Er hatte nicht geschlafen in dieser Nacht, nur dagelegen. Um zwanzig nach sechs hörte er, dass Aimée den Bulli anließ. Das Motorengeräusch kam schnell näher. Der Bus passierte seinen Bauwagen, es klang, als würde sie das Gaspedal tief durchtreten. Was war er für ein verdammter Idiot! Erst war er einfach gegangen und jetzt ließ er sie ziehen. Er trat gegen die Wand. Hinter dem Holz schepperte das Blech. Das Brummen des Motors war schon kaum mehr zu hören, da stürzte er hinaus in den feuchten Morgen, rannte über Gras und Pflaster und Erde. Sein Ruf verwehte im Nebel. Doch dann leuchteten die Rücklichter noch einmal auf. Sie bremste. Aimée! Doch schon einen Moment später verlor das Rot vor ihm an Kraft. Nichts war mehr da, nur leerer Dunst. Er wusste nicht, wann er zuletzt geweint hatte.
Im Radio lief ein alter Countrysong, während Daniel den Pick-up durch die schmale Straße steuerte. Auf beiden Seiten säumten hohe Hecken die Fahrbahn, es war, als würden sie durch einen Tunnel fahren. Sogar jetzt im Dezember war überall Grün. Die Hecken selbst waren zwar braun und löchrig, aber Efeu und andere Rankpflanzen hielten die Zweige des Buschwerks fest umschlungen.
Daniel nahm die Hand von der Kupplung und legte sie ihr aufs Bein. Ein warmer Schauer durchfuhr Aimée. Daniel brauchte nur ihren kleinen Finger zu streifen, und etwas brach sich Bahn, mit voller Wucht, als hätte es jahrelang nur darauf gewartet, endlich herausgelassen zu werden.
»Guckt mal, da hinter der Mauer, da sind Schafe.« Len machte sich auf der Rückbank größer. »Und da! Das Meer!«
Aimée lachte. Obwohl er den Atlantik rund um die Uhr vor Augen hatte, faszinierte er Len noch immer wie am ersten Tag. Jeder Blick ein neuer Ozean. Ihr ging es genauso.
Daniel wich einem Schlagloch aus, seine Hand fuhr ihren Oberschenkel hoch. Sie spürte die Härchen auf ihren Armen. Es war so neu und zugleich so vertraut, dass er sie anfasste, seit wenigen Tagen erst, aber seitdem andauernd, als wollte er all das Versäumte nachholen.
Bitte hör nie wieder damit auf.
Die Falten um Daniels Augen herum waren wie Strahlen.
Die Straße öffnete sich, und das Meer war jetzt direkt vor ihnen. Seelenruhig lag es da, in einem satten, glatten Blau.
»Der Himmel und das Meer sehen aus wie durchgeschnitten.«
Aimée drehte sich zu Len um. Seit sie losgefahren waren, quasselte er ohne Unterlass. Ab und zu musste er noch husten, aber es klang nicht mehr bedrohlich. Durchs Heckfenster blickten die kreisrunden Vorderlichter ihres Bullis wie Augen zu ihnen herein. Der Bus sah müde aus, todmüde und gottergeben.
Ohne dich wären wir nicht hier, flüsterte sie ihm in Gedanken zu. Aber jetzt ist deine Zeit vorbei.
Aimée spürte ihren Worten nach. Es war richtig. Der Bulli war lange, lange Zeit ihr Schneckenhaus gewesen, aber seine Schale war brüchig geworden. Und sie war hinausgekrochen, um neue, eigene Wege einzuschlagen.
Ihr Telefon klingelte.
»Len, reichst du mir mal meine Tasche?«
Len schob ihre schwarze Tasche zwischen den Sitzen hindurch. Aimée zog das Telefon heraus. Auf dem Display stand: Aiden.
»Aiden, hallo!«
»Hi, Aimée. Geht’s euch gut?«
»Sehr gut, danke. Euch auch, hoffe ich.«
Aiden hatte gestern schon einmal angerufen, und im ersten Moment hatte Aimée nicht einordnen können, wer er war. Aber dann hatte er vom Schulfest am Porthmeor Beach gesprochen. Gestern hatte er sie gefragt, ob sie noch immer eine Bleibe suchten, die Einliegerwohnung bei seinen Nachbarn sei jetzt fertig ausgebaut. Sie sei die Erste, die davon erfuhr.
»Alles bestens. Du, ich hab jetzt noch mal mit Brenda geredet. Du könntest dir die Wohnung heute noch ansehen.«
Von drei Zimmern hatte Aiden gesprochen, plus Küche und Bad. Und das alles für Len und sie allein. Und das Beste war: Die Wohnung war bezahlbar. Brenda und Steve wollten nur die Kosten gedeckt wissen.
»Sehr gern. Wir sind gerade noch unterwegs. Aber so ab drei könnten wir vorbeikommen.«
Aiden gab ihr die Adresse durch, die wie der Zeltplatz im oberen Teil von St. Ives lag, wenn auch an einer Ausfahrtstraße. Aber Aimée war alles recht. Hauptsache, Len und sie hatten ein Dach über dem Kopf und konnten in St. Ives bleiben. Sie steckte ihr Telefon zurück in die Tasche und musste einfach grinsen. Manchmal konnte das Leben so leicht sein.
Daniels Hand lag noch immer auf ihrem Bein. »Wollt ihr …«
»Mama, was ist um drei?«, fragte Len vom Rücksitz.
»Da gucken wir uns die Wohnung an, die bei Matt nebenan ist.«
»Haben wir da einen Backofen?«
»Ja. Wieso?«
»Dann back ich uns als Erstes Pfannkuchentorte.« Er stimmte ein kleines Freudengeheul an.
»Na ja, eigentlich reicht dafür ein Herd.«
»Und warum haben wir das dann nie gemacht?« Len klang ehrlich empört.
Daniel neben ihr grinste. Wenn Aimée sich vorstellte, sie hätten am kleinen Küchenblock im Bulli mit Eiern und Pfannen, Massen an Teigfladen und heißer Schokosoße hantiert, nebenbei noch Erdbeeren püriert, dann wusste sie genau, warum sie nie auch nur auf die Idee gekommen war, Sannes Torte im Bus zu backen. Aber jetzt würde es gehen. Alles war möglich.
Daniel lenkte den Wagen in eine Haltebucht, um einen entgegenkommenden Range Rover vorbeizulassen. Die Männer grüßten sich. Am Horizont zeichnete sich die Ruine einer Zinnmine vor dem blaugrauen Himmel ab, ein kleines Steinhaus, wie gemalt, daneben ein hoher Schornstein.
»Sobald es frische Erdbeeren gibt, machen wir die Torte, versprochen.« Aimée wich automatisch aus, als Zweige am Fenster des Pick-ups vorbeistrichen. Sie lehnte sich an Daniel.
»Aber mit zwanzig Pfannkuchen.«
»Meinetwegen auch das.«
Len jubelte.
»Ihr wollt das wirklich machen?« Daniels Kinn lag auf ihrem Kopf. Er meinte nicht die Pfannkuchentorte.
Aimée setzte sich auf. »Das ist unsere Chance.«
Daniel legte beide Hände ans Steuer. Wieder peitschten Zweige ans Fenster.
»Du willst das wahrscheinlich nicht hören. Aber …«, er starrte auf die Silhouette der verfallenen Mine, »ihr könntet auch im Cottage wohnen.«
»Oh ja! Wir ziehen zu Daniel!« Len hüpfte im Sitzen.
»Hey, mal ganz ruhig.«
»Aber Mama, das wäre so schön! Und dann wäre Daniel auch nicht mehr so allein.«
Vor ihnen auf der Straße lag eine Pfütze wie ein spiegelnder See. Daniel ging vom Gas und steuerte den Pick-up hindurch. Wasser spritzte auf.
»Darum geht es nicht, Len.« Daniel machte eine Pause. »Weißt du, ich kann ziemlich gut alleine sein. Zu gut vielleicht. Es wäre einfach nur schön, wenn … wenn wir zusammen wären.« Er blickte kurz zu Aimée. »Ich weiß, es klingt überstürzt, aber in Wirklichkeit sind wir fast zwanzig Jahre zu spät dran.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Die Zinnmine lag jetzt zu ihrer Linken. Hoch auf einem Felsen saß die granitene Ruine, nicht viel mehr als eine Außenmauer, die oben in einem Dreieck endete. Die Fensteröffnung rahmte den Himmel.
»Ja!«, schrie Len. »Und dann …«
»Wisst ihr was, wir gucken uns die Wohnung erst mal an.«
Der Wagen rumpelte durch ein Schlagloch. Len und Daniel schwiegen. Aber in Aimée war es alles andere als still. Es wäre so schön, wenn sie zusammenwohnten. Wie eine kleine Familie.
Sie verschränkte die Finger im Schoß. Nein, das durfte sie nicht denken. Sie durfte nicht noch einmal denselben Fehler begehen.
Aber was, wenn es diesmal gar kein Fehler war? Es war schließlich Daniel, nicht Per. Und sie hatte einen Job, sie verdiente ihr eigenes Geld.
Daniel setzte den Blinker, das Ticken war das einzige Geräusch.
»Sind wir schon da?« Len zog den Gurt hinten lang und streckte seinen Kopf zwischen den Sitzen hindurch.
Sie bogen in einen schmalen Weg ein und hielten auf eine Einfahrt zu, über der ein Blechschild an dicken Metallketten baumelte: Scrapyard.
Daniel parkte inmitten von Reifen, Felgen und hoch aufgestapelten Blechteilen. Als der Motor des Pick-ups verstummte, war es für einen Augenblick sehr still. Möwen hockten auf einem Hügel aus zerschreddertem Metall.
»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Daniel.
Sie war ihm dankbar, dass er nicht einfach ausstieg und sie begleitete. Von dem Bulli musste sie sich alleine verabschieden.
Sie schüttelte den Kopf, gab ihm und Len einen Kuss und stieg aus dem Wagen.
Der Wind pfiff ihr um die Ohren, als sie die Schiebetür des Bullis aufzog. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen, auf der Matratze hatte sich ein großer runder Wasserfleck mit bräunlichen Ringen gebildet. Aimée erledigte alles, was sie noch zu erledigen hatte. Den Nylonfaden, der von der Decke gehangen hatte, rollte sie kurzerhand auf. Dann hörte sie ein allerletztes Mal das Ratschen der Tür.
Ein Gabelstapler fuhr den Bulli in eine Halle. Zögernd folgte sie ihm. Sie hätte an dieser Stelle gehen und wieder zu Len und Daniel in den Wagen steigen können. Aber sie blieb. Sie musste das hier zu Ende bringen.
Als sie an der Halle ankam, war der Bus bereits hochgebockt. Mit schnellen Handgriffen baute ein Mann in grauem Overall die Batterie aus, ließ Öl, Wasser und das restliche Benzin ab und löste die Reifen. Minuten später fuhr der Gabelstapler den Bulli wieder aus der Halle hinaus. Ein großer Greifarm packte ihn. Wie ein Maul öffnete sich die riesige Zange und ließ den Bus in die Presse fallen. Dabei zwinkerte ihr der alte Bulli mit den kreisrunden Scheinwerferaugen noch einmal zu.
Mit einem Scheppern knallte er aufs Metall. Die Backen der Presse drückten die alte Karosserie zusammen, es knirschte erbärmlich, Glas splitterte.
»Danke, dass es dich gab«, flüsterte Aimée.
Sie wandte sich ab und lief mit schnellen Schritten auf den Pick-up zu. Der Wind pfiff über den Hof. In ihrer Hand schaukelte das Mobile.