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»Aber ich könnte doch …«

»Du nervst.«

»Ich finde ja, du solltest …«

»Sag mal! Hör mir zu! Du nervst! Verdammt!«

Marcus Hamilton schloss seinen Mund, fing gerade noch die nächsten Worte ein, bevor sie diesen verlassen konnten. Margie sah ihn an, das Gesicht in finstere Falten gelegt, die blasse Haut mit der Röte gerechten Zorns gefüllt, und er beglückwünschte sich dazu. Margie hatte wirklich schwach ausgesehen, sehr zerbrechlich, nachdem sie aus dem Heilschlaf geholt worden war. Obgleich es ihr physiologisch immer besser ging und die Bordärztin sich sehr zufrieden zeigte, hatte Marcus eher den gegenteiligen Eindruck gehabt. Doch jetzt hatte er sie durch seine penetrante Fürsorge so aufgeregt, dass endlich Farbe in ihr bleiches Gesicht zurückgekehrt war. Mission erfüllt.

Gut, vielleicht mit ein paar Abstrichen.

»Dies ist eine Durchsage des Kommandanten!«, enthob Vara ihn jeder weiteren Antwort, und er sah beinahe dankbar in Richtung des Wandschirms, auf dem das wie immer emotionslos wirkende Gesicht des Kommandanten erschienen war. Eigentlich hieß es ja »die Kommandantin«, und man erwartete die klare Stimme von Zadiya Ark. Doch das hatte sich kürzlich geändert, und es kamen nicht alle an Bord gut damit zurecht. Die Gerüchteküche um Captain Ark brodelte seit der Katastrophe bei Asteroid 17 besonders heftig, nicht zuletzt weil die Frage »Wie hätte Ark gehandelt?« offenbar viele umtrieb. Vergleiche anzustellen, das war möglicherweise unfair, doch die Schnattermäuler hielt dies gewiss nicht davon ab, es trotzdem zu tun. Dass bei fast allen dieser Vergleiche Vara nicht sonderlich gut abschnitt, beunruhigte Marcus.

Ob Vara auch beunruhigt war? Er klang jedenfalls nicht so. Ruhig und professionell wie immer machte er seine Ansage.

»Wir haben die letzten Raketenwerfer bestückt und wurden jetzt von der Onyx-Administration um die Erfüllung einer neuen Aufgabe gebeten. Unser Weg führt in das benachbarte System E-37-A3. Es besitzt keinen Eigennamen und ist weder besiedelt noch von anderer Bedeutung, außer als Orientierungspunkt für anreisende Frachter aus dem spinwärtigen Outback. Es gibt Gerüchte über Probleme – Sicherheitsprobleme. Wir sollen deshalb dort nach dem Rechten sehen. Wir beschleunigen bereits seit einiger Zeit, Hypersprung in dreißig Minuten. Ich wünsche, dass alle Stationen voll besetzt sind, aber normale Rotation. Vara Ende.«

»Sicherheitsprobleme«, murmelte Margie, die ihren Disput bereits vergessen hatte. Sie lag in ihrer normalen Koje, nachdem von Kampen sie zu Schichtbeginn aus der Krankenstation entlassen hatte. Der Heiltank sowie die Injektion regenerativer Nanobots hatten Wunder gewirkt. Margie atmete manchmal noch etwas schwer, und ja, es gab noch eine sichtbare Wunde, aber das ließ sich ebenfalls regeln. Es ging ihr gut. Sie war sogar für leichten Dienst freigegeben, doch Simmons hatte sie noch nicht eingeteilt. Marcus war das recht. Ihr natürlich nicht.

Margie sah Marcus an. »Du weißt, was das bedeutet, oder?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, erwiderte dieser. »Piraten oder Aufständische. Mangels Bevölkerung und mangels Staat scheiden Aufständische aus. Also sind es Piraten. Wer hätte es für möglich gehalten, dass es einmal so weit kommt?«

»Wann haben wir die letzten echten Piratenaktivitäten gehabt? Während der Hochphase des Krieges?«

»Das waren Freibeuter, und sie haben sich dermaßen die Nase blutig geschlagen, sodass es nur eine Episode blieb.« Die Proxima war nicht selbst involviert gewesen, aber sie hatten die Geschichte oft gehört. Eine der aufständischen Kolonialregierungen hatte Kaperbriefe verteilt, einer guten, alten irdischen Tradition folgend. Einige Abenteuerlustige – oder sollte man besser Wahnsinnige sagen – hatten daraufhin unter Verkennung der damit verbundenen Risiken diese Erlaubnis zum Plündern angenommen. Zu ihrem Unglück in maßloser Selbstüberschätzung. Und so waren sie gegen die Flotte der Republik chancenlos gescheitert. Aber jetzt war eine andere Zeit, eine andere Konstellation und eine andere Verteilung von Macht – und Piraten warteten längst nicht mehr auf die Erlaubnis irgendeiner Regierung.

Aber richtige altmodische Piraten? Seltsame Bilder entstanden vor Marcus’ geistigem Auge – und wohl nicht nur vor seinem.

»Ob die dauernd ›Arrrgh‹ sagen?«, stellte Margie eine der wichtigsten Fragen.

Marcus runzelte die Stirn. »Ich befürchte«, unkte er, »sie werden in nichts dem illustren Klischee entsprechen, sondern im Zweifelsfalle einfach nur überaus brutale und rücksichtlose Fieslinge sein.«

»Kein Holzbein? Keine schwarze Augenklappe?«

»Ich befürchte, wir werden auch auf Papageien verzichten müssen, die Beleidigungen krächzen.«

Margie winkte ab. »Dann überlasse ich das dir und ruhe mich lieber noch etwas aus.«

Marcus erhob sich und lächelte auf sie herunter. Sie nahm ihre erzwungene Passivität mit Würde, das schätzte er an ihr. »Meine Schicht beginnt. Du brauchst …«

»Noch ein Wort, und du wanderst über die Planke, Kamerad!«

Es schien, als hätte seine Freundin bereits die richtige Einstellung zu ihrer neuen Mission gewonnen. Marcus salutierte stumm und verließ die Kabine. Er lächelte, als sich die Tür hinter ihm schloss. Margie ging es wieder gut. Das war das Wichtigste.

Die Proxima , die eben noch mit nur sanfter Beschleunigung durch das Vakuum geschwebt war, erwachte um ihn herum zum Leben. Natürlich waren alle Anlagen ganz hervorragend gedämmt, aber Marcus hatte nun schon sehr viel Zeit an Bord dieses Schiffes verbracht. Er kannte jede Ecke, fast jede Maschine und hatte darüber hinaus ein Ohr dafür entwickelt, was sich richtig und was sich falsch anhörte. Diese fast schon instinktive Verbundenheit mit der mächtigen Metallkonstruktion, in deren Inneren er lebte, erlaubte ihm, das Erwachen des Schiffes, das Hochfahren der Kraftwerke und das Erreichen einer höheren Bereitschaftsstufe förmlich zu fühlen.

Vara hatte volle Kraft befohlen, und das merkte Marcus ganz genau. Seine Sinne nahmen die zahlreichen, manchmal sehr subtilen Signale auf. Kontrollleuchten, die anders zu schimmern begannen, Crewmitglieder, die Ziele anstrebten, ein lautes Summen aus einer Sektion, an der er vorbeiging, Meldungen und Bestätigungen, die manchmal nur in Wortfetzen durch die Luft schwebten. Es war zugleich eine reale und eine vielleicht auch nur eingebildete Energie, die sich in seinem Unterbewusstsein zu einem Eindruck zusammensetzte, der ihn niemals täuschte.

Im Maschinenraum erwartete ihn der unentwegte Simmons, der bereits in die Vorbereitungen zum Hypersprung eingetaucht war. Er winkte Marcus an seine Station heran. Dieser näherte sich mit plötzlich erwachtem Misstrauen. Es gab Dienstpläne. Er war zur Generatorenwache eingeteilt. Das hatte mit dem zentralen Steuerpult nichts zu tun.

Simmons grinste ihn an. Er führte was im Schilde, daran bestand kein Zweifel.

»Haben Sie schon den Spezialistenkurs III absolviert, Hamilton – wie ich es Ihnen befohlen habe?«

Diese Frage war Marcus unangenehm.

»Ich … es kam so viel dazwischen.«

»Unsinn. Wenn Sie mal ein richtiger Ingenieur werden wollen, müssen Sie sich weiterbilden. Ich werde auch nicht jünger.«

Sich als direkten Nachfolger von Simmons vorzustellen, war Marcus noch gar nicht in den Sinn gekommen. Hatte sein Vorgesetzter tatsächlich solche Vorstellungen? Warum redete niemand mit ihm darüber, anstatt ihm solche Brocken hinzuwerfen?

Simmons winkte ihn noch näher heran. »Lernen Sie, junger Mann. Lernen Sie durch Tun. Bringen Sie die gute, alte Proxima in den Hyperraum.« Und er zeigte auf die Kontrollkonsole vor sich. Marcus machte einen Schritt vorwärts. Er war nicht überwältigt – alle Techniker mussten ab einem gewissen Dienstgrad zumindest eine grobe Einweisung in wichtige Steuerelemente des Schiffes bekommen. Schließlich wusste man nie, wo man in einer echten Krise landete und welche Entscheidungen man umzusetzen hatte. Marcus hatte sich bei diesem Trainings immer ganz ordentlich angestellt, aber das letzte war schon einige Zeit her.

Er orientierte sich kurz, dann war er sich einigermaßen sicher, das Schiff nicht im Zentrum der Milchstraße zu versenken, sollte er tatsächlich die Knöpfe drücken dürfen.

Er machte sich keine echten Sorgen. Die KI des Schiffes passte auf, und der komplexe Vorgang des Übertritts vom Einstein-Universum in das mehrdimensionale Kontinuum konnte vom menschlichen Verstand und den ihn fütternden Sinnen gar nicht erfasst werden. Allein die KI bekam diese Millisekunden bewusst mit, für Menschen waren sie lediglich ein Flackern im Bewusstsein, bis die Abschirmung des Antriebs das Schiff vollständig umschloss und durch den Hyperraum geleitete. In dieser kaum messbaren Zeit hatte einzig die KI die Kontrolle über das Schiff. Es war ein seltsamer Gedanke.

»Soll ich wirklich? Weiß der Captain davon?«, vergewisserte er sich.

»Ich tu meine Arbeit, Vara tut seine Arbeit«, grummelte Simmons. Erneut die einladende Geste, diesmal mit etwas mehr Nachdruck. »Haben Sie Angst vor der Verantwortung? Ich habe Sie für selbstbewusst und flexibel gehalten, Hamilton.«

Das war eine gefährliche Frage, denn das war exakt das Problem. Deswegen hatte er dem Drängen Margies, sich für die Offizierslaufbahn zu bewerben, so lange widerstanden. Als er sich endlich dazu durchgerungen hatte, gab es für ihn keine Offiziersakademie mehr – und keine neue Laufbahn, es sei denn, die Proxima fand irgendwann einen neuen, richtigen Heimathafen. Onyx war, zumindest in seinen Augen, nicht mehr als eine Zwischenlösung, auch wenn er sich über das, was möglicherweise danach kommen könnte, absolut keine Vorstellung machen konnte. Laut Margie war das aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Er war sich da nicht so sicher.

»Nein, natürlich nicht!«, log er, weil das die Antwort war, die Simmons von ihm erwartete. Der Ingenieur sah ihn für einen Moment prüfend an, nickte dann und stellte sich in Reichweite, um gegebenenfalls eingreifen zu können. Das würde natürlich nicht notwendig sein. Marcus mochte Verantwortung zwar nicht, doch das bedeutete keineswegs, dass er ihr nicht gerecht werden würde.

Ihm wurden Blicke von den anderen Crewmitgliedern im Raum zugeworfen. Einige voller Neid. Was stimmte nicht mit denen?

Befehle schwirrten durch den Raum, gelassene Geschäftigkeit brach aus, Routineaufgaben wurden abgespult, und Marcus entspannte sich ein wenig. Der Countdown wurde eingeblendet, Marcus machte eine Freigabe, eine zweite, löste automatische Prozesse aus, die letztlich, wie alles Komplexe, von der KI gesteuert wurden.

»Eintrittsgeschwindigkeit!«, sagte Simmons. Meldungen wurden gemurmelt.

»Generatoren grün.«

»Konverter grün.«

»Triebwerk grün, Nominallast.«

»Hyperspule aufgeladen und einsatzbereit«, waren die Worte, die von Marcus erwartet wurden und die er mit scheinbarer Gelassenheit aussprach. Margie hätte vielleicht den sanften Anflug von Heiserkeit bemerkt, aber Simmons war ihm zum Glück nie so nahegekommen, diese Nuancen zu verstehen.

»Brücke befiehlt Sprung!«

»Sprung wird bestätigt!«

Es war gar nicht so aufregend. Marcus gab manuell die Freigabe für den letzten automatischen Prozess ein. Theoretisch konnte er ihn innerhalb der nächsten fünf Sekunden noch abbrechen, falls sich Vara spontan umentscheiden würde. Was er nicht tat. Die Maschinen der Proxima erledigten wie erwartet ihre Arbeit, schoben das Schiff aus dem Einstein-Kontinuum in ein anderes, das nicht unter der Restriktion der Lichtgeschwindigkeit litt, und wie meistens nahm Marcus diesen Übergang nur durch einen sanften Schwindel war. Es gab Leute, selbst erfahrene Raumfahrer, denen immer noch schlecht wurde. Es war, als würde jeder Körper anders darauf reagieren, dass er eigentlich kurz nicht mehr existierte, aber dann plötzlich irgendwie doch wieder.

»Na, das war doch gar nicht so schlimm«, sagte Simmons mit einem gönnerhaften Unterton. »Und jetzt eine spannendere Aufgabe: Abwasserleitung auf Deck 2. Sieht ganz, ganz übel aus.« Er sah den jungen Mann prüfend an. »Sie sollten sich die langen Gummihandschuhe anziehen. Die wirklich langen.«

Marcus sah auf die Uhr. Die Etappe im Hyperraum würde nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen, vielleicht eine Stunde. Zeit genug aber, um sich richtig einzusauen. Vielleicht sollte er am Ende doch nach ein wenig mehr Verantwortung streben.