Von einem Tag auf den anderen war er nicht mehr da. Jeden Morgen, wenn sie die Tür vom Bulli aufgezogen und die frische, feuchte Luft eingeatmet hatte, wartete der kleine Eisvogel auf seinem Trauerweidenast schon auf sie. Jetzt hing an dem Zweig eine Feder in schillerndem Türkis. Wie ein Geschenk, das er für sie dagelassen hatte. Vergiss mich nicht, hörte sie sein Piepsen. Wie hätte sie ihn jemals vergessen können.
Im Laufschritt kamen sie den kleinen Hügel hinunter, der sich hinter der Surfschule entlangschlängelte.
»Halt das mal kurz.« Aimée reichte Len die beiden mit Alufolie überzogenen, gestapelten Teller, streifte ihre Sandalen ab und stopfte sie in die Korbtasche. Dann nahm sie Len die Teller wieder ab.
Ellie war schon im Badeanzug, sie winkte ihnen zu. Len winkte zurück, Aimée hatte keine Hand frei. Bei der Surfschule stellte Len sich neben eines der gelben Surfboards, wie er es bei den Wellenreitern gesehen hatte, die Beine breit, die Knie gebeugt, ein Arm angewinkelt, den anderen nach vorne ausgestreckt. »Len Thaler nimmt die Welle schneller als sein Schatten.« Er machte ein zischendes Geräusch und legte sich in die Kurve.
Neben der Surfschule schloss sich eine Reihe weißer Kabinen mit nummerierten Holztüren an. Daneben markierten ein paar Steinbauten das Ende des Strandes, die kaum anders aussahen als die Felsen der Island, nur dass sie große Panoramafenster hatten. Die Ateliers der Porthmeor Studios, von hinten.
Überall am Strand saßen Menschen in Deckchairs oder auf Alu-Klappstühlen, viele hatten Strandsegel aufgestellt, manche hatten sich ganze Segelfestungen gebaut.
»Schau mal, Len, da drüben ist Helen.«
Mit leichten Schritten steuerten sie auf die bunten Picknickdecken vorne am Wasser zu.
»Aimée, hier!« Erin winkte ihr von der roten Decke aus zu und wies zu einer anderen Unterlage, auf der das Buffet aufgebaut war.
Aimée nickte. Guter Plan, sie musste als Erstes die Hände frei bekommen.
Sie ging hinüber zu der großen karierten Decke, auf der dicht an dicht verführerisch aussehende Kuchen und Scones, Sandwichs und Salate standen, und stellte die Teller ab. Auf dem einen hatte sie eine bunte Mischung aus Früchten angerichtet. Erdbeeren, Himbeeren, Blaubeeren, Kirschen und Melonenscheiben. In der kleinen Bulliküche waren ihrer Kreativität enge Grenzen gesetzt. Unter der Alufolie des zweiten verbarg sich ein Schokokuchen. Auf seiner Glasur klebten blaue Weingummi-Delfine. Marilou hatte ihn heute Morgen vor dem Bulli abgestellt mit einer Notiz: Viel Spaß beim Sommerfest! Langsam und sehr vorsichtig näherten sie sich nach ihrem Streit wieder an. Aimée zog ein Messer aus der Korbtasche und schnitt den Kuchen an. Dann bahnte sie sich einen Weg durch die Umstehenden, grüßte Mütter und Väter, die sie inzwischen fast alle kannte. Wenn sie Len zur Schule brachte oder abholte, wechselte sie hier und da ein paar Worte, manchmal auch ein paar mehr. Kürzlich hatte sie fast eine Dreiviertelstunde mit Paula, der Mutter von Josh, zusammengestanden und sich über Haarschnitte und Möbelpolitur unterhalten. Allerdings hatte Aimée die Eltern noch nie wie hier alle zusammen auf einem Haufen gesehen.
»Alles klar, Aimée?« Einer der Väter, Aiden, wenn sie sich recht erinnerte, hielt ihr ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit hin. Am Rand klemmte eine Gurkenscheibe. »Lust auf einen Eistee?«
»Gern.« Sie nahm das Glas entgegen.
Aiden blickte in den blauen Himmel. »Heute Morgen sah es aus, als würde es sich zuziehen. Aber wenn ein Fest ansteht, spielt das Wetter in St. Ives immer mit.« Er blinzelte in die Sonne. Dabei sah er mit seinen kinnlangen braunen Haaren aus wie sein Sohn Matt, der vor ihnen mit ein paar anderen Kindern am Wasserrand herumsprang.
Len schnappte sich einen Eimer und rannte davon.
»Ihr sucht eine Wohnung, richtig?« Aiden stellte sich so, dass ihn die Sonne nicht mehr blendete.
»Ja, wir wohnen … ziemlich beengt gerade.«
»Unsere Nachbarn, Brenda und Steve, bauen einen Teil ihres Hauses zur Einliegerwohnung um. Also, sie fangen gerade erst damit an, aber ich kann euch da gerne mal ins Spiel bringen.«
»Das wäre großartig. Vielen Dank.«
»Hi, Aimée.« Sarah, die Mutter von Lucy, umarmte sie herzlich, wobei sie Aimée fast das Glas aus der Hand riss. »Oh, entschuldige bitte.«
»Alles gut.«
»Übrigens, du musst unbedingt Paulas Pastys mit gegrilltem Gemüse probieren. Ein Gedicht!«
Wie aufs Stichwort knurrte Aimées Magen. »Danke für den Tipp.« Sie lief noch einmal zurück zur karierten Decke. Paulas Teigtaschen sahen wirklich köstlich aus, genauso goldbraun und buttrig wie die von Pengenna Pasties. Aimée nahm sich eine.
Erin war zu ihr herübergekommen und griff nach ihrer Hand. »Dass ich dich hier zu fassen kriege.« Sie musterte Aimée. »Du siehst toll aus.« Aimée trug eine weiße Tunika mit einer türkisfarbenen Stickerei am Ausschnitt. Sie hatte sie bei Clotworthy’s erstanden, einem der kleinen Geschäfte unten am Hafen. Die lange Bluse war das Erste, was sie sich, abgesehen von dem, was Len und sie zum täglichen Leben brauchten, von ihrem eigenen Geld gekauft hatte. Was sie sich zugestanden hatte. Sie hatte Tränen in den Augen gehabt, als sie der Verkäuferin die Geldscheine gegeben hatte.
Aimée setzte sich mit Erin auf die rote Decke, die ziemlich weit vorne am Wasser lag, und biss ein Stück von der Pasty ab. Sie schmeckte einen Hauch Rosmarin und Thymian heraus und perfekt gegrillte Antipasti in einem knusprigen Mürbeteig. Wirklich köstlich.
»Du hattest recht, Erin. Die Schneebälle kommen ins Rollen. Ich bin schon ein paarmal auf unsere Wohnungssuche angesprochen worden. Erst gerade eben wieder, von Matts Dad.« Aimée sah hinüber zu Aiden, der jetzt ebenfalls eine Pasty in der Hand hielt.
Erin nickte und kratzte mit der Gabel einen Bissen von der dicken weißen Creme ihres Karottenkuchens ab. »Irgendwas Konkretes dabei?«
»Bis jetzt noch nicht. Aber ich bin guter Dinge.«
Zwei Möwen erhoben sich vor ihnen mit schnellen Flügelschlägen in die Luft. Im nächsten Moment glitten sie ruhig übers Meer, die Flügel weit ausgebreitet im endlosen Blau. Die Kinder spielten am Wasser, Len hockte als Einziger mit seinem Eimer im Sand, einige Meter von den anderen entfernt, das Gesicht ganz nah an etwas, das aussah wie ein altes Fischernetz.
»Nachschub?« Helen schwenkte eine Karaffe mit Eistee. Ihre Wangen waren noch röter als sonst.
Aimée und Erin ließen sich nachschenken.
»Setz dich doch zu uns.« Aimée rückte ein Stück zur Seite. Stimmen, Lachen und Rauschen umgaben sie. Aimée aß ihre Pasty, und eine angenehme Trägheit machte sich in ihr breit. Am Horizont lag ein dünner Wolkenstreifen, nur ein Halbton dunkler als der tiefblaue Himmel über ihr.
»Ihr habt euch gut eingelebt in St. Ives, oder?« Helen nippte an ihrem Drink, Eiswürfel klimperten.
»Oh ja.«
Heute konnte sie einfach ausblenden, wie beengt sie wohnten, mit einer Mutter nebenan, mit der sie kaum noch sprach. Heute waren da nur die freundlichen Menschen mit ihr am Strand, das funkelnde Licht und das Rauschen des Meeres. Das Einzige, was sie unsicher machte, war die Frage, ob auch Len glücklich war.
»Einen Penny für deine Gedanken.« Helen zog ihren Strohhut ein wenig in den Nacken. Er war weiß und hatte eine zartrosa Schleife.
»Ich frage mich, ob Len glücklich ist, weil … Er spielt ja meistens allein.«
Helen deutete mit dem Kinn nach vorn zum Wasser, in Lens Richtung. »Schau mal.«
Aimée schob die Gurkenscheibe am Rand ihres Glases entlang. Um Len herum standen und hockten einige Kinder. Sie alle hielten Reste von Netzen in der Hand, ausgeblichene Fetzen in Orange und Türkis, die sie sehr genau inspizierten.
»So ist es oft, in der Pause auf dem Schulhof«, sagte Helen. »Len spielt für sich, ganz konzentriert. Und irgendwann zieht er damit unweigerlich die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. Ohne dass er es darauf anlegt. Deshalb funktioniert es wahrscheinlich so gut. Ganz oft spielen am Ende alle zusammen, und zwar das, was Len vorher allein gespielt hat.«
Len hielt sein Netz hoch, und ein dunkelhäutiges Mädchen knotete ihre grünen Maschen an seine schwarzen.
»Ich glaube, das ist seine Art, in Kontakt zu treten. Auch wenn das erst mal widersprüchlich klingt. Ich persönlich finde das wunderschön.«
Aimée stiegen Tränen in die Augen. Erin merkte es sofort und griff nach ihrer Hand. Was war sie nur auf einmal so nah am Wasser gebaut?
»Übrigens«, Helen setzte sich etwas aufrechter hin, »ich wollte dir noch einmal für deine wundervolle Arbeit an meinem Rahmen danken. Ich hätte nicht gedacht, dass eine neue Vergoldung so alt aussehen kann.« Sie lachte. »Ich meine, der Rahmen sieht aus, als wäre nie etwas daran verändert worden.« Helen wandte sich an Erin. »Sie ist eine Künstlerin, wusstest du das?«
»Mein Vater sagt dasselbe.« Erin drückte Aimées Hand und ließ sie wieder los.
»Aufhören! Sofort!«
Die Sonne stand inzwischen tiefer am Himmel, das Licht wurde weicher, die Wasseroberfläche glänzte silbrig. Len löste sich aus der Gruppe der anderen Kinder und kam zu ihnen herüber.
»Dahinten ist Daniel!« Er sprang hoch und winkte in Richtung Wasser.
Eine Hand hob sich aus dem silbrigen Glitzern, dann erkannte Aimée Daniel auf seinem Brett.
»Darf ich zu ihm?«
»Klar.« Daniel würde gut auf ihn aufpassen.
Len zog sich aus und kramte in der Korbtasche nach seiner Badehose. Schnell streifte er sie sich über.
»Willst du wirklich Lenna …«
Aber er hatte sich die Puppe schon in die Badeshorts gesteckt und rannte zum Wasser. Aimée schüttelte den Kopf.
Daniel kam ihm im flachen Wasser entgegen. Er hielt ihm die Hand hin, und Len schlug ein. Len drehte sich zu den anderen Kindern um. Er sah stolz aus. Daniel stand da mit nassen Haaren und nacktem Oberkörper, und Aimée wusste mit einem Mal nicht mehr, wo sie hinsehen sollte.
Sie musste an Zoe denken, die wieder im Cottage wohnte, und daran, dass sie einen anderen gehabt hatte. Aimée hatte mit Daniel nie darüber gesprochen.
»Wollen wir auch?« Helen drehte ihren Strohhut in der Hand.
»Später vielleicht.« Erin schob sich die letzte Gabel ihres Kuchens in den Mund.
Aimée nahm einen Schluck von ihrem Eistee. So langsam gewöhnte sie sich daran, dass Len zusammen mit Daniel schwimmen ging. Aber für sich selbst konnte sie sich nicht vorstellen, ins Meer zu gehen.
»Okay.« Helen strich sich die blonden Haare hinters Ohr und stand auf. »Ich brauche jetzt gleich eine Abkühlung. Wir sehen uns später.«
Vorne im Meer schwamm Len, den Kopf weit im Nacken, die Arme in schnellen Kreisen. Jedes Mal schaffte er ein paar Züge mehr. Beim ersten Mal, als sie ihn ohne das Brett gesehen hatte, mit seinen schnellen Bewegungen, die von Weitem hektisch aussahen, war sie zum Wasser gestürzt, aber Daniel hatte ihr ein Zeichen gegeben. Alles in Ordnung. Sie hatte sich in den Sand gesetzt und gewartet, bis sich ihr Herzklopfen wieder beruhigt hatte.
»Wir haben noch ein Thema offen«, sagte Erin.
Aimée wusste sofort, worauf sie anspielte. Sie hatte ihre Unterhaltung vor Wochen über Daniel nicht vergessen. Der Form halber stöhnte sie auf.
»Also, warum seid ihr nicht mehr zusammen?«
Die Kinder, die mit Len Netze gesammelt hatten, waren jetzt auch im Wasser und sprangen um ihn und Daniel herum. Len war auf Daniels Rücken geklettert und half Ellie ebenfalls hoch.
Aimée setzte sich aufrechter hin. »Daniel und ich, wir waren drei Jahre zusammen. Da hat er mir von heute auf morgen eröffnet, dass er nach England zieht, wegen einer Tischlerlehre, hier in St. Ives. Den Kontakt hatte er über seine Mutter, es war alles schon organisiert. Ich wusste überhaupt nichts davon. Er ist davon ausgegangen, dass ich mitgehe oder nachkomme. Aber ich konnte ja nicht so einfach weg, wegen Marilou. Außerdem war ich noch in der Schule.«
»Das ist heftig.«
»Ich war so verletzt. So richtig. Ich hatte das Gefühl, als würde ich in seinem Leben überhaupt keine Rolle spielen. Dabei waren wir vorher so …« Sie suchte nach einem Wort, das ausdrücken konnte, wie nah sie und Daniel sich gewesen waren. Aber dafür gab es kein Wort. Neben ihrem Fuß stand eine Möwenfeder aufrecht im Sand, als hätte sie jemand gerade eben hineingesteckt. »Wir kannten uns seit zwölf Jahren, haben uns jeden Tag gesehen. Wir haben alles miteinander besprochen. Immer.«
»Weißt du, warum er dir nichts gesagt hat? Hatte er Angst?«
Aimée zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hatte er Angst, ja. Dass ich sage: Ich geh nicht mit. Dass er sich entscheiden muss.«
»Und dann?«
»Dann habe ich mich getrennt.«
Die Wellen rauschten, schwollen an, immer lauter, bis sie sich überschlugen und brachen. Dann, wie ein Nachklang, ein leiseres Rauschen, und Stille.
»Das ist auch heftig.«
»Ja, das war es.« Sie hatte Daniel vorher noch nie weinen gesehen. Sie hatte am Eingang zu seinem Bauwagen gestanden, sie wollte nicht zu ihm hinein, und ihm gesagt, es sei vorbei. Er hatte aufgeschluchzt und einfach zu weinen angefangen. Er hatte mit ihr reden wollen, aber sie hatte immer nur auf den einen Satz gewartet: Ich bleibe hier, bei dir.
Daniel hielt Len an der Taille und führte ihn ruhig übers Wasser. Erin hatte ihren Teller beiseitegestellt und die Hände in den Schoß gelegt. Aimée spürte, wie froh sie war, dass es sie gab.
»Ich musste mit ihm Schluss machen. Ich konnte nicht drei Jahre warten, einfach so, ohne dass ich auch nur gefragt worden wäre.«
»Das versteh ich. Habt ihr in der Zeit telefoniert?«
Aimée schüttelte den Kopf.
»Und was war, als er wieder zurück war?«
»Nichts. Danach war nichts. Wir waren nicht einmal mehr wirklich befreundet. Vielleicht war das sogar das Schlimmste. Dass er zurückgekommen ist, und ich ihn gar nicht mehr kannte.«
»Und jetzt bist du hier.«
Rauschen, anschwellen, bersten. Stille.
Daniel stand im Wasser, und das Blau teilte sich um ihn in glänzendes Perlmutt und das warme Abendleuchten des Himmels. Der Horizont lag auf seinen Schultern. Tropfen glitzerten auf seiner Haut, die nassen Haare hatte er sich aus dem Gesicht gestrichen. Er sah zu ihr herüber.
»Ja, jetzt bin ich hier.«