5

Marcus Hamilton verließ das Raumboot zusammen mit drei weiteren Technikern. Die schwere Werkzeugtasche, bis eben nur Masse, bekam im künstlichen Schwerefeld des Frachters Gewicht, und er stolperte beinahe. Marcus fluchte, schalt sich einen Narren aufgrund seiner mangelnden Vorsicht und schaute in die Augen einer jungen Frau, die ihn etwas amüsiert anlächelte. Er bemühte sich um Würde, richtete sich auf, nickte ihr zu.

»Spezialist Hamilton«, sagte er dann und tippte sich nonchalant mit dem Zeigefinger an die Seite seines Kopfes, eine Art Salut imitierend. »Sie haben technische Probleme.«

»Erster Maat Kohanen«, stellte sich die Frau vor, immer noch die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. »Sie sind zu viert?«

»Der Pilot bleibt im Raumboot. Oder haben Sie weitere Verletzte, die transportiert werden müssen?«

»Ach«, sagte die Frau mit einem Achselzucken. »Noch nicht, aber wer weiß, es kann ja noch werden. Ihre Ärztin hat die Sache aber wohl im Griff.«

Marcus sah sie forschend an. »Werden? Sind die Beschädigungen so schwer? Geht da was durch? Wir können sofort …«

»So schlimm ist es nicht, Spezialist. Aber uns geht die Luft aus, die Zirkulatoren und Luftreiniger sind ausgefallen. Dieses alte Schiff hat noch eine zentrale Filteranlage, und sie hat etwas abbekommen. Da könnten wir Ihre Hilfe ganz sicher brauchen. Danach die Energieversorgung und die größeren Lecks, die der Massetreiber gerissen hat – uns geht die Arbeit bestimmt nicht so schnell aus.«

Das war in etwa das Bild, das sich Marcus bereits von der Lage gemacht hatte.

»Die Luftversorgung ist von zentraler Bedeutung, da fangen wir am besten an. Führen Sie uns hin!«

»Gerne – folgen Sie mir. Vorsichtig, es liegen einige Trümmer herum.«

Marcus sah sich um. Er kannte das Schiffsdesign. Die Eliza war ein demilitarisierter Marinefrachter, einer von drei klassischen Typen von Raumtransportern, die seit über einhundert Jahren mit ihren Standardhüllen im Rahmen der Flottenlogistik eingesetzt wurden. Sie hatte mal anders geheißen, gewiss, und es waren an der Wand noch die schwachen Umrisse der dicken Flottenplakette zu erkennen, die einstmals dort befestigt gewesen war und Besuchern Registernummer und Schiffsnamen präsentiert hatte. Der Frachter musste rechtschaffen alt sein, wenn er an Zivilisten verkauft worden war – oder es war eine Transaktion gewesen, die sehr viel mit der allgegenwärtigen Korruption der alten Republik zu tun gehabt hatte. Wie dem auch sei, Marcus kannte sich aus. Er hatte sogar eine Dienstzeit auf einem vergleichbaren alten Kasten absolviert, zwei Jahre, die er immer wieder beinahe vergaß, weil absolut nichts passiert war.

»Wo ist Dr. von Kampen?«, fragte er.

Kohanen sah ihn augenzwinkernd an. »Sie und ihre Sanitäter helfen unseren Verletzten im Maschinenraum. Der Captain ist bei ihnen. Sie werden ihn bald kennenlernen.«

Sie ging voran, die vier Techniker folgten ihr, und Marcus war sich nicht ganz sicher, was ihn daran störte. Er hielt die Augen auf, beobachtete nur ein weiteres Besatzungsmitglied des Frachters, das an einer Abbiegung wartete, um ihnen Platz zu machen, ein gebeugt dastehender Mann mit tiefen Augenringen und einem Riss im Druckanzug, der seinen Tod bedeuten konnte. Alles sah genau so aus, wie man es nach einem Angriff erwartete, und Kohanen blickte sich nicht einmal um, um sicherzustellen, dass ihre Gäste folgten. Sie schien ihnen blind zu vertrauen.

Woher das Misstrauen auch kam, das ihn kurz angefallen hatte, es beruhigte sich wieder.

»Da wären wir.«

Marcus sah sich um. Es war eine wirklich antike Verteilerstelle der Luftumwälzung, und nicht nur das. Gleichzeitig war hier ein Terminal aller Versorgungskanäle aufgebaut worden, eine Zentrale für die Lebenserhaltung. Das war gewiss praktisch: Ein gelangweilter Techniker hatte alles im Blick. Das war auf einem Schiff mit kleiner Besatzung wie der Eliza bestimmt von Vorteil. Ein Raum mit Schläuchen und Ventilationsschächten, leicht zugänglich durch vier Zugangsschleusen, aber ebenso leicht außer Gefecht zu setzen, wenn mal etwas schiefging. Produkt eines veralteten Designdenkens, das Zentralisierung als notwendiges Übel für eine preiswerte Produktion von Schiffen angesehen hatte. Dabei war wie so oft vergessen worden, dass bei den zu erwartenden Problemen die langfristigen Kosten sehr viel höher sein würden als die Summe, die man eingespart hatte.

Etwas knackte in seinem kleinen Ohrlautsprecher. Es war die Stimme Simeons.

»Hamilton. Passen Sie auf. Nichts anmerken lassen, nur nicken und lächeln. Die Verwundeten, die wir an Bord gebracht haben, haben sich gerade selbstständig gemacht. Wir …« Etwas krachte im Hintergrund. Marcus spürte plötzlich sein Herz schlagen. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Er nickte und lächelte wie befohlen. Es war wie eine Gesichtslähmung, er wirkte bestimmt nicht sehr überzeugend. »Sie haben einen Sprengsatz ins Lazarett geschmuggelt und zwei Wachen die Waffen abgenommen. Der Frachter Eliza ist nicht das Opfer …« Etwas krachte erneut. Die Verbindung brach ab.

Die Eliza war nicht das Opfer, dachte Marcus. Sie war das Piratenschiff!

»Alles in Ordnung?«, fragte Kahonen. Sie sah ihn forschend an.

»Bestens.«

»Hamilton, haben Sie befohlen, dass ich wieder zur Proxima übersetze?«, erklang nun die Stimme des Raumboot-Piloten in seinem Ohr. »Hier tauchen gerade … hey! He, Moment mal …« Und dann brach auch diese Verbindung ab, ehe Marcus auch nur ein Wort sagen konnte.

Er konnte gar nichts mehr tun. Es war zu spät.

Fünf Leute in abgerissen wirkenden Monturen betraten den Raum. Sie benutzten alle vier Zugänge gleichzeitig, und die Waffen in ihren Händen machten einen absolut funktionsfähigen Eindruck. Marcus wusste sofort, dass er mit Widerstand nichts erreichen würde, und hob seine Hände.

Nicht alle waren damit einverstanden. Einer seiner Begleiter sprang nach vorne, direkt auf den ihm am nächsten stehenden Bewaffneten zu. Vielleicht hätte es geklappt, wenn dieser abgelenkt gewesen wäre, vielleicht auch, wenn der Techniker etwas von waffenlosem Kampf verstanden hätte. Beides war nicht der Fall. Marcus öffnete noch den Mund, um den Mann von seiner sinnlosen Tat abzuhalten, doch es war zu spät.

Der Bewaffnete machte einen leichtfüßigen Ausfallschritt nach rechts, hielt die Waffe in seiner Hand dabei absolut ruhig und auf den Angreifer gerichtet. Er machte so was nicht zum ersten Mal. Dann bellte die Pistole los, und der Mann von der Proxima zuckte getroffen auf, blieb unvermittelt stehen, um dann mit einem langen Stöhnen zu Boden zu gehen. Sein Oberschenkel war perforiert, der Anzug schloss die Einschussstelle sofort, sodass so gut wie kein Blut austrat. Der am Boden liegende Techniker aber war kalkweiß im Gesicht. Der Schock war sofort eingetreten.

Marcus beugte sich zu ihm herunter.

»Nichts dergleichen!«, sagte Kahonen scharf. »Aufstehen! Er hat bestimmt eine medizinische Automatik, oder nicht? Ihr habt doch dieses moderne Zeugs, er wird schon das richtige Mittelchen bekommen.« Die Bewegung der Waffe, die nun auch in ihrer Rechten lag, unterstrich ihre Aufforderung unmissverständlich. »Legen Sie Ihre Ausrüstung da drüben ab. Die Waffen gleich mit. Versuchen Sie keine Tricks. Wir haben Sie alle im Auge. Verhalten Sie sich ruhig, und niemand sonst muss verletzt werden.«

»Was haben Sie vor?«, fragte Marcus, eine gleichermaßen naheliegende wie im Grunde unnötige Frage. Er folgte den Befehlen, und der kleine Haufen an Werkzeug und Waffen wurde mit Füßen zur nächsten Wand geschoben, außer Reichweite der Gefangenen.

Kahonen lächelte. »Es ist nicht an mir, das zu erklären.«

»Ich erledige das, Lari! Bin schon da!« Eine angenehme, volltönende Stimme, die den ganzen Raum mit einer eigenen Vibration zu erfüllen schien. Köpfe drehten sich. Lari Kahonen lächelte breit, offensichtlich hocherfreut über das Auftreten des Neuankömmlings. Marcus sah ihn sich an, und bereits in den ersten Sekunden gingen ihm die Adjektive aus, mit denen er den Mann richtig hätte beschreiben können. Eine Persönlichkeit mit immenser Ausstrahlung, dabei beließ er es. Und jemand, vor dem er sich in Acht zu nehmen hatte.

»Captain Harrow, die Techniker von der Proxima «, stellte Kahonen ihre neuen Gäste vor.

»Ah ja, wie schön. Gab es Probleme?«

»Sanft wie Lämmer. Bis auf den einen.« Sie zeigte auf den Verletzten, der sie hasserfüllt anstarrte. Marcus sah, dass der Anzug die Wunde versiegelt und dem Mann eine stärkende Injektion gegeben hatte. Er war nicht in unmittelbarer Gefahr und hatte auch nicht allzu viel Blut verloren. Dennoch gehörte er sofort in medizinische Behandlung.

»Lassen Sie Dr. von Kampen kommen«, bat er.

»Nein, nein, das geht gerade nicht«, winkte Harrow ab. »Wir sind alle etwas beschäftigt. Wie schade, dass es auf der Proxima nicht ganz so gut läuft wie bei dir, Lari. Wer führt hier das Kommando? Sie dort?« Harrow hatte Marcus zielsicher ins Auge gefasst. Es gab keinen Grund, sich zu verstecken.

»Ich bin …«

»Gar nicht so wichtig. Einmal umdrehen bitte. Nicht erschrecken. Lari?«

Kahonen stellte sich vor Marcus und aktivierte einen Schirm, die Optik direkt auf Marcus gerichtet. Harrow, in seinem Rücken, drückte die Mündung einer Waffe in Hamiltons Nacken, nicht schmerzhaft, aber unmissverständlich.

»Verbindung herstellen!«, hörte er Harrows Stimme an seinem rechten Ohr. Er roch den Mann auch. Hier stand jemand, der wusste, wie man mit einem Herrenparfüm umging, das war mal klar.

Kahonen nickte. Das Bild flackerte kurz.

»Ich bin Captain Harrow von der Eliza . Mit wem spreche ich?«

Varas Abbild erschien. Seine ungehalten wirkende Stimme brach aus einem Lautsprecher. »Vara, Kreuzer Proxima . Rufen Sie Ihre Leute zurück, Harrow!«

»Nein, nein. So wird das nichts. Ich habe Ihre Techniker und Ihre Bordärztin in meiner Gewalt. Hier, der junge Mann wird es bestätigen.« Marcus spürte den Druck an seinem Hals kurz stärker werden. Eine Aufforderung.

»Captain Vara, meine Leute und ich sind in der Gewalt der Piraten. Über das Schicksal der Ärztin kann ich nichts aussagen, aber ich glaube, Harrow spricht die Wahrheit.« Marcus fühlte sich bei jedem Wort erniedrigt. Vara sah ihn nicht einmal richtig an.

»Danke, danke, junger Mann«, sagte der Pirat. »Captain Vara, ich schlage etwas vor. Sie übergeben uns die Proxima, und Ihre Leute setzen unverletzt auf die Eliza über. Ich schenke sie Ihnen. Sie ist überlichtfähig, mit ein paar Reparaturen ist sie wieder in Schuss. Sie können sicher hinfliegen, wohin auch immer Sie wollen. Kein Grund für unnötiges Blutvergießen.«

»Was wollen Sie mit der Proxima

»Viel Geld verdienen. Sie übergeben mir natürlich alle Codes. Die Bord-KI wird runtergeregelt. Ich kann naseweise Computer nicht leiden.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Ach so.« Harrow schüttelte den Kopf. »Richtig. Lari?«

»Muss das sein, Captain?«

»Wir tun, was zu tun ist. Bitte.«

Kahonen drehte die Kamera zu dem Techniker, der verletzt am Boden lag. Er starrte Harrow mit aufgerissenen Augen an, als der Pirat seine Waffe auf ihn richtete.

»Tut mir leid. Betrachten Sie es als Dienst an Ihrer Mannschaft!«

Harrow drückte ab. Er zielte gut. Das Projektil schlug in den Brustkorb des Liegenden ein und tötete ihn sofort. Lari Kahonen presste die Lippen aufeinander, hatte ihre Abneigung aber unter Kontrolle, mehr als Marcus. Der zitterte, spürte, wie das Blut ihm aus dem Gesicht wich. Er wollte etwas sagen, aber daraus wurde nichts, denn er fühlte, wie Harrow die noch warme Mündung der Waffe wieder an seinen Hals drückte.

»Beantwortet das Ihre Frage, Captain Vara?«

»Sie sind wahnsinnig!«

Harrow lachte. »Ja, vor allem wahnsinnig gut aussehend. Sie haben zwanzig Minuten. Keine Tricks, Vara. Ich bin nicht völlig verblödet.«