VOR 15 JAHREN

Frühjahr 2004

Auf dem halbmondförmigen Tisch vor der Sitzbank stand ein kleiner Spiegel. Aimée drehte ihn zu sich und betrachtete ihr Gesicht. Frisch und klar sah sie heute aus. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Schminketuis – Mascara, einen Hauch Rouge und etwas Glanz für die Lippen. Vorsichtig zog sie die Wimperntusche auf. Als sie das Bürstchen gerade ansetzen wollte, hielt sie inne. Nein, sie würde sich nicht schminken. Heute wollte sie ganz sie selbst sein.

Entschieden zog sie den Verschluss des Etuis wieder zu. Das Mobile über ihrem Kopf drehte sich. Ihr Haus der Träume. Wolke schnurrte in ihrem Körbchen, ein leises Vibrieren, das den kleinen Raum füllte. Aimée sah aus dem Fenster hinaus, durch das zarte Laub der Bäume hindurch, das langsam seine blutrote Farbe wiederbekam. Das Schilf wiegte sich am Ufer, die Wasseroberfläche warf Wellen, als wäre sie am Meer.

Sie griff unter das Kissen unter Wolkes warmem Körper. »Sch…«, machte sie, als Wolke die Augen öffnete. Sie streichelte sie, und die Augen ihrer Katze fielen wieder zu. Aimée zog den Umschlag hervor.

Es war nicht viel, was sie hatte zurücklegen können. Marilou arbeitete seit ihrem Selbstmordversuch vor einem Jahr kaum noch mit, deshalb waren sie auf das Geld, das Aimée durchs Restaurieren verdiente, angewiesen. Trotzdem legte sie von jedem Möbelstück, das sie verkaufte, zehn Euro zurück, egal ob sie das Stück für zwanzig oder für hundertfünfzig losbekam. Sie musste den Umschlag nicht öffnen, sie wusste auch so, wie viel Geld darin war. Trotzdem zog sie die Scheine heraus, kippte die Münzen auf den Tisch und zählte. Eintausendsechshundertzwanzig Euro. Ein Anfang, für ein neues Leben.

Sie hatte gewusst, dass Daniel irgendwann in diesen Tagen aus England zurückkommen würde, Barbara hatte es ihr erzählt. Doch dann hatte er gestern Abend an ihren Bulli geklopft.

»Du bist wieder da«, hatte sie gesagt, und er hatte erwidert: »Ich bin wieder da.« Vielleicht war es auch andersherum gewesen. Still stand er vor ihr. Sie hörte das Flattern eines Vogels in der Dämmerung und sah in sein Gesicht, das gebräunt war, obwohl der Winter kaum vorbei war. Sie standen lange so da und sahen einander an. Seine Augen waren wie eine glatte Fläche, die nichts verriet, dafür umso bodenloser war.

Als er vor drei Jahren weggegangen war, hatte sie es auf dem Hof nicht mehr ausgehalten. Er konnte so einfach gehen – und sie? Sie hätte ihm nachreisen können, aber dafür war sie zu verletzt gewesen und auch zu stolz. Stattdessen hatte sie studiert, dreihundert Kilometer von der Kommune entfernt. Sie hatte gedacht, es wäre genug, wenn sie am Wochenende nach Marilou sehen würde. Aber dann war Barbaras Anruf gekommen, dass Marilou versucht hatte, sich umzubringen. Und als sie nach nicht einmal vier Semestern zurückkam, hatte sie alle Hände voll zu tun gehabt. Sie hatte die Oberflächen zahlreicher alter Holzmöbel geglättet. Jetzt spürte sie die Risse.

Sie wusste nicht, wie lange Daniel und sie gestern Abend voreinandergestanden hatten, aber sie hatte sich nicht eingebildet, dass er auch in ihren Augen etwas suchte.

Aimée sah noch einmal in den Spiegel. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen schimmerten, ihre Augen verrieten jeden Traum. Sie steckte den Umschlag in die Tasche ihrer Wolljacke und trat ins Freie.

Die Luft war klar, sie atmete tief ein. Das Gras unter ihren Füßen war hellgrün. Unten bei den Baumstämmen, wo die Wurzeln aus der Erde hervortraten, wuchsen Schneeglöckchen. Sie sah die feinen Wellen im See und hörte das Rauschen, als hätte das Glück einen Ton.

Als Daniel in England war, hatte sie oft von ihm geträumt. Von dem Haus, in dem er wohnte, und davon, wie sie miteinander schliefen. Dass sie einfach nur aufeinanderlagen, ohne sich zu bewegen, und das reichte schon. Manchmal hatte sie von ihm geträumt, obwohl sie wach gewesen war. Wenn sie stumpfen Lack polierte und ihre Hand mit dem Ballen wie ein Falter abhob und landete, abhob und landete. Sie hatte geträumt, dass sie ihm sagte, es sei ein Fehler, dass sie nicht mehr zusammen waren.

Sie schaute hoch zu seinem Wagen. Das Licht brannte, ein warmer, matter Schein. Ihre Schritte federten auf den Stufen. Vor seiner Tür tastete sie noch einmal nach dem Umschlag in ihrer Tasche. Der Frühling war eine gute Zeit, um Träume wahrzumachen. Sie überlegte, ob sie klopfen sollte, aber sie entschied sich dagegen. Sie zog die Tür auf. Sie zog sie einfach auf.

Die Kerzen auf der Kommode flackerten im Luftzug. Die Frau, die neben Daniel stand, war genauso groß wie er. Er sah sie an mit diesem Blick, mit dem er immer sie angesehen hatte, und strich ihr eine Strähne ihres schwarzen Pagenschnitts hinters Ohr.

»Aimée.« Daniel ließ die Hand sinken.

Die Frau öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen.

Aimée drehte sich um und rannte die Stufen hinunter und über die Wiese, rannte immer weiter. Irgendwann stand sie vor dem Bulli. Sie öffnete die Tür und fiel auf die Bank. Wolke miaute. Was hatte sie sich nur gedacht? Was hatte sie sich für eine Scheiße zurechtgesponnen?

Aimée griff nach dem baumelnden Haus über ihrem Kopf. Sie bekam eine Seitenwand zu fassen und riss das Holzstück ab. Mit einem Ratschen zog sie die Tür erneut auf, schleuderte das abgerissene Teil hinaus und zog die Tür wieder zu. Sie machte sich ganz klein auf der Bank. Und wartete.

Aber Daniel kam nicht.