schlagader pochte an ihren Lippen. Sie wollte sich auf ihn legen, aber da merkte sie, dass er sich anspannte. Jeder Muskel, so fühlte es sich an, wurde hart, von den Füßen bis zu seinem Hals. Er gab ein komisches Geräusch von sich und rückte ab.

Aimée rollte zurück auf den Rücken und starrte auf die Sterne. Der Schütze zog seinen Pfeil am Bogen weit zurück. Sie hörte Daniels schnellen Atem und spürte das wilde Klopfen ihres Herzens.