III.
Der Zahn der Zeit
Jazmin befand sich in ihrer Kabine. Eben noch hatte sie unter der Dusche gestanden und wollte sich die Haare waschen, jetzt saß sie mit zitternden Händen am Boden und ließ das Wasser widerstandslos über ihren Kopf laufen. Sie fühlte sich, als ob ihr jemand Jahre ihres Lebens gestohlen hätte. Für jedes Jahr im Kälteschlaf alterte ein Mensch normalerweise um weniger als einen Tag, sie war Ärztin und Biologin, damit kannte sie sich bestens aus. Während dieses künstlich herbeigeführten Zustands wurde alles im Körper um den Faktor vierhundert verlangsamt. Das Herz schlug nicht mehr sechzigmal in der Minute, sondern nur einmal alle sieben bis acht Minuten, und der metabolische Energiebedarf sank auf unter fünf Kalorien am Tag.
»Das kann nicht sein …« Jazmin betrachtete erneut ihre langen Haare, die durchnässt an ihrer Brust klebten, und wollte es nicht wahrhaben. Sie hatte nicht nur ein paar graue Haare bekommen, nein, ihre Mähne war während des siebenjährigen Kälteschlafs schneeweiß geworden. Für diesen ungewöhnlichen Vorgang war ihr in der Geschichte der bemannten Raumfahrt keinerlei Referenz bekannt. Niemand wurde über Nacht grau. Das war ein Mythos. Auch eine Woche genügte nicht, damit sich pechschwarze Haare derartig aufhellten. Sieben Jahre Kälteschlaf offenbar schon.
»Was ist … passiert?« Jazmin versuchte, ihre Emotionen einzufangen, die wie eine Herde Wildpferde umhersprangen. Ihr Puls verlangsamte sich. In Gedanken trieb sie ihre Ängste in eine Koppel. Der Blick auf ihre Arme und Beine zeigte ihr, dass sie ansonsten nicht gealtert war. Alles okay. Es war nur der Schreck gewesen, der ihr die Beine hatte weich werden lassen. Die Reise mit der USS
London
war in vielerlei Hinsicht der Aufbruch in ein neues Leben. Für Millionen Embryos, die das Raumschiff transportierte, wie für jedes Besatzungsmitglied und natürlich auch für sie. Auf der neuen Welt würde nichts mehr so sein wie bisher. Die Erde würde niemand an Bord jemals wiedersehen.
Sie hatte sich angezogen. Eine körperbetonte weiß-graue Arbeitsuniform. Über der linken Brust befanden sich ihr Name, Rangabzeichen und der für Ärzte typische Äskulapstab. Die Haare hingen ihr wie immer als langer Zopf den Rücken hinab.
»Mutter.« Wenn nicht gerade Meteoriten einschlugen, konnte man in jedem Raum an Bord mit der KI
sprechen. Bei Bedarf auch mehrere Personen gleichzeitig. Mutter hatte für jeden ein offenes Ohr.
»Colonel Harper.«
»Ich habe ein Problem mit meinen Haaren …« Jazmin wusste noch nicht, wie sie mit der Veränderung umgehen sollte.
»Wie kann ich helfen?«
»Es ist die Farbe.«
»Colonel, Sie befinden sich in Ihrer Kabine. Dort sind meine Sensoren nur auf ausdrücklichen Wunsch aktiv.«
»Fühl dich eingeladen …« Die weißen Haare würden in Kürze auch alle anderen sehen.
»Sie haben Ihre Haare gefärbt?«
Noch nicht einmal die KI
vermutete als Erstes den Kälteschlaf als Auslöser des Farbwechsels.
»Nein, Mutter!«
»Aber Sie haben doch ansonsten dunkle Haare.«
»Hatte …«
»Hat der Kälteschlaf die Änderungen ausgelöst?«
»Ich war es jedenfalls nicht.«
»Ich verstehe.«
»Ich nicht.«
»Colonel, das ist eine ungewöhnliche Reaktion. Dafür ist mir keine Referenz bekannt. Gibt es weitere Auffälligkeiten?«
»Ich habe schlechte Laune!« Jazmin dachte daran, sich die Haare zu färben, hatte aber kein Haarfärbemittel zur Hand.
»Wegen der Haare?«
»Wegen der Notfallübung, der ich vermutlich diese Veränderung zu verdanken habe.« Jazmin glaubte immer noch, dass alles erst vor zwei Stunden passiert war. Die weißen Haare waren ihr eigentlich egal, sie würde sie nicht färben.
»Das halte ich für ausgeschlossen.«
»Warum sind diese drastischen Übungen notwendig?« Jazmin hatte keine Ahnung, wie sie Rufus je wieder unbefangen in die Augen blicken konnte.
»Das ist eine Sicherheitsvorgabe, die ich umzusetzen habe. Colonel, haben Sie traumatische Erlebnisse erfahren? Benötigen Sie psychologische Hilfe?«
»Nein.« Sie wusste es nicht. Ihr fehlte der Abstand. Betroffene waren selten in der Lage, sich selbst korrekt zu diagnostizieren, das galt auch für Ärzte. »Liegen dir die Daten meiner Übung vor?«
»Ich kenne Ihre Bewertung, die hervorragend ist, meinen Glückwunsch dazu.«
»Nein … ich meine, ist dir das Szenario bekannt, mit dem ich konfrontiert wurde?« Jazmin wollte unbedingt mit jemandem über diese Erlebnisse sprechen. So etwas steckte man nicht einfach weg und ging danach ins Bett. Sie hatte den Tod von General Mellenbeck erlebt, für sie war jedes Detail dieser Katastrophe real gewesen.
»Nein.«
»Aber du hast doch Zugriff auf sämtliche Computer. Kannst du dir die Daten nicht besorgen? Ich habe dazu einige Fragen.«
»Dazu fehlt mir die Berechtigung. Nur der Kommandant verfügt über die Kommandocodecs, um einen Zugriff zu erlauben. Sprechen Sie mit General Mellenbeck. Mit seinem Einverständnis kann ich die verschlüsselten Archive öff
nen.«
»Natürlich …« Natürlich kannte Jazmin die Abläufe auf dem Schiff. Sie hatte wie die gesamte Crew viele Jahre für diese Mission trainiert. Die Kommandooffiziere und die Techniker waren handverlesen, bestens ausgebildet und mussten vor dem Start auch unter schwierigsten Bedingungen ihre Zuverlässigkeit unter Beweis stellen. Nur die Familienangehörigen der Crewmitglieder hatten es etwas leichter. Obwohl sie es auch erlebt hatte, dass gute Leute die Zulassung nicht erhielten, weil ihre Partner bei den Minimalanforderungen gescheitert waren.
»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
»Gerne …«
»Lassen Sie los.«
»Dieses Notfallszenario?«
»Das auch …«
Jazmin stutzte, diese Worte hätte sie von Mutter nicht erwartet. Nicht weil die KI
dazu intellektuell nicht in der Lage
war, sondern eher wegen der Nähe, die sie in dieser Form noch nie erlebt hatte. Jazmins Vater hatte die zentralen Routinen von Mutter entwickelt. Er galt in dieser Disziplin als ein Genie. Als Duncan Harper Mutters Root-Protokolle geschrieben hatte, war Jazmin noch ein kleines Kind gewesen. Sie konnte sich sogar noch daran erinnern, wie sie mit dem ersten Prototyp, den ihr Vater auf ein Pad-System geladen hatte, Schach gespielt hatte. Nicht gerade typisch, dass eine Dreijährige mit einer hundert Milliarden Dollar teuren Software spielte. »Wie soll ich das verstehen?«
»Haben Sie keinen Hunger?«
»Doch …« Jazmin ließ den Themenwechsel zu.
»Sie haben bereits länger nichts mehr gegessen, oder?«
»Sieben Jahre!« Sie griff sich an den Bauch, wo ihr zwei Kilogramm fehlten. Da die sieben Jahre um den Faktor 400
metabolisch gestaucht wurden, hatte sie faktisch sieben Tage nichts gegessen. Das medizinische Kontrollsystem der Kältebetten achtete nur auf den Flüssigkeitshaushalt.
»Guten Appetit!«
Jazmin ging zur Kantine. Die Verpflegung auf der USS
London
war ausgesprochen gut. Da Raumschiffe der Spread-Klasse auch zahlreiche Pflanzen und Tiere dabeihatten, standen der aktiven Besatzung frisch angebautes Gemüse, Obst, Fisch, Hühner, Gänse, Schafe, Schweine und Kühe zur Verfügung. Das Schiff war wie eine Arche, nur mit besseren Betten und gefüllten Vorratsschränken.
»Hi, Jazmin …«
»Hi, Rufus.« Ihm als Erstes zu begegnen war schon ein besonderer Zufall. Major Rufus Simmerkirk half Mutter, ihre Datenbank neu zu indexieren. Das hätte die KI
zwar auch selbst hinbekommen, aber Menschen mit dieser Aufgabe
zu betrauen gab allen Beteiligten das Gefühl, ein Team zu sein. Mutter war ein akzeptiertes Mitglied der Mannschaft, niemand hatte Angst vor ihr, da ihre Prozesse transparent waren.
»Der Fisch ist gut heute …«
»Ich denke darüber nach.« Jazmin mochte keinen Fisch. Sie war der Hühnchen-mit-Gemüse-ohne-Soße-Typ.
»Und wie wäre es später mit einem Bier?« Rufus lachte. Er sah nicht schlecht aus. Ein Meter neunzig, sportlich, blonde Locken, Vollbart. »Nein, warte, ich kenne deine Antwort … Du denkst darüber nach.«
»Du hast es verstanden.« Jazmin warf ihm noch ein Lächeln zu und ging weiter. Es spielte keine Rolle, ob er attraktiv und auch charmant war. Nach den gewaltsamen Erlebnissen aus der Notfallübung hätte sie niemals mit ihm zusammen sein können.
»Ich werde dich daran erinnern … Wir haben noch ein paar Jahre Zeit. Übrigens, schicke Frisur.« Rufus nahm es sportlich. Die Zusammenstellung der Crew spielte ihm in die Karten. Die Balance zwischen den Geschlechtern, den bereits liierten Paaren und den Singles mit ihren jeweiligen sexuellen Präferenzen wurde nicht dem Zufall überlassen. Zudem kannten sich alle, da sie vor dem Start ins All viele Jahre gemeinsam trainiert hatten. Dass der echte Rufus sich jemals so mies wie in der Simulation verhalten würde, war äußerst unwahrscheinlich.
Jazmin konnte bereits die anderen ausgelassen in der Kantine lachen hören. Sie blieb stehen. Rufus ging ihr nicht aus dem Sinn. Nicht weil sie mit ihm eine Romanze beginnen wollte, sondern weil er während der Notfallübung etwas getan hatte, das nicht zu seinem Charakter passte.
Sie kehrte um und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Das
ging schneller als Treppen laufen. Eine Kleinigkeit wollte sie noch überprüfen. Der Aufzug quietschte an einer Unwucht in der Führung. Na ja, von den Technikern hatte sich vermutlich auch niemand überarbeitet. Das Schiff war mit sieben Jahren eigentlich noch fast neu.
Auf dem Deck der Waffenkammer stieg sie aus. In dem Szenario hatte sie die Treppen genommen und verdammt wenig angehabt. Sie blieb stehen. Das war die Stelle, an der die Übung abgebrochen worden war. Warum genau hier? Einen Grund dafür konnte sie nicht erkennen. Ihr Magen knurrte. Nein, das Essen musste warten. Die paar Minuten würde sie noch schaffen.
»Mutter!«
»Colonel Harper.«
»Ich möchte die Waffenkammer inspizieren.«
»Zugang gewährt.«
Die automatische Tür öffnete sich. Die USS
London
war kein Kriegsschiff, trotzdem waren sämtliche Kommandooffiziere und Techniker an der Waffe ausgebildet. Das Arsenal bot leichte und schwere Handfeuerwaffen, Granaten, tragbare Raketen und mobile Hochenergie-Impulssysteme. Sie verfügten zudem über Gefechtsanzüge, die die Muskulatur bionisch unterstützten, und mobile Deflektorsysteme. Wenn Rufus in dem Notfallszenario mehr als ihre unspektakuläre Oberweite im Sinn gehabt hätte, wäre er mit dieser Ausrüstung nicht zu stoppen gewesen.
»Mutter, ich brauche einen Abgleich der Inventarliste.«
»Bitte setzen Sie den Projektor auf.«
Jazmin griff neben ihr Rangabzeichen und setzte eine kleine Klammer auf die Nasenwurzel. Der mobile Projektor strahlte die Informationen direkt auf ihre Netzhaut. »Erfolgt.«
»Starte unterstützende Informationsprojektion.«
»Danke.« Jazmin sah nun automatisch neben jeder Waffe
einen schwebenden Text im Raum, der ihr die gewünschten Informationen interaktiv zur Verfügung stellte. Sie brauchte nur mit der Hand über Symbole zu streichen, um weitere Details aufgelistet zu bekommen. »Wann ist die Waffenkammer das letzte Mal geöffnet worden? Und von wem? Mit welcher Begründung?«
»Vor sechs Monaten. Vom Kommandanten, um eine Inspektion vorzunehmen.«
»Gab es bereits einen Waffeneinsatz?«
»Nein.«
Jazmin überprüfte drei verschiedene Munitionsarten. Alles war vollständig, versiegelt und lag an der richtigen Stelle. Das Waffenlager befand sich im Bestzustand.
»Bitte meine Inspektion in das Tagesprotokoll des Generals aufnehmen. Meine Stichproben bieten keinen Grund zur Beanstandung.« Der Befund war positiv und dennoch unbefriedigend. Aber was hatte sie erwartet? Leere Waffenständer?
»Order bestätigt.«
Jazmin ging wieder zur Tür. Wenn sie nur wüsste, was sie suchte. Die besonders gesicherte Tür bestand aus Edelstahl, Kevlar, einer zusätzlichen Mehrkomponentenlegierung und nicht brennbaren Kunststoffen. Da ging so schnell nichts durch. Nur mit den Impulswaffen hätte man ein Loch in die Tür schießen können. Und gleichzeitig zwölf weitere Decks perforiert. Diese Waffen an Bord eines Raumschiffs einzusetzen war der schnellste Weg, seiner Existenz ein jähes Ende zu setzen. Auch mobile Deflektoren konnten reine Energie nicht aufhalten.
In der Tür gab es eine Delle. Nein, an der Stelle war die oberste Edelstahlschicht bearbeitet worden.
»Mutter, wie kam es zu dieser Delle?«
»Darüber liegen mir keine Informationen vor. Das könnte eine Fertigungstoleranz sein. Soll ich einen Techniker beauftragen, eine Reparatur vorzunehmen?«
»Könnte es …« Oder auch nicht. Die Tür war in Ordnung. »Nein, das ist nicht notwendig. Bitte linken Türflügel öffnen.«
»Öffne linken Türflügel.«
»Danke.« Jazmin sah sich die rechte Seite genauer an. Die Tür hatte eine Stärke von zwanzig Zentimetern. Die Delle, die ihr an der Innenseite aufgefallen war, hatte auch auf der Außenseite eine kaum sichtbare Spur hinterlassen. Nur wenn man den Kopf bewegte und auf die Lichtreflexionen achtete, war die winzige Erhebung zu erkennen. Hätte eine schwere Handfeuerwaffe eine solche Beule bewirken können? Beide Dellen wölbten sich mit etwas Phantasie in dieselbe Richtung. Gut zu erkennen war es nicht.
»Mutter, Waffenkammer versiegeln.« Jazmin stand wieder im Korridor.
»Waffenkammer versiegelt.«
»Danke.« Sie ging wieder an die Stelle, an der ihr Notfallszenario beendet worden war, schloss die Augen und ließ den Bildern in ihrem Kopf genug Freiheit, sich zu arrangieren. Da waren Kopfschmerzen, die sie in dem Moment verspürt hatte. Sie öffnete die Augen und konzentrierte sich darauf, ähnlich zu schielen wie in ihrer Erinnerung. Das war nicht so einfach, aber sie bekam es hin. Sie hörte den Knall und sah die Beule, die an der Tür entstand.
Stopp, rief sie sich in Gedanken zu und konzentrierte sich auf dieses Bild. Dann ging sie wieder auf die geschlossene Tür zu und konnte erkennen, dass die Beule in ihrer Erinnerung mit der aktuellen Unregelmäßigkeit übereinstimmte. War das ein Zufall? Wohl kaum. Aber die Konsequenz
daraus war unvorstellbar. Auf der USS
London
hatte es nie einen Kampf mit solchen Folgen gegeben. Das Szenario war schließlich nur eine Simulation gewesen.
Jazmin saß in der Kantine und aß Hühnchen mit Spinat. Bereits die zweite Portion. Egal, wie viel sie während der sieben Jahre Kälteschlaf abgenommen hatte, sie würde es schnell wieder draufhaben. Ihr gegenüber saß der Erste Offizier. Colonel Carl Moretti, er lachte und machte mit Denis Jagberg diverse Späße über den möglichen Umbau von Wartungsfahrzeugen. Sie verstanden sich prächtig. Die beiden planten, auf der über 35000
Meter langen, ringförmigen Haupttrasse für den Transport schwerer Container ein Rennen zu organisieren. Nur Jungs kamen auf solche Ideen. Sie wollten Elektrofahrzeuge tunen und fachsimpelten, wie viel Drehmoment sie aus den Systemen kitzeln konnten.
Die ganze Kantine nahm inzwischen an dem sich anbahnenden Wettkampf teil. Da General Mellenbeck ebenfalls am Tisch saß und sich bereits auf die Seite von Denis Jagberg geschlagen hatte, war zu befürchten, dass diese Kinderei durch keinen Erwachsenen gestoppt werden würde.
»Und was bekommt der Gewinner?«, fragte Carl Moretti. Verdammt, Jazmin hatte ihn sterben sehen. Er war vor ihren Augen zerfetzt, sein gefrorenes Blut war ins All geschleudert worden. Das war erst wenige Stunden her.
»Du wirst verlieren!« Denis wirkte selbstsicher. Der leitende Techniker hatte geschickte Finger. Während des Trainings für diese Mission hatte er auch unter den schwierigsten Bedingungen alles, was man ihm auf den Tisch legte, wieder zum Laufen gebracht. Carl hingegen war Physiker und kannte das All, mit allem, was es darüber zu wissen gab. Er war der leitende Navigator. Bei mathematischen Aufgaben hätte
Jazmin auf ihn gesetzt, aber beim Tunen von Elektrofahrzeugen würde er Denis niemals schlagen können.
»Wir brauchen trotzdem einen Preis!« Carl sah zu Jazmin. Was sollte das denn jetzt?
»Den brauchen wir!« Auch Denis sah jetzt zu ihr. Eine Geste, die ein Dutzend weiterer Leute in der Kantine dazu brachte, ihr beim Essen zuzusehen.
»Colonel Harper …« Das war der General. Nein, Mellenbeck würde sich doch nicht für diese Kinderei hergeben.
»Ja, Sir.« Sie legte das Besteck auf den Tisch.
»Nun, wie soll ich es sagen …«
»Sir, vergessen Sie es!« Jazmin winkte ab. Für so einen Blödsinn hatte sie keine Zeit.
»Ich möchte Ihnen keinen Befehl erteilen …«
»Aber?« Jazmin verdrehte die Augen.
»Wissen Sie, ich halte Colonel Moretti für einen Aufschneider, einen Zahlenfresser, der keinen Schrauberzieher halten kann. Aber er ist Pilot. Jagberg hingegen halte ich für einen begnadeten Techniker, bei dem ich allerdings nicht weiß, ob er irgendetwas, das sich signifikant über der Schrittgeschwindigkeit bewegt, unfallfrei geradeaus fahren kann. Sie verstehen das Dilemma?«
»Was habe ich damit zu tun?«
»Sie können der Motivation der beiden Kontrahenten einen gehörigen Schub verleihen, wenn Sie sich bereit erklären, mit dem Gewinner essen zu gehen.«
»Sir!«
»Nur ein Abendessen … Ich spiele den Kellner.«
»Ähm …« Jazmin wurde rot, was man zum Glück aufgrund ihrer Hautfarbe nur schwer erkennen konnte.
»Nun … Colonel, ich danke für Ihre Zustimmung. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich werde persönlich dafür sorgen,
dass sich der Gewinner wie ein Gentleman verhält.« Mit den Worten des Generals, der sie freundlich anlächelte, begann die ganze Kantine zu toben. Eines musste man ihm lassen, er verstand es, für Stimmung zu sorgen.
Sie nickte. Wie hätte sie auch in diesem Moment nein sagen können? Ihre Schicht würde vierzehn Monate andauern. Mellenbeck hatte seine Crew im Griff. Zwölf Kommandooffiziere und vierzehn Techniker. Diesem General würde jeder folgen. Insgesamt waren sie achtunddreißig. Die Übrigen waren Partner und Kinder. Eindeutig zu wenige, um sich die ganze Zeit aus dem Weg zu gehen.
»Carl, sieh sie ruhig noch einmal an. Hast du gesehen, wie sie die Gabel zum Mund führt? Näher wirst du ihr nicht mehr kommen!« Denis Jagberg feuerte den Wettbewerb weiter an.
»Das werden wir sehen, mein Freund!« Carl Moretti nahm die Herausforderung an.
»Colonel Harper, dürfte ich Sie gleich noch einmal sprechen?«, fragte der General.
»Natürlich, Sir.«
»Sir.« Jazmin meldete sich bei General Mellenbeck in seinem Büro neben der Brücke. Der Offizier war mit zweiundfünfzig der Älteste an Bord und blickte auf eine lange Karriere als Flieger, Offizier und Kommandant von Trägerschiffen zurück. Ihm gelang es zu führen, ohne seine Stimme zu erheben. Er verlangte nichts, was er nicht selbst zu geben bereit war. Er war der Letzte, der in London an Bord gegangen war, und würde an ihrem Ziel der Erste sein, der seinen Fuß auf eine neue Welt setzte.
»Colonel Harper, Jazmin, bitte setzen Sie sich.«
»General …«
»George.« Er lächelte.
»Sie wollten mich sprechen.«
»Ja … das haben wir schon eine Weile nicht mehr getan, oder?«
»Sieben Jahre, Sir.«
»Ich hoffe, der kleine Spaß in der Kantine geht in Ordnung für Sie. Ich tippe auf Jagberg. Moretti wird besser fahren, aber das langsamere Fahrzeug haben.«
»Kein Problem, Sir.«
»Wissen Sie … das Schiff fliegt von allein … Mutter braucht uns nicht. Trotzdem sind wir dabei. Es werden Menschen sein, die eine neue Welt betreten, nicht eine KI
.«
Sie nickte.
»Menschen funktionieren nicht allein. Keiner von uns. Wir schaffen das nur zusammen. Als Team, als eine verschworene Gemeinschaft, als Familie. Ich denke, bisher haben wir Glück gehabt. Sieben Jahre und keine Probleme … Das wird vermutlich nicht so bleiben. Es gibt auch schlechte Zeiten.«
»Damit ist leider zu rechnen.«
»Es könnte Tote geben … Es gibt immer Tote. Oft trifft es die Besten zuerst, deswegen muss sich jeder von uns bereithalten, für den anderen in die Bresche zu springen.«
»Ja, Sir.«
»Jazmin, ich möchte Ihnen keine Predigt halten. Ich halte Sie für eine begnadete Offizierin. Verdammt, Sie haben 98
,4
Prozent erreicht. Das ist ein Fabelwert.«
»Danke.« Jazmin verkniff sich, das Sir zu wiederholen.
»Ich möchte nicht wissen, wie Sie das angestellt haben … Keiner von uns hat so einen Wert geschafft. Der Zweite kommt auf 64
Prozent. Sie müssen Nerven wie Drahtseile haben.«
»Es war schwierig …«
»Das ist es immer. Wissen Sie, wieso ich Moretti und Jagberg diesen Blödsinn veranstalten lasse?«
»Um sie zu motivieren?«
»Nein … das ist bei den beiden nicht notwendig. Genauso wenig wie bei Ihnen. Moretti, Jagberg, Sie … Ich würde nicht zögern, jedem von Ihnen mein Leben anzuvertrauen. Sie wissen genau, was während einer Krise zu tun ist.«
»Aber?«
»Es geht auch darum, gemeinsam zu leben, zu lachen und unsere Zeit zu nutzen … Es kann auch sehr schnell vorbei sein. Ich muss Ihnen nicht erklären, welche Gefahren auf uns lauern. Unser Planet im Alderamin-System könnte ein Reinfall sein. Egal, wie gut die Messungen aussehen, sie könnten fehlerhaft sein. Und dann? Zurückfliegen? Klar, wenn wir dann dazu noch in der Lage sind. Wir wären dann 218
Jahre unterwegs gewesen. Also nur die Zeit, die wir erlebt haben. Bei 44
Prozent der Lichtgeschwindigkeit beträgt die Zeitdilatation bereits 60
Prozent. Auf der Erde werden dann fast 350
Jahre vergangen sein … Ich kann mir das kaum vorstellen.«
»George, ich kann Ihnen nicht folgen.« Und damit meinte sie nicht das Zahlenspiel.
»Sie haben vorhin die Waffenkammer inspiziert, oder?«
»Eine Vorsichtsmaßnahme.«
»Wegen des Notfallszenarios, das Sie virtuell erlebt haben?«
»Es war eine Meuterei.«
»Sie sind Ärztin und wären vermutlich ein besserer Kommandant als ich.«
»Das glaube ich nicht.«
»Egal … es spielt eigentlich auch keine Rolle, was uns morgen alles passieren könnte. Vieles können wir nicht verhindern, wir können nur reagieren. Das tun wir so gut, wie wir es vermögen.« Er beugte sich nach vorne. »Wir sind aber
in der Lage zu entscheiden, was wir heute tun. Mit wem wir Zeit verbringen. Wem wir die Hand reichen und mit wem wir gemeinsam lachen.«
»Sir?« Das Sir kam ihr schneller über die Lippen, als sie es einfangen konnte.
»Der Weg ist das Ziel … Jazmin, vergessen Sie nicht zu leben. Entspannen Sie sich. Es könnte Ihnen gefallen. Geben Sie einem der Jungs eine Chance. He … Sie würden uns auch mit 80
Prozent alle wie Anfänger aussehen lassen.«
Sie nickte.
»Übrigens, die neue Haarfarbe steht Ihnen … Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde ich bei dem Rennen mit einsteigen.«