VERLUSTSTÜCK

Sie hätte gar nicht genau sagen können, was es gewesen war. Sie wusste nur, dass es nicht mehr da war. Später stellte sie fest, dass in der Tasche ihres Rocks ein Loch war. Unbemerkt musste es an ihren Beinen hinuntergerutscht und zu Boden gefallen sein. Wo sie auch suchte, sie fand es nicht. Kein Wunder, wenn man nicht wusste, wonach man suchte.

November 2019

Erin schloss die Eingangstür ab und drehte das Schild so, dass die Seite mit der Aufschrift Closed nach außen zeigte. Draußen vor den Fenstern goss es in Strömen. Arthur war mit dem Transporter unterwegs.

Sie setzte sich zu Aimée an den kleinen Tisch. »Marilou ist also weg.«

Aimée rieb sich die kalten Hände. »Sie könnte überall sein.«

Erin rückte ein Blechkännchen mit leuchtend roten Ilexzweigen ein Stück zur Seite. »Aber deine eigentliche Sorge ist, dass sie … nirgends mehr ist.« Sie sagte das sehr sanft.

Aimée konnte nur nicken.

»Ich kenne Marilou natürlich nicht so gut.« Erins Hand legte sich über ihre. »Aber ich würde sie nicht so einschätzen, dass sie sich etwas antut.« Sie sprach es einfach aus, und Aimée war dankbar dafür. »Vielleicht«, sagte Erin, »wollte sie das früher mal, aber da war sie alleinerziehend und bestimmt überfordert von der Verantwortung. Heute ist sie eine starke Frau.«

Aimée blickte auf.

Erin lächelte unter ihrer großen runden Brille. »Du brauchst gar nicht so zu gucken. Wirklich, ich nehme deine Mutter als eine Frau wahr, die weiß, wer sie ist. Die mit sich selbst über die Jahre Frieden geschlossen hat.«

»Wie kommst du darauf?«

Sie hatte Erin in den letzten Monaten viel von früher erzählt, nicht alles auf einmal, aber am Ende doch das meiste. Und trotzdem konnte Erin nicht wissen, wie es sich angefühlt hatte und wie labil Marilou noch immer war.

Erin krempelte die Ärmel ihres Hemdes hoch. »Sie war manchmal hier.«

»Hier?« Aimée blickte sich rasch im Laden um, als würde Marilou in einer Ecke hocken.

»Wenn Arthur da war. Die beiden haben oft am Tisch gesessen und sich unterhalten.«

Aimée stellte sich Marilou auf dem Stuhl vor, auf dem sie selbst gerade saß. Wie sie die Hände um einen der Becher legte, aus denen Aimée so oft getrunken hatte. Wie sie mit ihren schmuddeligen Kleidern zwischen Erins sauberen, ordentlich aufgereihten Stoffen saß. Es gelang ihr nicht.

»Sie hat viel erzählt, von früher und auch, wie es ihr heute geht. Sie ist sehr kritisch mit sich selbst, mit sich als Mutter.«

Auf dem Bügelbrett hinter Erins Kopf lag eine Weltkarte, die aus zahlreichen Stoffen zusammengesetzt war. Schwarze Fäden zogen sich durch das Blau des Atlantiks, am unteren Bildrand waren die Worte Transatlantic Telegraph Cables eingestickt, Erins neuste Arbeit. Für Aimée war Marilou immer nur hilfsbedürftig gewesen, damals wie heute. Sie hatte nie auch nur darüber nachgedacht, dass Marilou sich mit sich selbst auseinandersetzte.

»Warum hast du nie was davon gesagt?«

»Marilou hatte uns darum gebeten. Sie wollte nicht, dass du denkst, sie würde in dein Revier eindringen. So hat sie es ausgedrückt. Das wollte sie wirklich nicht. Aber sie ist einsam. Auch darüber kann sie sprechen.«

Seltsamerweise verspürte Aimée keinen Ärger. Sie war einfach froh, dass Marilou jemanden hatte, mit dem sie reden konnte.

»Danke, dass du mir das erzählst.«

In ihrem Rücken knackte und knisterte das Holz im Ofen.

»Erin?«

»Ja?«

»Darf ich dich mal was fragen? Etwas ganz anderes?«

»Schieß los.«

Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte. Immer wieder hatte sie darüber nachgedacht, seit sie das erste Mal bei Erin und Ellie im Driftwood Cottage gewesen waren. Aimée zupfte eine Beere vom Ilex.

»Ians Arbeitszimmer, das steht ja leer. Es ist mir sehr unangenehm, das zu fragen, aber …« Schon während sie sprach, sah sie, wie Erin die Hände vom Tisch nahm und sich gegen die Rückenlehne des Stuhls drückte. Alles an ihr zog sich zurück. Trotzdem, sie musste wenigstens fragen. »Len und ich, wir haben ja noch keine Wohnung. Meinst du, wir könnten eine Weile bei euch unterkommen? Mein Plan ist, dass, wenn wir bis Ende des Jahres nichts haben, dann …«

»Nein.« Erin stand auf. »Sorry, Aimée. Aber nein.« Sie lief durch den Laden und zog wahllos Stoffe aus einem Karton.

Aimée sah auf die zerquetschte Ilexbeere in ihrer Hand. Natürlich hatte sie gewusst, dass Ians Arbeitszimmer ein heikles Thema war. Schon ihre Frage zeigte ja, dass sie nicht wirklich an seine Rückkehr glaubte. Aber wog das wirklich so schwer? Erin wusste genau, wie unerträglich es seit Lens Unfall für sie im Bulli war. Wie dringend sie beide etwas mehr Platz und mehr Wärme brauchten.

Die Tür öffnete sich mit dem Klingeln des Glöckchens. Kalte Regenluft fegte herein, Arthur zog die Tür hinter sich zu. Umständlich streifte er seine Jacke ab, spreizte dabei die gekrümmten Finger, zog die Ärmel Stück für Stück über die Hände und legte die Jacke schließlich über die Holztruhe. Aimée konnte sehen, wie sehr ihn die Bewegung schmerzte. Er nickte ihr kurz zu und schloss dann Erin, ohne ein Wort, in die Arme. Erin ließ die Schultern hängen, in beiden Händen hielt sie dunkelgraue Stoffreste.

Immer wieder strich er Erin über den Rücken. Irgendetwas musste passiert sein. Mit einem Mal kam Aimée sich vor wie ein Eindringling. Sie stand auf und schob sich am Bügelbrett vorbei. Hätte sie doch bloß den Mund gehalten!

Um irgendetwas zu tun, nahm sie Arthurs Jacke von der Truhe und hängte sie an den Garderobenhaken. Das Eichenholz der Truhe war matt und gräulich. Neulich hatte sie den Deckel zum ersten Mal aufgeklappt und hineingeschaut. Als könnte sie darin etwas finden, das sie verloren hatte. Aber die Truhe hier war leer, ein Möbelstück, das keinen Käufer fand.

Unauffällig sah sie zu den beiden hinüber. Erin schluchzte lautlos in Arthurs Armen. Was war nur mit ihr? Schnell wandte Aimée sich ab. Vielleicht sollte sie einfach gehen.

An der Ladentür stoppte sie. Wo noch vor Kurzem das Meerkleid blau und grün geschillert hatte, hing nur noch der schwarze Bügel, dahinter die weiß gekalkte Wand. Unverkäuflich, hatte Erin gesagt. Wahrscheinlich hatte ihr doch jemand so viel Geld angeboten, dass sie nicht hatte Nein sagen können. Aimée konnte es ihr kaum verdenken, auch wenn sie sich immer in dieses Kleid hineingeträumt hatte. Wie sehr, das merkte sie erst jetzt, wo es nicht mehr da war.

Es braucht nur den richtigen Moment.

Aimée nahm den Bügel in die Hand, drehte ihn hin und her und hängte ihn wieder auf. Irgendwie hatte sie immer auf diesen Moment gewartet. Jetzt war er für eine andere Frau gekommen.

»Aimée, möchtest du auch Fudge? Arthur hat massenhaft mitgebracht.« Erin saß neben ihrem Vater am Tisch und hatte die Brille abgesetzt. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.

Arthur löste das weiche Karamell aus der Verpackung und stapelte es auf einem Teller. Aimée trat zu ihnen an den Tisch und blieb neben Erin stehen. »Alles okay?«

»Nicht wirklich.«

»Was ist los?«

Arthur zerknüllte die leere Verpackung. »Der Mistkerl hat die Scheidung eingereicht.«

»Dad, bitte …«

»Ian?«

Erin nickte.

Oh Gott, da hatte sie mit ihrer Frage ja noch mächtig Salz in die Wunde gerieben.

»Der Mann hat eine Tochter!« Arthur donnerte die Faust auf den Tisch, dass der Fudge-Stapel wackelte.

Erin griff mechanisch nach der Vase mit den roten Beeren.

»Aber das ist dem Herrn ja so was von egal!«

»Ach, Erin.« Aimée beugte sich zu ihr hinunter und umarmte sie. Gerade eben noch hatte sich Erins Hand über ihrer so stark und fest angefühlt, jetzt war ihr ganzer Körper schlaff.

»Heute Morgen kam der Brief vom Anwalt.« Ihre Stimme war tonlos.

»Der Typ traut sich nicht, es ihr ins Gesicht zu sagen!« Arthur stopfte sich einen Fudge-Würfel in den Mund.

Aimée dachte an das Foto von Erin, Ellie und Ian, das im Driftwood Cottage auf dem Kaminsims stand: drei lachende Gesichter dicht beieinander, dieselben dunklen Haare, die aussahen, als wären sie über ihren Köpfen zusammengewachsen.

»Warum hast du denn nichts gesagt?«, flüsterte sie.

»Verglichen mit einer Mutter, die vom Erdboden verschluckt ist, war das nicht so wichtig.«

»Viel wichtiger!«

»Apropos.« Arthur tippte Aimée von seinem Stuhl aus an. »Ich soll dir was von Marilou ausrichten.«

Aimée fuhr herum. »Was?«

»Also, deine Mutter hat mir gesagt, ich soll dir sagen, dass du dir keine Sorgen machen brauchst.«

»Was? Woher …?«

Arthur zuckte mit der Schulter und sagte nichts.

»Ja, aber wann hast du mit ihr gesprochen?«

Arthur blickte auf seine Armbanduhr mit dem brüchigen braunen Lederband. »Vor einer Stunde und vierzig Minuten. Vielleicht fünfundvierzig Minuten.«

»Heute?«

Arthur nickte so beiläufig, als wäre es das normalste der Welt.

»Hast du sie gesehen?«

»Das darf ich dir leider nicht sagen.« Er stand auf und rückte ihr den Stuhl hin.

»Aber wieso denn nicht?« Aimée ließ sich auf den Stuhl fallen. Automatisch steckte sie sich auch einen Würfel Fudge in den Mund.

»Ich kann dir nur sagen, dass es ihr gut geht. Mehr nicht. Das hab ich ihr versprechen müssen.« Arthur drehte den Hahn an der Spüle auf. »So, und jetzt mach ich uns auf all die Neuigkeiten erst mal eine schöne Tasse Tee.« Er füllte Wasser in den schwarzen Emaillekessel und stellte ihn auf den Herd.

Arthur hatte mit Marilou gesprochen. Das hieß, Marilou war irgendwo – sie war nicht nirgends. Aimée spürte die Erleichterung im ganzen Körper, warm und süß wie das Fudge in ihrem Mund. Nur warum versteckte sich Marilou? Doch nicht vor ihr. Sie wünschte so sehr, sie könnte mit ihr sprechen.

Der alte Eisenofen bullerte, der Kessel pfiff. Erin saß zusammengesunken in ihrem Stuhl. Aimée legt ihre Hand auf die von Erin. Es wurde Zeit, dass sie sich um ihre Freundin kümmerte.